BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Feuerbach

1804 -1872

 

Das Wesen des Christentums

 

Erster Theil

Die Religion in ihrer Uebereinstimmung

mit dem Wesen des Menschen.

 

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Der Unterschied des Christenthums vom Heidenthum.

 

Christus ist die Allmacht der Subjectivität, das von allen Banden und Gesetzen der Natur erlöste Herz, das mit Ausschluß der Welt nur auf sich allein concentrirte Gemüth, die Realität aller Herzenswünsche, die Himmelfahrt der Phantasie, das Auferstehungsfest des Herzens – Christus daher der Unterschied des Christenthums vom Heidenthum.

Im Christenthum concentrirte sich der Mensch nur auf sich selbst; erfaßte er sich als das allein berechtigte, allein wesenhafte Wesen; löste er sich vom Zusammenhang des Weltganzen los; machte er sich zu einem selbstgenügsamen Ganzen, zu einem absoluten, außer- und überweltlichen Wesen. Eben dadurch, daß er sich nicht mehr als einen Theil der Welt ansah, den Zusammenhang mit ihr unterbrach, fühlte er sich als unbeschränktes Wesen – denn die Schranke der Subjectivität ist eben die Welt, die Objectivität – hatte er keinen Grund mehr, die Wahrheit und Gültigkeit seiner [198] subjectiven Wünsche und Gefühle zu bezweifeln. Die Heiden dagegen, nicht auf sich zurückgezogen, nicht in sich selbst vor der Natur sich verbergend, beschränkten ihre Subjectivität durch die Anschauung der Welt. So sehr die Alten die Herrlichkeit der Intelligenz, der Vernunft feierten, so waren sie doch so liberal, so objectiv, auch das Andere des Geistes, die Materie leben und zwar ewig leben zu lassen, im Theoretischen, wie im Praktischen; die Christen bewährten ihre, wie praktische, so theoretische Intoleranz auch darin, daß sie ihr ewiges subjectives Leben nur dadurch zu sichern glaubten, daß sie, wie z. B. in dem Glauben an den Untergang der Welt, den Gegensatz der Subjectivität, die Natur vernichteten. Die Alten waren frei von sich, aber ihre Freiheit war die Freiheit der Gleichgültigkeit gegen sich; die Christen frei von der Natur, aber ihre Freiheit war nicht die Freiheit der Vernunft, die wahre Freiheit – die wahre Freiheit ist nur die durch die Weltanschauung sich beschränkende – sondern die Freiheit des Gemüths und der Phantasie, die Freiheit des Wunders. Die Alten entzückte der Kosmos so sehr, daß sie selbst sich darüber aus dem Auge verloren, sich im Ganzen verschwinden sahen; die Christen verachteten die Welt; was ist die Creatur gegen den Creator? was Sonne, Mond und Erde gegen die menschliche Seele? Die Welt vergeht, aber der Mensch und zwar der individuelle, persönliche Mensch ist ewig. Wenn die Christen den Menschen aus aller Gemeinschaft mit der Natur losrissen und dadurch in das Extrem einer vornehmen Delicatesse verfielen, die schon die entfernte Vergleichung des Menschen mit dem Thiere als gottlose Verletzung der Menschenwürde bezeichnete; so verfielen dagegen die Heiden in das andere Extrem, in die Gemeinheit, welche den Unterschied zwischen [199] Thier und Mensch aufhebt, oder gar, wie z. B. Celsus, der Gegner des Christenthums, den Menschen unter die Thiere degradirt.

Die Heiden betrachteten aber den Menschen nicht nur im Zusammenhang mit dem Universum; sie betrachteten den Menschen, d. h. das Individunm nur im Zusammenhang mit andern Menschen, in Verbindung mit einem Gemeinwesen. Sie unterschieden strenge das Individuum von der Gattung, das Individuum als Theil vom Ganzen des Menschengeschlechts und subordinirten dem Ganzen das einzelne Wesen. Wie willst Du klagen über den Verlust Deiner Tochter? schreibt Sulpicius an Cicero. Große, weltberühmte Städte und Reiche sind untergegangen und Du geberdest Dich so über den Tod eines homunculi, eines Menschleins. Wo ist Deine Philosophie? Der Begriff des Menschen als Individuum war den Alten ein durch den Begriff der Gattung vermittelter, secundärer Begriff. Dachten sie auch hoch von der Gattung, hoch von den Vorzügen der Menschheit, hoch und erhaben von der Intelligenz, so dachten sie doch gering vom Individuum. Das Christenthum dagegen ließ die Gattung fahren, hatte nur das Individuum im Auge und Sinne. Das Christenthum, freilich nicht das heutige Christenthum, welches nur noch den Namen und einige allgemeine Sätze vom Christenthum behalten hat, ist der directe Gegensatz des Heidenthums – es wird nur wahrhaft erfaßt, nicht verunstaltet durch willkührliche, speculative Deutelei, wenn es als Gegensatz erfaßt wird; es ist wahr, so weit als sein Gegensatz falsch ist, aber falsch, so weit sein Gegensatz wahr ist. Die Alten opferten das Individuum der Gattung auf; die Christen die Gattung dem Individuum. Oder: das Heidenthum [200] dachte und erfaßte das Individuum nur als Theil im Unterschiede von dem Ganzen der Gattung, das Christenthum dagegen nur in seiner unmittelbaren, unterschiedlosen Einheit mit der Gattung.

Dem Christenthum war das Individuum Gegenstand einer unmittelbaren Vorsehung, d. h. ein unmittelbarer Gegen­stand des göttlichen Wesens. Die Heiden glaubten eine Vorsehung des Einzelnen nur vermittelst der Gattung, des Gesetzes, der Weltordnung, also nur eine mittelbare, natürliche, nicht wunderbare Vorsehung  1); die Christen aber ließen die Vermittlung fallen, setzten sich in unmittelbaren Connex mit dem vorsehenden, allumfassenden, allgemeinen Wesen; [201]d. h. sie identificirten unmittelbar mit dem allgemeinen Wesen das einzelne Wesen.

Aber der Begriff der Gottheit fällt mit dem Begriff der Menschheit in Eins zusammen. Alle göttlichen Bestimmungen, alle Bestimmungen, die Gott zu Gott machen, sind Gattungsbestimmungen – Be­stimmungen, die in dem Einzelnen, dem Individuum beschränkt sind, aber deren Schranken in dem Wesen der Gattung und selbst in ihrer Existenz – inwiefern sie nur in allen Menschen zusammengenommen ihre entsprechende Existenz hat – aufgehoben sind. Mein Wissen, mein Wille ist beschränkt; aber meine Schranke ist nicht die Schranke des Andern, geschweige der Menschheit; was mir schwer, ist dem Andern leicht; was einer Zeit unmöglich, unbegreiflich, ist der kommenden begreiflich und möglich. Mein Leben ist an eine beschränkte Zeit gebunden, das Leben der Menschheit nicht. Die Geschichte der Menschheit besteht in nichts anderm als einer fortgehenden Ueberwindung von Schranken, – Schranken, die immer der vorangegangnen Zeit für Schranken der Menschheit, und darum für absolute, unübersteigliche Schranken galten. Die Zukunft enthüllt aber immer, daß die angeblichen Schranken der Gattung nur Schranken der Individuen waren. Die Geschichte der Wissenschaften, namentlich der Philosophie und Naturwissenschaft liefern hiefür die interessantesten Belege. Es wäre höchst interessant und lehrreich, eine Geschichte der Wissenschaften lediglich aus diesem Gesichtspunkt zu schreiben, um den Wahn des Menschen, als könnte er etwas Höheres als seine Gattung denken, seine Substanz beschränkt denken und fühlen, in seiner ganzen Nichtigkeit zu zeigen. Unbeschränkt ist also die Gattung, beschränkt nur das Individuum. [202]

Aber das Gefühl der Schranke ist ein peinliches; von dieser Pein befreit sich das Individuum in der Anschauung des vollkommnen Wesens; in dieser Anschauung besitzt es, was ihm außerdem fehlt. Gott ist nichts andres bei den Christen als die Anschauung von der unmittelbaren Einheit der Gattung und Individualität, des allgemeinen und individuellen Wesens. Gott ist der Begriff der Gattung als eines Individuums, der Begriff oder das Wesen der Gattung, welche als Gattung, als allgemeines Wesen, als der Inbegriff aller Vollkommenheiten, aller von den Schranken, die in das Bewußtsein und Gefühl des Individuums fallen, gereinigten Eigenschaften oder Realitäten, zugleich wieder ein individuelles, persönliches Wesen ist. Ipse suum Esse est. Wesen und Existenz ist bei Gott identisch, d. h. eben nichts andres, als er ist der Gattungsbegriff, das Gattungswesen unmittelbar zugleich als Existenz, als Individuum. Der höchste Gedanke von dem Standpunkt der Religion aus ist: Gott liebt nicht, er ist selbst die Liebe; er lebt nicht, er ist das Leben; er ist nicht gerecht, sondern die Gerechtigkeit selbst, nicht eine Person, sondern die Persönlichkeit selbst – das Abstractum, die Idee unmittelbar als Concretum  2). Eben wegen dieser unmittelbaren Einheit der Gattung und Individualität, dieser Concentration aller Allgemeinheiten und Realitäten in ein persönliches Wesen ist Gott ein tief gemüthliches, die Phantasie entzückendes Object, während die Idee der Menschheit eine gemüthlose ist, weil die Menschheit [203] nur als ein Abstractum, als das Wirkliche aber, im Unterschied von diesem Abstractum, die unzählig vielen einzelnen beschränkten Individuen uns in unserer Vorstellung erscheinen  3). In Gott dagegen befriedigt sich unmittelbar das Gemüth, weil hier Alles in Eins zusammengefaßt, Alles mit einem Mal, d. h. weil hier die Gattung unmittelbar Existenz, d. i. Individualität ist. Gott ist die Liebe, die Gerechrigkeit als selbst Subject, das vollkommne, allgemeine Wesen als ein Wesen, die unendliche Extension der Gattung als ein compendiarischer Inbegriff. Aber Gott ist nur die Anschauung des Menschen von seinem eignen Wesen, Gott sein wahres Wesen – die Christen unterscheiden sich also dadurch von den Heiden, daß sie das Individuum unmittelbar mit der Gattung identificirten, daß bei ihnen das Individuum die Bedeutung der Gattung hat, das Individuum für sich selbst für das vollkommne Dasein der Gattung gilt – dadurch, daß sie das menschliche Individuum vergötterten, zum absoluten Wesen machten.

 

Charakteristisch besonders ist die Differenz des Christenthums und Heidenthums in Betreff des Verhältnisses des Individuums zur Intelligenz, zum Verstande, zum Νοῦς. Die Christen individualisirten den Verstand, die Heiden machten ihn zu einem universalen Wesen. Den Heiden war der Verstand, die Intelligenz das Wesen des Menschen, den Christen nur ein Theil ihrer selbst, den Heiden war darum [204] nur die Intelligenz, die Gattung, den Christen das Individuum unsterblich, d. i. göttlich. Hieraus ergibt sich von selbst die weitere Differenz zwischen heidnischer und christlicher Philosophie.

Der unzweideutigste Ausdruck, das charakteristische Symbolum dieser unmittelbaren Identität der Gattung und Individualität im Christenthum ist Christus, der reale Gott der Christen. Christus ist das Urbild, der existirende Begriff der Menschheit, der Inbegriff aller moralischen und göttlichen Vollkommenheiten, mit Ausschluß alles Negativen, reiner, himmlischer, sündloser Mensch, Gattungsmensch, der Adam Kadmon, aber nicht angeschaut als die Totalität der Gattung, der Menschheit, sondern unmittelbar als Individuum, als eine Person. Christus, d. h. der christliche, religiöse Christus ist daher nicht der Mittelpunkt, sondern das Ende der Geschichte. Dieß geht eben so aus dem Begriffe, als der Historie hervor. Die Christen erwarteten das Ende der Welt, der Geschichte. Christus selbst prophezeit in der Bibel, allen Lügen und Sophismen unserer Exegeten zum Trotz, klar und deutlich das nahe Weltende. Die Geschichte beruht nur auf dem Unterschiede des Individuums von der Gattung. Wo dieser Unterschied aufhört, hört die Geschichte auf, geht der Verstand, der Sinn der Geschichte aus. Es bleibt dem Menschen nichts weiter übrig, als die Anschauung und Aneignung dieses realisirten Ideals und der formelle, quantitative Ausbreitungstrieb – die Predigt, daß Gott erschienen und das Ende der Welt gekommen ist.

Deßwegen, weil die unmittelbare Identität der Gattung und des Individuums über die Gränzen der Vernunft und Natur hinausgeht, war es auch ganz natürlich und nothwendig, [205] dieses universale, ideale Individuum für ein überschwängliches, übernatürliches, himmlisches Wesen zu erklären. Verkehrt ist es daher, aus der Vernunft die unmittelbare Identität der Gattung und des Inviduums deduciren zu wollen; denn es ist nur die Phantasie, die diese Identität bewerkstelligt, die Phantasie, der nichts unmöglich – dieselbe Phantasie, die auch die Schöpferin der Wunder ist; denn das größte Wunder ist das Individuum, welches zugleich die Idee, die Gattung, die Menschheit in der Fülle ihrer Vollkommenheit und Unendlichkeit, d. h. der Gottheit ist. Verkehrt ist es daher auch, den historisch dogmatischen Christus beizubehalten, aber die Wunder auf die Seite zu schieben. Wenn Du das Princip festhältst, wie willst Du seine nothwendigen Consequenzen verläugnen?

Die gänzliche Abwesenheit des Begriffes der Gattung im Christenthum bekundet besonders die charakteristische Lehre desselben von der allgemeinen Sündhaftigkeit der Menschen. Es liegt nämlich dieser Lehre die Forderung zu Grunde, daß das Individuum nicht ein Individuum sein soll, eine Forderung, die aber selbst wieder zu ihrem Fundament die Voraussetzung hat, daß das Individuum für sich selbst ein vollkommnes Wesen, für sich selbst die adäquate Darstellung oder Existenz der Gattung ist  4). Es fehlt hier gänzlich die objective Anschauung, das Bewußtsein, daß das Du zur Vollkommenheit des Ich gehört, daß die Menschen erst zusammen den Menschen [206] ausmachen, die Menschen nur zusammen das sind und so sind, was und wie der Mensch sein soll und sein kann. Alle Menschen sind Sünder. Ich gebe es zu; aber sie sind nicht Sünder alle auf gleiche Weise; es findet vielmehr ein sehr großer, ja wesentlicher Unterschied statt. Der eine Mensch hat Neigung zur Lüge, der Andere aber nicht: er würde eher sein Leben lassen, als sein Wort brechen oder lügen; der Dritte hat Neigung zur Trinklust, der Vierte zur Geschlechtslust, der Fünfte aber hat alle diese Neigungen nicht – sei es nun durch die Gnade der Natur oder die Energie seines Charakters. Es compensiren sich also auch im Moralischen, wie im Physischen und Intellectuellen, gegenseitig die Menschen, so daß sie im Ganzen zusammengenommen so sind, wie sie sein sollen, den vollkommnen Menschen darstellen.

Darum bessert und hebt der Umgang unwillkührlich, ohne Verstellung ist der Mensch ein anderer im Umgang, als allein für sich. Wunder wirkt namentlich die Liebe und zwar die Geschlechterliebe. Mann und Weib berichten und ergänzen sich gegenseitig, um so vereint erst die Gattung, den vollkommnen Menschen darzustellen  5). Ohne Gattung ist die Liebe undenkbar. Die Liebe ist nichts andres als das Selbstgefühl der Gattung innerhalb der Geschlechtsdifferenz. In [207] der Liebe ist die Realität der Gattung, die sonst nur eine Vernunftsache, ein Gegenstand des Denkens ist, eine Gefühlssache, eine Gefühlswahrheit, denn in der Liebe spricht der Mensch seine Ungenügsamkeit an seiner Individualität für sich aus, postulirt er das Dasein des Andern als ein Herzensbedürfniß, rechnet er den Andern zu seinem eignen Wesen, erklärt er nur sein durch die Liebe mit ihm verbundnes Leben für wahres menschliches, dem Begriffe des Menschen, d. i. der Gattung entsprechendes Leben. Mangelhaft, unvollkommen, schwach, bedürftig ist das Individuum; aber stark, vollkommen, befriedigt, bedürfnißlos, selbstgenugsam, unendlich die Liebe, weil in ihr das Selbstgefühl der Individualität das geheimnißvolle Selbstgefühl der Vollkommenheit der Gattung ist. Aber wie die Liebe, wirkt auch die Freundschaft, wo sie wenigstens intensiv ist, wie sie es bei den Alten war – daher wir auch nicht den Christen, sondern den Heiden den tiefen Ausspruch verdanken, daß der Freund der Alter Ego sei. Freunde compensiren sich; Freundschaft ist ein Tugendmittel und mehr: sie ist selbst Tugend, aber eine gemeinschaftliche Tugend. Nur zwischen Tugendhaften kann Freundschaft statt finden, wie die Alten sagten. Aber doch kann nicht vollkommne Gleichheit, es muß vielmehr Unterschied statt finden, denn die Freundschaft beruht auf einem Ergänzungstriebe. Der Freund gibt sich durch den Andern, was er selbst nicht besitzt. Die Freundschaft sühnt durch die Tugenden des Einen die Fehler des Andern. Der Freund rechtfertigt den Freund vor Gott. Er liebt in dem Freunde die seinen Fehlern entgegengesetzten Tugenden. So fehlerhaft auch ein Mensch für sich selbst sein mag: er beweist doch darin schon einen guten Kern, wenn er tüchtige Menschen zu Freunden [208] hat. Wenn ich auch selbst nicht vollkommen sein kann, so liebe ich doch wenigstens an Andern die Tugend, die Vollkommenheit. Wenn daher einst der liebe Gott wegen meiner Sünden, Schwächen und Fehler mit mir rechten will, so schiebe ich als Fürsprecher, als Mittelspersonen die Tugenden meiner Freunde ein. Wie barbarisch, wie unvernünftig wäre der Gott, der mich verdammte wegen Sünden, welche ich wohl begangen, aber selbst in der Liebe zu meinen Freunden, die frei von diesen Sünden waren, verdammte.

Wenn nun aber schon die Freundschaft, die Liebe, die selbst nur subjective Realisationen der Gattung sind, aus für sich unvollkommnen Wesen ein, wenigstens relativ, vollkommnes Ganzes machen, wie viel mehr verschwinden in der Gattung selbst, welche nur in der Gesammtheit der Menschheit ihr adäquates Dasein hat und eben darum nur ein Gegenstand der Vernunft ist, die Sünden und Fehler der einzelnen Menschen! Das Lamento über die Sünde kommt daher nur da an die Tagesordnung, wo das menschliche Individuum in seiner Individualität sich als ein für sich selbst vollkommnes, completes, des Andern nicht zur Realisirung der Gattung, des vollkommenen Menschen, bedürftiges Wesen Gegenstand, wo an die Stelle des Bewußtseins der Gattung das ausschließliche Selbstbewußtseins des Individuums getreten ist, wo das Individuum sich nicht als einen Theil der Menschheit weiß, sondern sich mit der Gattung identificirt, und deßwegen seine Sünden, seine Schranken, seine Schwächen zu allgemeinen Sünden, zu Sünden, Schranken und Schwächen der Menschheit selbst macht. Aber gleichwohl kann der Mensch das Bewußtsein der Gattung nicht verlieren, denn sein Selbstbewußtsein ist wesentlich an das [209] Bewußtsein des Andern gebunden. Wo darum dem Menschen nicht die Gattung als Gattung Gegenstand ist, da wird ihm die Gattung als Gott Gegenstand. Den Mangel des Begriffs der Gattung ergänzt er durch den Begriff Gottes, als des Wesens, welches frei ist von den Schranken und Mängeln, die das Individuum, und, nach seiner Meinung, die das Individuum mit der Gattung identificirt, die Gattung selbst drücken. Aber dieses von den Schranken der Individuen freie, unbeschränkte Wesen ist eben nichts andres als die Gattung, welche die Unendlichkeit ihres Wesens darin offenbart, daß sie sich in unbeschränkt vielen und verschiedenartigen Individuen verwirklicht. Wären alle Menschen absolut gleich, so wäre allerdings kein Unterschied zwischen der Gattung und dem Individuum. Aber dann wäre auch das Dasein vieler Menschen ein reiner Luxus. Ein Einziger genügte hinlänglich dem Zweck der Gattung. Alle miteinander hätten an dem Einen, der das Glück der Existenz genösse, ihren hinreichenden Ersatzmann.

Allerdings ist das Wesen der Menschen Eines, aber dieses Wesen ist unendlich; sein wirkliches Dasein daher unendliche, sich gegenseitig ergänzende Verschiedenartigkeit, um den Reichthum des Wesens zu offenbaren. Die Einheit im Wesen ist Mannigfaltigkeit im Dasein. Zwischen Mir und dem Andern – aber der Andere ist der Repräsentant der Gattung, auch wenn er nur Einer ist, er ersetzt mir das Bedürfniß nach vielen Andern, hat für mich universelle Bedeutung, ist der Deputirte der Menschheit, der in ihrem Namen zu mir Einsamen spricht, ich habe daher, auch nur mit Einem verbunden, ein gemeinsames, menschliches Leben – zwischen Mir und dem Andern findet daher ein wesentlicher, [210] qualitativer Unterschied statt. Der Andere ist mein Du – ob dieß gleich wechselseitig ist – mein Alter Ego, der mir gegenständliche Mensch, mein aufgeschlossenes Innere – das sich selbst sehende Auge. An dem Andern habe ich erst das Bewußtsein der Menschheit. Durch ihn erst erfahre, fühle ich, daß ich Mensch bin; in der Liebe zu ihm wird mir erst klar, daß er zu mir und ich zu ihm gehöre, daß wir beide nicht ohne einander sein können, daß nur die Gemeinsamkeit die Menschheit constituirt. Aber eben so findet auch moralisch ein qualitativer, ein kritischer Unterschied zwischen dem Ich und Du statt. Der Andere ist mein gegenständliches Gewissen: er macht mir meine Fehler zum Vorwurf, auch wenn er sie mir nicht ausdrücklich sagt: er ist mein personificirtes Schaamgefühl. Das Bewußtsein des Moralgesetzes, des Rechtes, der Schicklichkeit, der Wahrheit selbst ist nur an das Bewußtsein des Andern gebunden. Wahr ist, worin der Andere mit mir übereinstimmt – Uebereinstimmung ist das erste Kriterium der Wahrheit, aber nur deßwegen, weil die Gattung das letzte Maaß der Wahrheit ist. Was ich nur denke nach dem Maaße meiner Individualität, daran ist der Andere nicht gebunden, das kann anders gedacht werden, das ist eine zufällige, nur subjective Ansicht. Was ich aber denke im Maaße der Gattung, das denke ich, wie es der Mensch überhaupt nur immer denken kann und folglich der Einzelne denken muß, wenn er normal, gesetzmäßig und folglich wahr denken will. Wahr ist, was mit dem Wesen der Gattung übereinstimmt, falsch, was ihr widerspricht. Ein anderes Gesetz der Wahrheit gibt es nicht. Aber der Andere ist mir gegenüber der Repräsentant der Gattung, der Stellvertreter der Andern im Plural, ja sein Urtheil kann [211]mir mehr gelten, als das Urtheil der zahllosen Menge. „Mache der Schwärmer sich Schüler, wie Sand am Meere; der Sand ist Sand; die Perle sei mein, Du o vernünftiger Freund!“ Die Beistimmung des Andern gilt mir daher für das Kriterium der Normalität, der Allgemeinheit, der Wahrheit meiner Gedanken. Ich kann mich nicht so von mir absondern, um vollkommen frei und interesselos mich beurtheilen zu können; aber der Andere hat ein unpartheiisches Urtheil; durch ihn berichtige, ergänze, erweitre ich mein eignes Urtheil, meinen eignen Geschmack, meine eigne Erkenntniß. Kurz, es findet eine qualitative, kritische Differenz zwischen den Menschen statt. Aber das Christenthum löscht diese qualitativen Unterschiede aus, es schlägt alle Menschen über einen Leisten, betrachtet sie wie ein und dasselbe Individuum, weil es keinen Unterschied zwischen der Gattung und dem Individuum kennt: ein und dasselbe Heilmittel für alle Menschen ohne Unterschied, ein und dasselbe Grund- und Erbübel in allen.

Eben deßwegen, weil das Christenthum aus überschwänglicher Subjectivität nichts weiß von der Gattung, in welcher allein die Lösung, die Rechtfertigung, die Versöhnung und Heilung der Sünden und Mängel der Individuen liegt, bedurfte es auch einer übernatürlichen, besondern, selbst wieder nur persönlichen subjectiven Hülfe, um die Sünde zu überwinden. Wenn ich allein die Gattung bin, wenn außer mir keine anderen, qualitativ anderen Menschen existiren oder, was völlig eins ist, wenn kein Unterschied zwischen mir und den Andern ist, wenn wir Alle vollkommen gleich sind, wenn meine Sünden nicht neutralisirt und paralysirt werden durch die entgegengesetzten Eigenschaften anderer Menschen; so ist freilich [212] meine Sünde ein himmelschreiender Schandfleck, ein empörender Greuel, der nur durch außerordentliche, außermenschliche, wunderbare Mittel getilgt werden kann. Glücklicher Weise gibt es aber eine natürliche Versöhnung. Der Andere ist per se der Mittler zwischen mir und der heiligen Idee der Gattung. Homo homini Deus est. Meine Sünde ist dadurch schon in ihre Schranke zurückgewiesen, in ihr Nichts verstoßen, daß sie eben nur meine, aber deßwegen noch nicht auch die Sünde des Andern ist.

 

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1) Allerdings glaubten auch die heidnischen Philosophen, wie Plato, Sokrates, die Stoiker (s. z. B. J. Lipsius Physiol. Stoic. l. I. diss. XI.), daß die göttliche Vorsehung sich nicht nur auf das Allgemeine, sondern auch das Einzelne, Individuelle erstrecke; aber sie identificirten die Vorsehung mit der Natur, dem Gesetz, der Nothwendigkeit. Allerdings glaubten auch die Stoiker, die speculativen Orthodoxen des Heidenthums, Wunder der Vorsehung (s. Cic. de nat. Deor. I. II. u. de Divinat. l. I.); aber ihre Wunder hatten doch keine solche supranaturalistische Bedeutung, wie bei den Christen, obwohl auch sie schon an die supranaturalistische Vorstellung: Nihil est quod Deus efficere non possit appellirten. Was überhaupt die übereinstimmenden Gedanken der Heiden und Christen betrifft, so verweise ich auf die (freilich meist sehr kritiklosen) Zusammenstellungen derselben in den Schriften älterer Theologen und Philosophen, z. B. Aug. Steuchi Eugub. etc. de perenni philosophia I. X. Basil. 1542 (interessant besonders wegen des für jene Zeit so merkwürdigen Gedankens: Hi (die heidnischen Philosophen) loquuntur natura rationeque magistra, quod litterae sacrae oraculo .... pene miraculum (sit) eos ratione vidisse, quod post nuntius coelestis revelavit.) Theoph. Galeus Philos. gener. Londini 1676, der mit orthodoxer Bornirtheit und Mißgunst Alles aus der Bibel ableitet, Hugo Grotius Annotationes in N. T., der stets zu den Aussprüchen der Bibel die verwandten Aussprüche der Heiden gesellt. 

2) Dicimur amare et Deus; dicimus nosse et Deus. Et multa in hunc modum. Sed Deus amat ut charitas, novit ut veritas etc. Bernhard (de consider. l. V.). 

3) Der Ausdruck: Menschheit, Gattung führt allerdings manche unangemessene Vorstellungen mit sich, aber sie verdienen keine Berücksichtigung, da sie nur auf einer oberflächlichen Ansicht von dem so geheimnißvollen, unbegriffnen Wesen der Gattung beruhen. 

4) Allerdings ist das Individuum etwas Absolutes, in der Sprache Leibnitz's, der Spiegel des Universums, des Unendlichen. Aber als existirendes ist das Individuum selbst wieder nur ein bestimmter, individueller, darum endlicher Spiegel des Unendlichen. Darum gibt es viele Individuen. 

5) Bei den Indern (Menu Ges.) ist erst derjenige „ein vollständiger Mann, der aus drei vereinigten Personen, seinem Weibe, sich selbst und seinem Sohne besteht. Denn Mann und Weib und Vater und Sohn sind Eins.“ Auch der alttestamentliche, irdische Adam ist unvollständig ohne das Weib, sehnt sich nach ihm. Aber der neutestamentliche, der christliche, der himmlische, der auf den Untergang dieser Welt berechnete Adam hat keine geschlechtlichen Triebe und Functionen mehr.