BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Jacob Grimm

1785 - 1863

 

Von der Poesie im Recht

 

1815

 

______________________________________________________________________________

 

 

 

§. 12.

[Beweis aus grausamkeit.]

Von der grausamkeit und barbarei der alten gesetze ist oft die rede gewesen; ich halte sie für mild und grausam zugleich und meine, dasz sich in ihnen beides einander bedingt. aus der reinen ehrlichkeit, die in ihnen obenan stand, flosz ihre strenge unmittelbar. es ist in der alten poesie wieder gerade nämlich so. die spätere, immer mehr abgeflachte zeit hat statt solcher frischer grausamkeit desto mehr gleichgültigkeit aufzuweisen, der mord ist seltener, das falsum häufiger geworden.

Das uralte lied singt den in feindeshand gefallenen, bodenge­schleiften, blutrünstigen helden, denselben von dem es vorher enthalten hat, wie sein knäblein vor seinem helmbusch erschrocken war. erzählt wird, dasz die fische im weiszen nierenfett des leichnams schwelgen, aber auch, dasz freunde und genossen nach der Schlacht die todten rein waschen, mit ihren zähren begieszen und sorge haben, dasz sie verbrannt werden.

Liegt nicht in unserm heutigen leben häufig eine solche herzenshärtigkeit, schwankend zwischen der rohheit und güte unserer vorfahren? denke ich mir den heimkehrenden zug, der das bleiche gebein der todten sorgsam mit sich trägt, um es kindern oder eltern mitzubringen ins vaterland zurück; so finde ich unsere soldaten viel grausamer, die an schlachtfeldern, wo freund und feind beisammen liegen, vorüberziehen und keinen begraben. unser altdeutsches gedicht von der klage ist des bewegendsten, herzschneidenden jammers voll, in den Nibelungen wird das blutige geräth vor dem gesicht der weiber versteckt, damit sie nicht darüber weinen sollen.

Man musz also auch das herbe der alten gesetze, die unerbarmenden strafen beständig, um ihnen ihr recht zu thun, vergleichen mit dem, was ihnen zur seite stehet, ein durchaus ehrenfester, auf sich selbst haltender sinn 1). die neuere barmherzigkeit gegen gewisse verbrechen und unedle oder unehrliche stände hat dagegen eine schädliche vermischung aller untereinander überschnell befördert und unter uns manches gute der vorzeit selten gemacht 2). genau so und aus gleichem grund scheint es sich mit den derben flüchen und schimpfreden derselben und unseres gemeinen manns zu verhalten, im gegensatz zur zartheit vornehmer gesellschaften. jene fechten die keuschheit des gemüts wenig oder nichts an.

Ich darf also auch die rauheit des alten rechts vollkommen mit der poesie zusammenhalten, ja durch diese einen berühmten fall des römischen rechts gerade beweisen wollen.

Die 12 tafeln schrieben: si plures erunt rei, tertiis nundinis (27 tage) partis secanto, si plus minusve secuerunt, se fraude esto, si volent uls Tiberim peregre venumdanto 3). dies gesetz von dem leiblichen zerschneiden der bösen schuldner, ungeachtet die seit Jacob Gothofred vielmals angeführten zeugnisse 4) der alten selbst es nicht anders nahmen, hat man in der modernen ansicht natürlich bezweifelt und menschlicher auszulegen gestrebt. erzählt aber nicht Livius noch einen andern ausdrücklichen fall der insignis crudelitas in creditorem 5)? die treue in geldanleihen sollte so sicher gehalten werden, dasz dem gläubiger gegen den leichtsinnigen Schuldner alles zu gebot stand. unsere germanische gesetzgebung hat keine spur einer solchen verordnung [aber das norweg. Gulaϸingslag, leysingsbalkr fl. 15.], hingegen trug sich das ganze mittelalter mit der sage von einem vertrag, den ein gläubiger und schuldner dahin geschlossen hatten, dasz wenn dieser zur gesetzten zeit verfiele, jener ihm so und so viel fleisches aus der brust schneiden dürfte. es ist bereits durch anderwärtige untersuchungen dargethan worden, dasz lange vor Shakespears lebenszeit, welcher, wie er immer die tiefsten fabeln zu ergreifen verstand, diese so meisterlich gedichtet hat, die geschichte gangbar war. die gesta Romanorum erzählen sie, darauf eine novelle im pecorone, dann das englische frühere Volkslied vom juden Gernutus, endlich mehrere deutsche 6) und englische autoren 7); die meisten mit eigenthümlichen umständen. selbst auf einen wirklichen, von Leti in papst Sixtus V. leben angeführten vorfall wird sie angewandt. es verschlägt hierbei gar nichts, dasz der volkshasz sich wider den gläubiger (gerade wie in jener begebenheit des Papirius und Publilius) auflehnt; den strengen buchstaben des rechts hat dieser für sich und merkwürdigerweise wäre gerade der umstand, welcher den juden verdammt, das mehr oder weniger schneiden, nach den 12 tafeln, weil sie ihn voraussahen, dem gläubiger unschädlich gewesen 8).

 

――――――――

 

1) im letzten krieg hat das spanische volk in seiner rechten erbitterung gegen die Franzosen die grausamsten dinge gethan, z. b. lebende leiber wie scheiter holz in stücke gesägt. und dies volk ist gewisz ein gutes und edelmütiges, dennoch waren solche grausamkeiten unvermeidlich. 

2) in diesem sinn hat Möser mehrere bemerkungen niedergeschrieben, z. b. band 2. num. 42. 43. u. s. w. 

3) nb. vergl. im röm. concurs die ausdrücke: sectio bonorum, sector. 

4) [Sextus] Caecilius [Africanus] ap. Gellium XX, 1. QuintiUanus III, 6. Tertull. apolog. cap. 4. 

5) Livius VIII, 28. [24. cf. Bach m. p. 138. de lege Petillia Papiria, a° u. c. 428.] 

6) meistergesang im mus. 2. 280 - 283. vgl. Aretins beitr. 1807. p. 1185. 

7) auch Aegyd. Corrozet, de dictis et factis mem. (Abele casus XXXIX.) 

8) die hauptabweichung scheint mir schon völlig den gedanken an etwaige entlehnung der volkssage aus dem römischen recht ausschlieszen zu müssen.