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B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A

 

 

 

 
Theodor Fontane
Mathilde Möhring
 


 






 




V i e r z e h n t e s  K a p i t e l

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     Seit dem Artikel in der Hartungschen hatte sich Hugos Stellung in Woldenstein und Umgegend noch erheblich verbessert. Auch der katholische Lehrer war gewonnen, nachdem auf Thildens Anregung eine Gehaltszulage beantragt und bewilligt war. Thilde freute sich ihrer Errungenschaften und gab ihrer Freude auch dadurch Ausdruck, daß sie sich modisch kleidete, wobei Silberstein, der oft nach Posen und Breslau fuhr mit Rat und Tat helfen mußte. Die Ressource leitete Beziehungen ein, und ein Erscheinen im landrätlichen Hause war in hohem Maße wahrscheinlich. Es setzte sich mehr und mehr die Meinung fest, daß sie sehr klug sei und immer wisse, was in der Welt los sei. Selbst Isenthal gab zu, «sie höre das Gras wachsen», und sagte huldigend: «Sie hat was von unsre Leut.»

     Im ganzen ließ sie sich all das aber nicht anfechten und blieb nüchtern und überlegend, und nur darin zeigte sich ein kleiner Unterschied, daß sie sich zu einer gewissen Koketterie bequemte und auf Hugo einen gewissen Frauenreiz ausüben wollte. Sie ging darin so weit, daß sie die Ampel vom Flur her in das Schlafzimmer nahm und zu Hugo bemerkte: «Draußen im Flur hat sie nun ihre Schuldigkeit getan. Schade, daß das Rosa wie gar nichts aussieht; es müßte Rubinglas sein. Man kriegt dann so rote Backen. Die gute Schmädicke! Was wohl Mutter sagen würde . . .»

     «Ja», sagte Hugo, «die würde sich freun über dich. Und ich habe mir's auch überlegt, ob wir sie nicht zum Fest einladen sollen.»

     «Nein, Hugo, dazu haben wir's denn doch noch nicht. Und sie müßte doch Zweiter fahren oder wenigstens von Bromberg aus. Und dann, es geht auch überhaupt nicht. Wir müssen für sie sorgen, natürlich müssen wir das, denn sie is doch [eine] gute alte Frau und immer allein und bloß die Runtschen um sich her, was kein Vergnügen ist . . .»

     «Nein», bestätigte Hugo, dem bei dem bloßen Namen der alte Schrecken wiederkam.

     «Die Runtschen und die Schmädicke, die nicht viel besser ist. Aber einladen hierher geht nicht. Wir packen ihr eine Kiste, Schinken, Eier, Butter, und legen ihr vier oder sechs Pakete Thorner Kakaschinchen bei und einen schwarzen Muff, den sie sich schon lange gewünscht hat, und Gummistiefel mit Pelz, und wenn sie das auspackt, dann freut sie sich viel mehr, als wenn wir sie hier mit in die Ressource nehmen. Und überhaupt, es geht nicht. Der Landrat kann dasein oder die gnäd'ge Frau. Und nu denke dir einen Bostontisch und Mutter mit der Landrätin zusammen. Ich glaube, Mutter kann gar nicht Boston; sie hat, seit Vaterns Tod, immer nur Patience gelegt. Nein, dazu ist mir Mutter zu schade, daß sie sie hier auslachen. Und dann, Hugo, auch unsretwegen. Wir sind doch nu, was man in Büchern und Zeitungen so die ‹obren Zehntausend› nennt, obschon Woldenstein bloß dreitausendfünfhundert hat, und was der Adel auf dem Lande ist, das sind die Honoratioren in der Stadt. Und das sind wir. Also es geht nicht. Ich denke, wir warten, bis ein Jahr um ist, und dann nimmst du Urlaub, und dann besuchen wir Muttern und können dann auch sehn, was aus Rybinski geworden ist.»

     Hugo war mit allem einverstanden. Er hatte das mit der Alten auch nur so gesagt, weil er Thilden eine Freude machen wollte. Zugleich dachte er an ein Weihnachtsgeschenk; er fand Rubinglas auch hübscher.

* * *

Die Woche zwischen Weihnacht und Neujahr verging in Saus und Braus. Der Landrat, der während der letzten vier Wochen im Reichstag gewesen war, kam zurück, und eine Festlichkeit drängte die andre. Am Weihnachtsabend war erst Aufbau für die armen Kinder aller Konfessionen, wobei Thilde, die Landrätin und Rebecca Silberstein die Leitung übernahmen, am Silvesterabend war Theateraufführung in der Ressource, wo erst «Monsieur Herkules» und dann «Das Schwert des Damokles» gespielt wurde. Hugo hätte gern mitgespielt, mußte aber verzichten, weil es sich nicht passe. Silberstein gab den Buchbindermeister Kleister und erfuhr, daß sein Spiel an Döring erinnert habe. Hugo dachte den ganzen Abend über an Rybinski und beneidete das Stehen in der freien Kunst. Der Ball, der folgte, ließ aber trübe Gedanken nicht aufkommen, er eröffnete mit der Landrätin die Polonaise, der Landrat folgte mit Thilde, die die Reichstagsberichte jeden Morgen las und einen markanten Satz aus einer kurzen Rede zitierte, die der Landrat über die Simultanschulfrage gehalten hatte. «Sie interessieren sich für Politik, meine gnädigste Frau.» - «Ja, Herr Landrat. Je mehr ich die kleinen Verhältnisse fühlte, die mich umgaben, je mehr empfand ich eine Sehnsucht der Auffrischung, die nur, ich will nicht sagen das Ideal, aber doch das Höhere geben kann. Ich darf sagen, daß die Reden des Fürsten erst das aus mir gemacht haben, was ich bin. Es ist so oft von Blut und Eisen gesprochen worden. Aber von seinen Reden möchte ich für mich persönlich sagen dürfen: Eisenquelle, Stahlbad. Ich fühlte mich immer wie erfrischt.» Beim Souper, das den Tanz auf eine Stunde unterbrach, saßen sich Landrat und Burgemeister gegenüber. Als um zwei Uhr der Tanz wieder begann, rückten sie nebeneinander, und der Landrat sagte: «Burgemeister, Freund, Sie haben eine famose Frau. Kolossal beschlagen. Weiß ja Bescheid wie 'n Reporter oder eigentlich besser: die Reporter sind Maschinen und folgen bloß mit Ohr und Hand. Aber Ihre Frau, Donnerwetter, da merkt man was, Muck, Rasse, Schick. Sagen Sie, was is es für eine Geborne? vielleicht Kolonie oder Familie, die den Adel hat fallenlassen.» Hugo nannte den Namen, und der schon stark angefisselte Landrat fuhr fort: «Hören Sie, Burgemeister, es steckt da was drin . . . Oder ob vielleicht die Mutter . . .»

     Hugo sagte, «soviel er wisse . . .»

     «Nun, ganz egal», schloß der Landrat, «ganz egal, wo's herkommt, wenn's nur da ist . . . Und muß ein Bombengedächtnis haben.»

     Hugo, gegen den Schluß hin, tanzte noch eine Radowa mit der Landrätin und geleitete dann beide bis an den draußen wartenden Schlitten. Er war im Frack mit weit ausgeschnittner Weste, und draußen blies ein Südoster von den Karpaten her. Als er mit Thilde eine Stunde später in seiner Wohnung ankam, war er im Fieber und hüstelte.

     «Thilde, mir is nicht recht; ich möchte ein Glas Zuckerwasser.» «Immer dasselbe. Zuckerwasser. Wer trinkt Zuckerwasser, wenn er von einem Ball nach Hause kommt. Ich werde dir eine Tasse Kaffee machen.» Und sie holte die Spirituslampe, setzte das Kesselchen auf und machte ihm eine Tasse Kaffee von drei Lot.

     Er fieberte furchtbar.

* * *

Wäre das Wetter über Nacht anders geworden, so hätte das Fieber vielleicht nicht viel bedeutet. Aber der Wind ging noch mehr nach Osten rum, und an Schonung war nicht zu denken, weil allerhand Visiten zu machen und allerhand Pik- und Stuhlschlitten für den Nachmittag zu besorgen waren. Sich davon auszuschließen war um so unmöglicher, als Hugo beim Abschied um die Ehre gebeten hatte, die Landrätin auf dem Eise fahren zu dürfen. Eine kleine Eitelkeit kam hinzu, er war ein sehr guter Schlittschuhläufer und wollte sich in den Pausen als solcher zeigen. Thilde schlug ihm zum Frühstück ein Glas Portwein vor, aber sein Zustand war doch schon so, daß er auf Haferschleim drang. Er genoß auch bei Tisch nichts andres und nahm ein Schächtelchen isländische Moospastillen mit sich, als er um drei zu dem Rendezvous auf dem Eise aufbrach. Er sah sehr verändert aus, was auch Thilden nicht entging, und weil sie trotz alles Abhärtungsprinzips, nach dem sie selber lebte, nicht ohne eine gewisse Teilnahme für ihn war, so würde sie ihn vielleicht vom Eise zurückgeschickt und bei der Landrätin, die noch nicht da war, bei ihrem Eintreffen entschuldigt haben, wenn [nicht] ein alter polnischer Graf, dessen Bekanntschaft sie schon am Abend vorher gemacht, sich ihrer bemächtigt und ihr auf seinem kleinen Muschelschlitten, mit zwei Scheckenponies davor, einen Platz angeboten hätte. Sie mußte das annehmen, denn er war der reichste und angesehnste Mann der ganzen Gegend. Original und schon über siebzig. Thildes franke, ganz uneingeschüchterte Manier hatte ihm schon auf dem Silvesterball gefallen, und er war enchantiert, als sie seine Aufforderung, den Platz im Schlitten einzunehmen, ohne weitres annahm. Er fuhr selbst und legte seine mächtige Wolfsschur um den kleinen Schlittensitz herum und forderte Thilden auf, die Schur von rechts her zu halten, so daß sie wie in einer Pelzhaube saß. Und nun flog der Schlitten über das Eis hin, und die Glöckchen läuteten, und die weißen Decken blähten sich im Winde, während der Alte von [der] Pritsche her seine Konversation machte: «Freut mich, meine gnädigste Frau . . . Sacrebleu, man sieht doch . . . große Stadt . . . andre Menschen . . . Ah, Berlin . . . nicht preußisch ich, nicht sehr . . . Aber Berlin . . . O Berlin, eine merkwürrdigen Stadt, eine tollen Stadt.»

     Thilde versicherte lachend, daß sie davon eigentlich wenig gemerkt habe, das Berlin, das sie kenne, sei sehr wenig toll, fast zu wenig, es passiere ja eigentlich gar nichts . . .

     «Ja, meine Gnädigste, das macht die Stelle, wo man steht, von der aus man sieht, ich habe gestanden immer sehr in Front, immer sehr avancé.»

     «Glaub ich, Herr Graf. Ihre gesellschaftliche Stellung  . . .»

     «O nicht das Gesellschaftliche, das vor dem großen Tor. O viele Lichter da, viele Schatten. Da hatten wir Maskenball. Kroll. Kennen Sie Kroll?»

     «Gewiß, Herr Graf. Jede Berlinerin wird doch Kroll kennen.»

     «Und da hatten wir Maskenball. Ich Fledermaus. Und da hatten wir Orpheum . . .»

     «Auch davon habe ich gehört . . .»

     «Aber ich habe gesehn. Eine merkwürrdige Stadt, eine tollen Stadt, aber eine Stadt ohne Grimasse . . .»

     «Ja, das ist wahr.»

     «Eine Stadt von sehr freier Bewegung . . .»

     «Ich glaube doch nicht überall.»

     «Nein, nicht überall. Das ist wieder, wo man steht, meine gnädigste Frau. Wo ich gestanden, sehr freie Bewegung. Und keine falsche Verschämung . . .»

     «Aber doch vielleicht eine richtige?»

     «Verschämung immer falsch, immer Grimasse. Und ich liebe die freie Bewegung.»

     Ein Herzählen sämtlicher Berliner Lokale mit freier Bewegung stand in Sicht, und wer will sagen, wo Graf Goschin schließlich gelandet wäre, wenn nicht eine plötzlich quer durch das Flußeis gezogene Rinne das Weiterfahren gehindert und zur Umkehr gezwungen hätte. Wenige Minuten, und der Schwanenteich war wieder erreicht, wo sich die Woldensteiner Honoratioren in engerem Kreise bewegten, die jüngern in Nähe eines Leinwandzeltes mit einem aufgemauerten Herde, drauf eine Punsch- und Waffelbude, draus der angesäuerte Fettqualm ins Freie zog. In Front dieser Bude hielten die Schlitten, und auf einer Bank, der die eine Wand der Bude als Rückenlehne diente, saßen Hugo und die Landrätin, die eben den Pikschlitten verlassen hatte, sich hier zu erholen. [Hier hielt jetzt] der kleine Muschelschlitten des Grafen, und der Graf schlug die Schur zurück, um Thilden aus ihrem Gefängnis zu entlassen.

     «Ja, meine gnädigste Frau. Es hat nicht sollen sein . . .»

     «Was, lieber Graf?»

     «Escapade. Wollte wie Gott der Unterwelt oder Pluto . . .»

     «Warum nicht höher hinauf, warum nicht Jupiter?»

     «Ach, ich verstehe. Wegen der Attrappe. Gnädigste Frau haben eine spitze Zunge.»

     Er winkte von den Leuten, die umherstanden, einen heran und gab ihm die Zügel und hieß ihn den Schlitten seitwärts führen, an eine Stelle, wo rotes Weidengesträuch vom Ufer her auf das Eis hinabhing. Dann nahm er Hugo unterm Arm und ging, um ein Glas Punsch zu trinken, auf die Bude zu, wo wenige Schritt neben dem Herd ein zerschlißnes Sofa stand.

     «Sehr erfreut, Burgemeister. Eine charmante Frau, kluge Frau, gar nicht ängstlich. Haben alles gesehn und denken immer, alles geht vorüber, und den Kopf wird es ja wohl nicht kosten.»

     Hugo, halb geschmeichelt, bestätigte. Das sei so die Schule der großen Stadt.

     «Ja, merkwürdige Stadt, tolle Stadt.»

     Diese Worte hatten etwas Beunruhigendes selbst für Hugo, der seiner Thilde sicher zu sein glaubte. Er kam aber nicht dazu, dem lange nachzuhängen, denn ein heftiger Hustenanfall zwang ihn, sich an der Sofalehne festzuhalten. Als der Anfall vorüber war, kam der Graf mit einem Glase Punsch, «das löse».

     Hugo kam in die Verlegenheit, ablehnen zu müssen, es würde seinen Zustand verschlimmern.

     «Kann nicht verschlimmern. Punsch nie.»

     Als er Hugo mit seinen listigen, etwas blutunterlaufnen Augen aber ansah, kam ihm doch ein Zweifel, ob Punsch hier Allheilmittel sei, und er ging sogar hinaus und rief die noch im Gespräch mit der Landrätin auf der Bank sitzende Thilde.

     «Gnädigste Frau, der Herr Gemahl. Packen wir ihn in die Schur, und der Knecht kann ihn nach Hause fahren.»

     «Es ist besser, wir gehn, Herr Graf», sagte Thilde, und Hugo führend, der traumhaft hin und her schwankte, gingen sie auf die Stadt zu.

     Als sie fort waren, setzte sich der Graf neben die Landrätin und sagte: «Woldenstein kann sich nach einem neuen Burgemeister umsehn.»

     Die Landrätin lachte. «Bei Ihnen draußen gedeiht das Zweite Gesicht.»

     «Nein. Aber ich sehe gut.»
 
 
 
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