BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Jakob Friedrich Binder

Bekanntmachung des Magistrats

der Stadt Nürnberg

 

1828

 

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Bekanntmachung.

(Einen in widerrechtlicher Gefangenschaft aufgezogenen und gänzlich verwahrlosten, dann aber ausgesetzten jungen Menschen betr.)

 

Vom Magistrat

der Königlich Bayerischen Stadt Nürnberg

 

wird hiermit ein Fall zur allgemeinen öffentlichen Kenntniß gebracht, der so merkwürdig und in seiner Art vielleicht so unerhört ist, daß er nicht nur die Aufmerksamkeit aller Polizei-und Justiz-, Civil- und Militär-Behörden, sondern auch die Theilnahme aller fühlenden Menschen unsers Vaterlandes in Anspruch nimmt.

Am zweiten Pfingstfeiertage, Montag den 26. Mai d. J., Nachmittags zwischen 4 und 5 Uhr begegnete einem hiesigen Bürger am Eingange der Kreuzgasse dahier, bei dem s. g. Unschlitt-Platze ein junger Mensch, dem Anscheine nach 16 bis 18 Jahre alt, ohne Begleitung und fragte ihn nach der Neuthorstraße. Der Bürger erbot sich, dem jungen Menschen den Weg dahin zu zeigen, und begleitete ihn; während dessen zog dieser aus der Tasche einen versiegelten Brief, worauf die Adresse stand:

 

An Tit. Hrn. Wohlgebohner Rittmeister

bei der 4. Esgataron bey 6. Schwolische Regiment

in

Nierberg.

 

und dies bewog den Bürger, mit ihm auf die Wache vor dem neuen Thor zu gehen, um dort am ersten Auskunft zu erlangen. Auf dem weiten Weg dahin suchte der Bürger ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, überzeugte sich aber bald, daß wegen Mangels an Begriffen bei ihm solches nicht möglich sei. Am neuen Thor angelangt, wurde der junge Mensch nach Vorzeigung des gedachten Briefes an das nicht weit davon entfernte Haus gewiesen, in welchem der bezeichnete Herr Rittmeister wohnte. In dessen Abwesenheit bemühte sich der Bediente, den jungen Menschen möglichst auszufragen, konnte aber keine befriedigenden Antworten erlangen, und, als inzwischen der Herr Rittmeister zurückgekommen war, den Brief gelesen, aber sich ebenfalls vergebens bemüht hatte, dessen ihm ganz fremden, räthselhaften Inhalt bei dem jungen Menschen näher zu erforschen, wurde solcher nebst diesem Briefe noch an jenem Abend dem Magistrat übergeben.

Was der Brief und dessen Beilage enthält, geht aus dem unter Nr. I folgenden im lithographirten ganz getreuen sämmtlichen königl. Landgerichten des Ober-und Unterdonau-, Regen- und Isarkreises mitgetheilten Facsimile hervor.

Das erste von einem Magistrats-Polizeibeamten mit ihm vorgenommene Verhör lieferte in abgerissenen kurzen Antworten kein anderes Resultat, als daß ihm weder der Ort noch die Gegend seiner Geburt oder seines Aufenthalts noch seine Herkunft bekannt, und daß er von demjenigen Unbekannten, bei welchem er „alleweil“ (immer) gewesen, bis an das „große Dorf“ (Nürnberg) gewiesen worden sey, wo sich alsdann derselbe entfernt habe.

Ob nun schon dieses erste Verhör und die Art und Weise, wie er sich dabei benahm, keine Veranlassung gaben, anzunehmen, daß Blödsinn oder Verstellung zu Grunde liege, sondern vielmehr auf die Meinung führen mußten, daß dieser junge Mensch von seiner Kindheit an mit Entbehrung aller menschlichen Gesellschaft auf die unmenschlichste Weise in einem thierähnlichen Zustande einsam gefangen gehalten worden sey, wozu hauptsächlich der Umstand berechtigte, daß er nichts als Wasser und Brod genoß, so unterstellte ihn doch der Magistrat, um vor jeder Täuschung gesichert zu seyn, neben der geheimen sorgfältigen Beobachtung des erfahrnen Gefängnißwärters, der genauen Unter­suchung und Beobachtung des hiesigen königl. Stadtgerichts-Arztes. Während aber jener nichts entdecken konnte, was irgend einen Verdacht gegen diesen jungen Menschen zu erregen imstande gewesen wäre, fiel nach sechs Tagen das gerichtsärztliche Gutachten wörtlich dahin aus:

„daß dieser Mensch weder verrückt noch blödsinnig, aber offenbar auf die heilloseste Weise von aller menschlichen und gesellschaftlichen Bildung gewaltsam entfernt, wie ein halb wilder Mensch erzogen worden, zur ordentlichen Kost nicht zu bewegen sey, sondern blos von schwarzem Brod und Wasser lebe.“ [2]

Von der Wahrheit dieses Urtheils überzeugte sich der unterzeichnete Vorstand des Magistrats und Polizeisenats in einem bald nachher von ihm mit diesem jungen Menschen vorgenommenen umständlichen Verhör, und es ergab sich hiebei, daß derselbe weder von Menschen noch von Thieren eine Vorstellung hatte und außer „Buben“, worunter er aber nur sich und denjenigen verstand, bei welchem er immer gewesen war, und einem „Roß“ (Pferd), womit er gespielt, nichts kannte.

Diese Beschränktheit seiner Begriffe, – obschon im schreiendsten Widerspruche mit seiner auf die herrlichsten Naturanlagen deutenden großen Wißbegierde und einem ganz außerordentlichen Gedächtniße, – bestimmte bald den Unterzeichneten, die Bahn förmlicher Verhöre zu verlassen und statt deren sich vertraulich mit ihm zu unterhalten. Aerzte, Lehrer, Erzieher, Psychologen, Polizei- und Gerichtsbeamte, die scharfsichtigsten Beobachter aus allen Ständen, und unzählige an seinem früher traurig gewesenen Schicksal innigen Antheil nehmende Personen erhielten seitdem Zutritt zu ihm, und ihre mehrfältig ausgesprochenen Erklärungen stimmen mit den Ansichten der unterzeichneten Polizeibehörde überein.

Er selbst befindet sich in einem, soweit es unbeschadet der Aufsicht über ihn geschehen kann, möglichst freien Zustande, bleibt sich aber, der täglich sichtbaren erfreulichen Fortschritte in seiner geistigen Entwicklung ungeachtet, in der ersten Erzählung seines Schicksals treu. Um so sicherer kann daher sein bisheriges Leben, in so weit es ihm selbst klar ist, aus unzähligen Unterhaltungen des unterzeichneten Vorstandes mit ihm, wie folgt, mitgetheilt werden. –

Kaspar Hauser – so nennt sich das Opfer unmenschlicher Behandlung, und sein Signalement ist in der unten folgenden Beilage Nr. II angegeben (wovon hieher nur zu bemerken ist, daß er die bayerische Mundart spricht, wie man sie in der Gegend von „Regensburg, Straubing, Landshut. etc. etc., vielleicht auch Altötting, Burghausen hört, und daß er am rechten Arm geimpft ist), war immer ganz allein eingesperrt und sah und hörte Niemand anders als das Ungeheuer, das ihm seine einzige Nahrung, Brod und Wasser, reichte. Er befand sich stets in einem kleinen, engen, niedrigen Raum zu ebener Erde, dessen Boden nicht gebrettert war, sondern, wie es scheint, aus festgeschlagener Erde, dessen Decke aber aus ineinandergeschobenen und befestigten Brettern bestand. Zwei kleine, längliche Fenster waren mit Holzstößen verschlichtet, und durch sie drang daher nur ein schwaches dämmerndes Licht; niemals sah er die Sonne. Er saß in einem Hemd, und kurzen, am Knie gebundenen, wahrscheinlich dunkelfarbigen und durch einen Hosenträger (nach bayerischer Mundart „Halfter“) gehaltenen Hosen ohne alle weitere Bekleidung auf dem Boden und spielte mit zwei weißen hölzernen Pferden, die er sonst Roße nannte und einem weißen hölzernen Hund, hing ihnen verschiedene kleine Spielsachen um den Hals und sprach mit ihnen soviel, als ihm der Mangel an Wörtern und somit die Armuth an Begriffen gestattete. Das eine dieser Pferde war kleiner als das andere, keines höher als ungefähr 1 bis 1 ¼ Schuh und der Hund viel kleiner als beide – demnach gewöhnliche Kinderspielwerke. Im Boden seines Behältnißes stand, wie es scheint, mit ausgehöhlter Vertiefung, ein Hafen oder ein ähnliches Gefäß mit einem Deckel, in welches er seine körperlichen Bedürfnisse verrichtete; nicht weit davon lag auf der Erde ein Strohsack, welchen er zuerst sein Bett nannte. Da er wegen Mangel an Uebung fast gar nicht stehen und gehen konnte, sondern, wenn er sich aufrichtete, fiel, so rutschte er auf dem Boden bei seinen Pferden herum, von diesen zum Hafen und von da zum Strohsack, auf welchem er schlief. Dieß geschah immer, sobald die Nacht einbrach. Der früheste Morgen traf ihn schon wieder wach. Beim Erwachen fand er vor seinem Lager schwarzes Brod und frisches Wasser und den oben gedachten Hafen geleert; er schließt daraus mit Recht, daß statt der Nahrungsmittel, welche er immer Tags vorher verzehrt hatte, während des Schlafs ihm neue gebracht worden sind, und auf gleiche Weise die Reinigung des Hafens erfolgt ist. Ein gleiches behauptet er auch hinsichtlich des Beschneidens der Nägel und Haare. Sein Hemd wechselte er sehr selten und da er nicht weiß, wie es geschah, so behauptete er, daß es ebenfalls während des Schlafes, der gut und fest war, geschehen seyn müsse. Das Brod, das er genoß, war ihm zureichend, an Wasser dagegen hatte er nicht immer Vorrath nach Durst.

Der Eingang zu seinem Kerker war mit einer kleinen, niedrigen Thüre verwahrt und diese von außen verriegelt. Der Ofen darin war weißfarbig, klein, rund, wie etwa ein großer Bienenkorb geformt und wurde von außen geheizt (oder wie er sich ausdrückte „einkenten“). Lang, lang, aber wie lang, das weiß er nicht, weil er keinen Begriff von der Eintheilung der Zeit hatte, war er in diesem Kerker gewesen. Niemand hatte er darin gesehen, keinen Strahl der Sonne, keinen Schimmer des Mondes, kein Licht, keine menschliche Stimme, keinen Laut eines Vogels, kein Geschrei eines Thiers, keinen Fußtritt gehört. Da öffnet sich endlich die Thüre des Kerkers und der Unbekannte, welcher ihn bis Nürnberg geführt, trat ein, barfuß und fast ebenso, wie er, dürftig gekleidet [3] und gebückt, um nicht anzu­stoßen, so, daß obschon er nur mittlerer Größe war, beinahe die Decke des Kerkers auf ihm ruhte, und gab sich ihm als denjenigen zu erkennen, der ihm immer Brod und Wasser gebracht und die Pferde geschenkt habe.

Derselbe gab ihm die unten unter Beilage Nr. III. verzeichneten Bücher, sagte ihm, daß er nun lesen und schreiben lernen müße, und dann zu seinem Vater komme, der ein Reiter gewesen sey. und daß er auch ein solcher werden solle. Bei seinen außerordentlichen, durch die langwierige und furchtbare Einkerkerung dennoch nicht in Stumpfsinn übergegangenen geistigen Anlagen fand die Bemühung des Unbekannten leicht Eingang. Er lernte, wie er sagt, und ihm auch nach seinen jetzigen sichtbaren Fortschritten ebenfalls zu glauben ist, schnell und leicht, aber doch nicht viel, sondern nur nothdürftig lesen und seinen Namen schreiben, weil der Unbekannte immer nur nach vier Tagen, am fünften Tage wieder zu ihm kam und ihn unterrichtete. Immer aber kam er in derselben Kleidung barfuß, und Hauser hörte ihn nicht eher kommen, als bis er die Thüre geöffnet hatte.

Um seine Lernbegierde zu vermehren, versprach ihm derselbe zu erlauben, daß, wenn er gut lerne, er mit den Roßen in seinem Kerker herumfahren dürfe; aber noch beklagt er es bitter, daß, obschon er jene Bedingung erfüllt habe, und dann herumgefahren sey, der Unbekannte nicht Wort gehalten, sondern ihn mit einem Stecken dafür, und wenn er weinte, gezüchtiget habe, (wovon auch noch die Spuren am rechten Ellenbogen sichtbar sind) und daß er ihn das Fahren ernstlich verboten habe. Zum Schreiben bediente er sich eines Bleystifts, welchen der Unbekannte für eine Feder ausgab. Bei Ertheilung dieses Unterrichts schärfte ihm dieser ernstlich ein „niemals zur Thüre hinaus zu wollen, weil über ihm der Himmel und darinn ein Gott sey, der bös würde und ihn schlage, wenn er hinaus wolle.“

So vergieng wieder eine geraume Zeit, doch war sie nach seiner Meinung nicht so lang, als er sich in Nürnberg befindet; da wurde er auf einmal Nachts geweckt. Der Unbekannte stand wieder vor ihm und sagte ihm, daß er ihn jetzt fortführen wolle. Er weinte darüber, ließ sich aber durch die ihm inzwischen oft vorgesagte, wahrscheinlich auch erklärte und lieb gewordene Vorstellung, daß er zu seinem Vater komme, und daß er wie dieser, ein Reiter werde, bald beruhigen. Der Unbekannte, der bis dahin immer nur in blosen Hemdärmeln, kurzen gebundenen Hosen und barfuß zu ihm gekommen war, hatte sich nun außerdem auch noch in einen kurzen Schalk (auch Jankerl, Kittel genannt) gekleidet, Stiefel angezogen, einen groben runden schwarzen Herrnhut aufgesetzt und blaue Strümpfe an. Er nahm Kaspar Hauser, wie er war, auf den Rücken und trug ihn, blos mit einem Hemd und kurzen gebundenen Hosen bekleidet, und mit einem großen schwarzen breiten runden Bauernhut mit hohem Kopf bedeckt, gleich von seinem Kerker aus ins Freye und unmittelbar darauf einen langen hohen Berg hinauf, immer weiter fort, bis es Tag wurde. Er war indeß wieder eingeschlafen und erwachte erst, als er auf den Boden niedergesetzt wurde; da lehrte ihm der Unbekannte gehen, was ihm sehr schwer fiel, denn er war barfuß und seine Fußsohlen sehr weich, er mußte daher sich oft niedersetzen, endlich konnte er aber doch besser gehen und abwechselnd unter Gehen und Ausruhen trat die zweite Nacht ein. Sie legten sich im Freien auf die Erde nieder, es regnete heftig, oder, wie er sich früher ausdrückte, schüttete vom Himmel herunter, und den armen Kaspar Hauser fror es stark. Er schlief indessen doch ein, und setzte mit Anbruch des zweiten Tages, in Begleitung des Unbekannten auf gleiche Weise die Reise weiter fort. Das Gehen war ihm leichter geworden, aber die Beine und Lenden schmerzten ihn um so heftiger. Mit einbrechender dritter Nacht lagerten sie sich wieder auf der Erde im Freien; diesmal regnete es zwar nicht, doch war es sehr kalt und es fror ihn abermals heftig. Mit der ersten Helle des dritten Tages setzten sie ihre Reise in der vorigen Weise fort, und als es noch weit von hier war, nahm der Unbekannte aus einem in ein Tuch eingebundenen Bündel, den er mit sich trug, die unten in der Beilage Nr. II. beschriebenen Kleider, bis auf die blauen Strümpfe, welche er sich selbst von den Füßen zog, und zog ihm Alles an. Derselbe vertauschte alsdann seinen Hut, der ein grober schwarzer Herrnhut war, gegen denjenigen, welchen er ihm bei dem Weggang aus dem Kerker gegeben hatte, zog barfüßig seine Stiefel wieder an, die nach Hausers Meinung weit schöner waren, als die schlechten Stiefel, die er hatte anziehen müssen, und nahm dessen im Kerker getragene Hosen an sich. So verändert setzten sie ihre Reise weiter fort. Ihre Nahrung auf dem ganzen Weg blieb dieselbe, welche Hauser im Kerker genossen hatte, das Brod, in einem großen Laib bestehend und das Wasser in einer Bouteille, trug der Unbekannte in der Tasche bei sich. Derselbe beschäftigte sich auf dem ganzen Wege damit, ihm nach einem Rosenkranz, den er damals zum erstenmal sah und von jenem erhielt, das Vater Unser und noch ein anderes Gebet zu lehren, welche beide er früher nie gehört hatte, und jetzt noch gut vorsagen kann. Auch unterhielt derselbe ihn stets mit der Erzählung, daß [4] er zu seinem Vater komme und ein Reiter werde, der dieser gewesen sey, was ihm immer Freude machte. Sie kamen auf dem ganzen Weg in kein Haus, wohl aber an Häusern und Menschen vorbei, die aber natürlich Hauser nicht beschreiben kann. Der Unbekannte ermahnte ihn hiebey immer nur auf den Boden zu sehen, damit er ordentlich gehen könne, wahrscheinlich aber mehr noch deßwegen, damit er keine Eindrücke von den Umgebungen aufnähme, an welchen er sich dereinst wieder zu erkennen im Stande wäre. Er that dies auch pünktlich.

Als sie endlich Nürnberg, welches der Unbekannte mit dem Namen des „großen Dorfs“ bezeichnete, sich genähert hatten, zog derselbe den bereits erwähnten Brief aus der Tasche, und übergab ihn dem Kaspar Hauser, mit dem Auftrag, solchen in das große Dorf hinein zu tragen, einem Buben zu zeigen und zu geben, der ihn weiter führen würde. Er bezeichnete ihm, wie es scheint, oft und genau den Weg, den er allein zu gehen habe, und versprach ihm, als Hauser sich ungern von ihm trennte, gleich nachzukommen.

Hauser gieng, wie ihm geheißen worden war, immer gerade vor sich hin, kam so zum Thor, ohne mehr zu wissen, zu welchem, herein, und wahrscheinlich bald nachher zu dem Bürger, der ihm den Weg zeigte.

 

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Wenn dieses in seiner Art vielleicht einzige, in Akten noch nicht vorgekommene Beispiel unbarmherziger, unmenschlicher Behandlung jedes menschlich fühlende Herz ergreift, so möge auch der scharfprüfende Verstand in nachfolgenden treugegeben Zügen die lautere Wahrheit dieses Falles erkennen. Die weiche Hand unseres Findlings, die einfache Kost, die er bey äußerem gesunden Aussehen und wohlgenährtem Körper, mit dem größten Abscheu vor jeder andern nahe oder fern ihm dargebotenen oder auch versuchten und sogleich mit wahrem Eckel zurückgewiesenen Kost noch bis zur Stunde genießt, die Empfindlichkeit seiner Geruch-und Geschmacks-Nerven gegen die einfachsten Gegenstände, z. B. Blumen, Erdbeere, Milch, die auf andere Menschen keinen Eindruck machen, – der mit seinem, dem Anschein nach starken, aber zufolge angestellter Versuche sehr schwachen, an die Kräfte eines achtjährigen Kindes nicht hinreichenden Körper, ebenfalls in Widerspruch stehende langsame, schwankende, und ihn anstrengende Gang, der ihn in das Alter eines Kindes von 2 Jahren versetzt; die Nervenschwäche, die sich bei kleinen Anstrengungen durch momentanes Zittern der Hände und Zucken der Gesichtsmuskeln ausspricht, der zwar helle und weittragende aber nicht kräftige, gegen den Eindruck des Tageslichts sehr empfindliche Blick, die Neigung, solchen auf die Erde zu richten, wie die Neigung zur Einsamkeit, eine gewisse Unbehaglichkeit im freyen großen Reiche der Natur und unter vielen Menschen, die Abneigung gegen großes Geräusch und Lärmen, die Dürftigkeit in Worten, Vorstellungen und Begriffen von allen sinnlichen und übersinnlichen Gegenständen, im auffallenden Contraste mit dem sichtbaren Bestrehen, sich verständlich zu machen und zu verstehen, und die Weise, nur in kurzen abgebrochenen Sätzen zu sprechen, – diese wichtigen Momente zusammen lassen mit vollem Rechte schließen, daß er viele, viele Jahre lang mit Ausschließung von aller menschlichen Gesellschaft widerrechtlich eingekerkert gewesen ist.

Sein reiner offener schuldloser Blick dagegen, die breite hohe Stirn, die höchste Unschuld der Natur, die keinen Geschlechtsunterschied kennt, nicht einmal ahnet, und erst jetzt die Menschen nur nach den Kleidern zu unterscheiden gelernt hat, seine unbeschreibliche Sanftmut, seine alle seine Umgebungen anziehende Herzlichkeit und Gutmütigkeit, in der er anfangs immer nur mit Thränen und jetzt, nach eingetretenem Gefühle der Freiheit, mit Innigkeit selbst seines Unterdrückers gedenkt, die zuerst in heißer Sehnsucht nach seiner Heimath, seinem Kerker und seinem Kerkermeister bestandene, dann aber in wehmüthige Erinnerung übergegangene und erst jetzt durch liebevolle Behandlung allmählig verschwindende Anhänglichkeit an das Vergangene, die eben so aufrichtige als rührende Ergebenheit an alle diejenigen, welche häufig mit ihm umgehen und ihm Gutes erweisen, sein Vertrauen aber auch gegen alle andere Menschen, seine Schonung des kleinsten Insects, seine Abneigung gegen Alles, was einem Menschen oder Thier nur den leisesten Schmerz verursachen könnte, seine unbedingte Folgsamkeit und Willfährigkeit zu allem Guten, eben so sehr als seine Freiheit von jeder Unart und Untugend, verbunden gleichwohl mit der Ahnung dessen, was böse ist – und endlich seine ganz außerordentliche Lernbegierde, durch die er mit Hülfe eines ebenso schnell fassenden als treuen Gedächtnißes seinen Wörter-Vorrath, der anfangs kaum in 50 Wörtern bestand, bereichert und bereits Vorstellungen und Begriffe von vielen Gegenständen – deren er außer denen, welche in seinem Kerker waren, keine kannte – und jetzt auch von Zeit und Raum erlangt hat, seine ganz [5] besondere Vorliebe für die ihm früher ganz unbekannt gewesene Musik und das Zeichnen, seine Neigung und Geschicklichkeit beide zu erlernen, und seine ganz ungemeine Ordnungsliebe und Reinlichkeit – so überhaupt sein ganzes kindliches Wesen und sein reines unbeflecktes Innere – diese wichtigen Erscheinungen zusammen geben in demselben Maaße, in welchem sie seine Angaben über seine widerrechtliche Gefangenhaltung unterstützen und bekräftigen, die volle Ueberzeugung, daß die Natur ihn mit den herrlichsten Anlagen des Geistes, Gemüths und Herzens reich ausgestattet hat. Sie berechtigen aber auch eben deshalb, und bei genauer Prüfung des sich durchaus als unwahrscheinlich und erdichtet darstellenden Inhalts des unter Nr. I. abgedruckten Briefs zur dringenden Vermuthung, daß mit seiner widerrechtlichen Gefangenhaltung das nicht minder schwere Verbrechen des Betrugs am Familienstande verbunden ist, wodurch ihm vielleicht seine Eltern, und wenn diese nicht mehr lebten, wenigstens seine Freiheit, sein Vermögen, wohl gar die Vorzüge vornehmer Geburt, in jedem Falle aber neben den unschuldigen Freuden einer frohen Kinderwelt die höchsten Güter des Lebens geraubt, und seine physische und geistige Ausbildung gewaltsam unterdrückt und verzögert worden ist. – Der Umstand, daß er im Kerker mit seinen Spielsachen sprechen konnte, ehe er den Unbekannten gesehen und von ihm Unterricht in der Sprache erhalten hat, beweißt aber auch zugleich, daß das Verbrechen an ihm schon in den ersten Jahren der Kindheit, vielleicht im zweiten bis vierten Jahre seines Alters und daher zu einer Zeit angefangen wurde, wo er schon sprechen konnte, und vielleicht schon der Grund zu einer edlen Erziehung gelegt war, die, gleich einem Stern in der dunklen Nacht seines Lebens, aus seinem ganzen Wesen hervorleuchtet. –

Daher ergeht, nicht um ihn zu entfernen, denn die Gemeinde, die ihn in ihren Schooß aufgenommen, liebt ihn, und betrachtet ihn als ein ihr von der Vorsehung zugeführtes Pfand der Liebe, das sie ohne den vollen Beweis der Ansprüche anderer auf ihn nicht abtreten wird, sondern um das Verbrechen zu entdecken, das ohne allen Zweifel an ihm begangen wurde, um den Bösewicht oder seine Gehülfen zu entdecken, die es begiengen, und um ihn dadurch, wo möglich in den Besitz der verlornen Rechte der Geburt wieder einzusetzen, an alle Justiz- und Polizei – Civil- und Militärbehörden und alle diejenigen, welche ein menschliches Herz im Busen tragen, die dringende Aufforderung, alle und auch nur die entferntesten Spuren, Anzeigen und Verdachtsgründe, welche auf die Entdeckung des Verbrechens führen könnten, der unterzeichneten Polizeibehörde mitzutheilen, und diese dadurch in den Stand zu setzen, die Verhandlungen dem treffenden Gericht zur weitern Einschreitung übergeben zu können. – Es darf in dieser Hinsicht kaum erinnert werden, daß die Nachforschungen sich neben der Ausmittlung des Kerkers, oder wenigstens der wahrscheinlich stillen, einsamen Gegend, wo er liegt oder gelegen war – denn der Bösewicht, der Hauser darin gefangen hielt, möchte jenen vielleicht gleich nach der Wegführung unseres Findlings der Erde gleich gemacht und jede Spur davon vertilgt haben – auch auf die Ausmittlung eines Kindes richten müssen, welches in einem Alter von 2 bis 4 Jahren vor 14 bis 18 Jahren vermißt worden ist, und über dessen Verschwinden vielleicht bedenkliche Gerüchte in Umlauf gekommen sind.

Jede Mittheilung, jeder Wink wird dankbar benützt, und wenn sich der Angeber genannt hat, dessen Namen möglichst verschwiegen, auch nach Umständen derselbe reich belohnt werden.

Anonyme Anzeigen dagegen können nicht berücksichtiget werden.

 

Nürnberg, den 7. Juli 1828.

 

Der erste Bürgermeister:

 

Binder.