BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Anselm von Feuerbach:

Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens

am Seelenleben des Menschen

 

1832

 

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[1]

I.

 

Der zweite Pfingsttag gehört zu Nürnberg zu den vorzüglichsten Belustigungstagen, an welchen der größte Theil der Einwohner sich auf das Land und in die benachbarten Ortschaften zerstreut. Die, im Verhältniß zu ihrer dermaligen spärlichen Bevölkerung, ohnehin sehr weitläufige Stadt, wird dann, zumal bei schönem Frühlingswetter, so still und menschenleer, daß sie beinahe weit eher jener verzauberten Stadt in der Sahara, als einer rührigen Gewerbs- und Handelsstadt zu vergleichen wäre. Besonders in einigen von ihrem Mittelpunkte entfernteren Theilen kann dann leicht manches Geheime öffentlich geschehen, ohne darum aufzuhören geheim zu sein.

So ereignete sich denn am zweiten Pfingsttage (26. Mai) 1828 Abends zwischen 4 und 5 Uhr Folgendes:

Ein Bürger, wohnhaft auf dem sogenannten Unschlittplatze (in der Nähe des wenig besuchten Hallerthörchens) weilte noch vor seinem Hause, [2] um von da vor das sogenannte neue Thor zu gehen, als er, sich umsehend, nicht weit von sich einen als Bauernbursche gekleideten jungen Menschen gewahr wurde, welcher in höchst auffallender Haltung des Körpers da stand, und, einem Betrunkenen ähnlich, sich vorwärts zu bewegen mühte, ohne gehörig aufrecht stehen und seine Füße regieren zu können. Der erwähnte Bürger nahte sich dem Fremdling, der einen Brief ihm entgegen hielt, mit der Aufschrift:

 

„An Titl. Hrn. Wohlgebohrner

Rittmeister bei 4ten Esgataron

bei 6ten Schwolische Regiment

Nürnberg.“

 

 

Da der bezeichnete Rittmeister in der Nähe des neuen Thors wohnte, so nahm jener Bürger den fremden Burschen dahin mit sich an die Wache, von wo er zu der ganz nahe liegenden Wohnung des damals die 4te Escadron des bezeichneten Regiments befehligenden Rittmeisters von W. gelangte 1).

[3] Dem die Hausthür öffnenden Bedienten des von W. trat er, den Hut auf dem Kopf, seinen Brief in der Hand haltend, mit den Worten entgegen: „ä sechtene möcht ih wähn, wie mei [4] Vottä wähn is.“ Der Bediente fragte ihn: was er wolle? wer er sei? woher er komme? Aber der Fremde schien von allen Fragen keine zu verstehen, und es erfolgten immer nur die Worte: „ä sechtene möcht ih wähn, wie mei Vottä wähn is,“ oder „woas nit!“ Er war, wie der Bediente des Rittmeisters in seinem Verhör als Zeuge aussagt, so ermattet, daß er nicht sowohl ging als „herumschweifte.“ Weinend, mit dem Ausdruck heftigen Schmerzes, deutete er auf seine unter ihm brechende Füße, und schien an Hunger und Durst zu leiden. Man reichte ihm ein Stückchen Fleisch; doch kaum hatte der erste Bissen seinen Mund berührt, als er ihn, sich schüttelnd, unter heftigen Zuckungen seiner Gesichtsmuskeln, mit sichtbarem Entsetzen wieder von sich spie. Dieselben Zeichen des Abscheus, als man ihm ein Glas Bier gebracht und er davon einige Tropfen gekostet hatte. Ein Stück schwarzen Brodes und ein Glas frischen Wassers verschlang er mit heißer Begier und äußerstem Wohlbehagen. Was man unterdessen mit ihm noch versuchte, um über seine Person und sein Hieherkommen etwas zu erfahren, war vergebliche Mühe. Er schien zu hören, ohne zu verstehen, zu sehen, ohne etwas zu bemerken, sich mit den Füßen zu bewegen, ohne sie zum Gehen gebrauchen zu können. Seine Sprache [5] waren meistens Thränen, Schmerzenslaute, unver­ständliche Töne oder die häufig wiederkehrenden Worte: „Reutä wähn, wie mei Vottä wähn is.“ Im Hause des Rittmeisters hielt man ihn bald nur für einen wilden Menschen, und führte ihn, bis zur Heimkunft des Hausherrn, in den Pferdestall, wo er sogleich auf dem Stroh sich ausstreckte und in tiefen Schlaf versank. –

Er hatte schon mehre Stunden fortgeschlafen, als der Rittmeister nach Hause kam und sogleich in seinen Pferdestall ging, um den wilden Menschen zu sehen, von dem seine Kinder ihm, beim Willkommen, so viel Seltsames erzählt hatten. Noch lag dieser im tiefsten Schlaf. Man suchte ihn zu erwecken, man rüttelte, schüttelte, stieß ihn; aber vergebens. Man riß ihn vom Boden auf und suchte ihn auf die Füße zu stellen; aber er schlief fort, ähnlich einem Scheintodten, der nur noch durch seine Lebenswärme von dem wirklich Todten sich unterscheidet. Endlich, nach vielen, dem Schlafenden fühlbaren Mühen, schlug er die Augen auf, ermunterte sich, sah den Rittmeister in seiner bunten glänzenden Uniform, die er, wie es schien, mit kindischem Wohlgefallen betrachtete, und stöhnte dann sein: Reutä etc etc.

Herr von W. kannte den fremden Burschen eben so wenig, als er dem ihm mitgebrachten [6] Brief irgend eine auf ihn bezügliche Deutung zu geben wußte. Da nun auch mit Fragen nichts aus ihm herauszubringen war, als: „Reutä wähn“ etc..etc. oder „woas nit:“ so blieb nichts anders übrig, als die Lösung des Räthsels, so wie die Sorge für die Person des fremden Unbekannten der städtischen Polizei zu überlassen. Somit wurde derselbe dahin abgeführt. „Was ich,“ sagte Herr von W. in seiner spätern gerichtlichen Vernehmung, „bezüglich der geistigen Bildung dieses Menschen wahrzunehmen im Stande war, so verrieth er den Zustand gänzlicher Verwahrlosung oder einer Kindheit, die mit seiner Größe contrastirte.“

Gegen 8 Uhr Abends war der Weg zur Polizei – für seinen Zustand, ein Marterweg – zurückgelegt. In der Wachtstube befanden sich, ausser einigen Unterbeamten, mehre Polizeisoldaten. Allen hier Anwesenden fiel der fremde Bursche ebenfalls als eine seltsame Erscheinung auf, bei der man nicht sogleich mit sich einig werden konnte, unter welche der gangbaren Polizei-Rubriken sie zu stellen sein möchte. Die an ihn gerichteten polizeilichen Amtsfragen: wie heißt er? weß Standes und Gewerbs? woher kommt er? warum ist er hier? wo ist sein Reisepaß? und dergl. wollten durchaus nicht an ihm verfangen. „Ä Reutä wähn, wie mei Votä wähn is,“ oder: „woas [7] nit“ oder, was er ebenfalls in weinerlichem Ton öfters wiederholte: „hoam weissa!“ waren die einzigen Worte, die er bei den verschiedensten Veranlassungen vorbrachte 2).

Wo er sei, schien er nicht zu wissen oder zu ahnen. Er verrieth weder Furcht, noch Befremden, noch Verlegenheit, vielmehr eine fast thierische Stumpfheit, welche die Aussendinge entweder gar nicht bemerkt, oder gedankenlos anstarrt und an sich vorübergehen läßt, ohne von ihnen berührt zu werden. Seine Thränen, sein Wimmern, wobei er immer auf seine wankenden Füße deutete, sein unbeholfenes und dabei kindlich kindisches Wesen gewannen ihm bald das Mitgefühl der Anwesenden. Ein Soldat brachte ihm ein Stück Fleisch und ein Glas Bier; aber, wie im W**schen Hause, wieß er beides mit Grauen von sich, und aß nur Brod zu frischem Wasser. Ein anderer gab ihm eine Münze; er zeigte darüber die Freude eines kleinen Kindes, spielte damit und schien, indem er mehrmals: Roß! Roß! sagte und mit der Hand [8] gewisse Bewegungen machte, das Verlangen auszudrücken, diese Münze einem „Roße“ anzuhängen. Sein ganzes Wesen und Benehmen zeigte an ihm ein kaum zwei- bis dreijähriges Kind in einem Jünglingskörper. Die meisten dieser Polizei-Männer waren nur darüber getheilt, ob man ihn für einen Blöd- oder Wahnsinnigen oder für einen Halbwilden halten solle. Der eine und andere meinte jedoch: es wäre wohl möglich, daß in diesem Buben ein feiner Betrüger stecke, eine Meinung, welche durch folgenden Umstand einen nicht geringen Schein für sich gewann. Man kam auf den Einfall, zu versuchen, ob er vielleicht schreiben könne, gab ihm eine Feder mit Tinte, legte einen Bogen Papier vor ihm hin und forderte ihn auf, zu schreiben. Er schien darüber Freude zu bezeigen, nahm die Feder nichts weniger als ungeschickt zwischen seine Finger und schrieb, zu aller Anwesenden Erstaunen, in festen, leserlichen Zügen, den Namen:

Kaspar Hauser.

Er wurde jetzt weiter aufgefordert, auch den Namen des Ortes beizusetzen, von welchem er herkomme. Aber er that hierauf nichts weiter, als daß er wieder sein: „Reutä wähn“ etc. etc. sein: „hoam weissä,“ sein: „woas nit“ hervorstöhnte. [9]

Da vor der Hand nichts weiter mit ihm anzufangen war, überließ man das Uebrige der Zeit und übergab ihn einem Polizeidiener, der ihn auf den, für Polizeisträflinge, Vagabunden etc. etc. bestimmten Thurm des Vestner Thors brachte. Auf diesem verhältnißmäßig kurzen Weg, sank er fast bei jedem Schritt – wenn sein Tappen ein Schreiten genannt werden konnte – ächzend zusammen. In dem Arreststübchen angekom­men – wo er einen andern Polizeigefangenen zum Gesellschafter hatte – verfiel er auf seinem Strohsack sogleich in den tiefsten Schlaf.

 

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1) Ueber die näheren Umstände, wie Kaspar mit dem erwähnten Bürger vom Unschlittplatze bis zur Wache und von da bis zur Wohnung des Rittmeisters von W. gekommen, sind die Acten theils so lückenhaft und unbefriedigend, theils, bezüglich angegebener Umstände, so sehr den Zweifeln historischer Kritik unterworfen, daß ich mich in obiger Erzählung sehr kurz fassen zu dürfen glaubte. So gibt z. B. jener Bürger an: nachdem er unterwegs mit K. ein Gespräch anzuknüpfen gesucht und ihn über manches befragt, habe er endlich bemerkt, daß K. von allem nichts wisse und gar keinen Begriff habe, weshalb er dann nichts mehr zu ihm gesprochen. Hiernach zeigte sich ihm also K. eben so, wie noch denselben Abend bei dem Herrn Rittmeister von W. und später auf der Wachtstube, dann an den folgenden Tagen und Wochen. Gleichwohl erzählt zugleich jener Bürger: K. habe auf die Frage, woher er komme? geantwortet: „von Regensburg.“ Ferner: als er mit K. zum neuen Thor gekommen, habe dieser gesagt: „Dös is gwiß erst baut worn, weil mer's neu Thor heißt“ u. s. w. – Daß Zeuge dieses und dergleichen gehört zu haben glaubt, ist mir eben so wenig zweifelhaft, als dies: daß es K. nicht gesagt hat. Alles Folgende gibt dafür den unumstößlichsten Beweis. Aus der stehenden Redensart Kaspars: „ Reutä wähn, wie mein Vottä wähn is“ konnte sein Führer, der diesem Simpel, wofür er ihn hielt, gewiß nur halbe Ohren lieh, gar wohl jene Worte herauszuhören glauben. – Ueberhaupt aber sind die in dieser Sache erwachsenen Polizei-Acten auf eine solche Weise geführt, enthalten so viele Widersprüche, nehmen vieles gar so leicht, sind in einigen ihrer wesentlichsten Bestandtheile ein so arger Anachronismus, daß sie als Geschichtsquelle nur mit großer Vorsicht benutzt werden können. 

2) Mit diesen Redensarten, namentlich dem: Reutä wähn etc. verband er, wie sich späterhin ergab, keinen besonderen Sinn; es waren nichts als papageienmäßig eingelernte Töne, die er als gemeinsame Ausdrücke für alle seine Vorstellungen, Empfindungen und Begehrungen gebrauchte.