BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Gottlieb Fichte

1762 - 1814

 

Versuch einer Critik aller Offenbarung

 

1792

 

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§ 1.

Einleitung.

 

Es ist ein wenigstens merkwürdiges Phänomen für den Beobachter, bei allen Nationen, sowie sie sich aus dem Zustande der gänzlichen Rohheit bis zur Gesellschaftlichkeit emporgehoben haben, Meinungen von einer Gegenmittheilung zwischen höheren Wesen und Menschen, – Traditionen von übernatürlichen Eingebungen und Einwirkungen der Gottheit auf Sterbliche, – hier roher, da verfeinerter, aber dennoch allgemein, den Begriff der Offenbarung vorzufinden. Dieser Begriff scheint also schon an sich, wäre es auch nur um seiner Allgemeinheit willen, einige Achtung zu verdienen; und es scheint einer gründlichen Philosophie anständiger, seinem Ursprunge nachzuspüren, seine Anmaassungen und Befugnisse zu untersuchen, und nach Maassgabe dieser Entdeckungen ihm sein Urtheil zu sprechen, als ihn geradezu, und unverhört, entweder unter die Erfindungen der Betrüger, oder in das Land der Träume zu verweisen. Wenn diese Untersuchung philosophisch seyn soll, so muss sie aus Principien a priori, und zwar, wenn dieser Begriff, wie vorläufig wenigstens zu vermuthen ist, sich bloss auf Religion beziehen sollte, aus denen der praktischen Vernunft angestellt werden; und wird von dem besonderen, das in einer gegebenen Offenbarung möglich wäre, gänzlich abstrahiren, ja sogar ignoriren, ob irgend eine gegeben sey, um allgemein für jede Offenbarung gültige Principien aufzustellen.

Da man bei Prüfung eines Gegenstandes, der so wichtige Folgen für die Menschheit zu haben scheint, über den jedes Mitglied derselben sein Stimmrecht hat, und bei weitem die meisten es in Ausübung bringen, und der daher entweder unbegrenzt verehrt, oder unmässig verachtet, und gehasst ist, nur zu leicht von einer vorgefassten Meinung fortgerissen wird; so ist es hier doppelt nöthig, bloss auf den Weg zu sehen, den die Kritik vorzeichnet; ihn geradefort, ohne ein mögliches Ziel in den Augen zu haben, zu gehen, und ihren Ausspruch zu erwarten, ohne ihn ihr in den Mund zu legen.