BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Anselm von Feuerbach:

Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens

am Seelenleben des Menschen

 

1832

 

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[87]

VI.

 

Brachte der fast ununterbrochene Umgang mit den Vielen, die sich den ganzen Tag über zu Kaspar hindrängten, den nicht zu verkennenden Gewinn, daß er auf kurzem Weg mit vielerlei Dingen und Worten bekannt wurde, und bald im Verstehen und Sprechen verhältnißmäßig Fortschritte machte: so war doch offenbar das Allerlei von Menschen, deren Massen Kaspar Hauser Preis gegeben war, nicht wohl geeignet, eine naturgemäße Entwicklung dieses verwahrlosten Jünglings zu fördern. Wohl mochte keine Stunde des Tags vergehen, die ihm nicht von dieser oder jener Seite her etwas Neues zugeführt hätte. Was ihm aber auf diese Weise zukam, konnte doch nicht zum kleinsten Ganzen sich gestalten; alles zusammengenommen häufte sich nur als ein ungeordnetes, zerstreutes, buntes Allerlei von Hundert und Tausend Halb- und Viertels-Vorstellungen und Gedanken-Bruchstücken auf- und nebeneinander. Wurde so die leere Tafel [88] seiner Seele bald genug beschrieben, so wurde sie doch auch zugleich nur zu bald mit, zum Theil sogar nichtswürdigen, Dingen überfüllt, entstellt und verwirrt. Der ungewohnte Eindruck des Lichts und der freien Luft; das befremdende, meistens auch schmerzerregende Mancherlei, welches unaufhörlich, zu gleicher Zeit, auf alle seine Sinne einströmte; die Kraftanstrengung, womit seine wissensdurstige Seele sich aus sich selbst gleichsam herauszuarbeiten strebte, alles Neue, was sich ihr bot, – Alles aber war ihr neu – zu erfassen, zu umklammern und heishungrig gleichsam in sich hineinzuschlingen sich abarbeitete: dieses alles war mehr als ein schwächlicher Körper und ein zartes, beständig gereiztes und überreiztes Nervensystem ertragen konnte. Ich brachte von meinem Besuch bei Kaspar am 11. Iuli die Ueberzeugung mit mir zurück, welche ich auch am gehörigen Ort geltend zu machen suchte, daß Kaspar Hauser entweder an einem Nervenfieber sterben, oder in Wahnsinn oder Blödsinn untergehen müsse, wenn nicht bald seine Lage geändert werde. Nach wenigen Tagen gingen meine Besorgnisse zum großen Theil in Erfüllung. Kaspar wurde krank, wenigstens so kränklich, daß eine gefährliche Krankheit zu befürchten stand. Sein Arzt, Dr. Osterhausen, äußert sich in seinem deshalb dem Stadtmagistrat [89] erstatteten berichtlichen Gutachten über Hausers damaligen Gesundheitszustand, wie folgt:

„Die mannichfaltigen Eindrücke, welche den, bisher in einem Kerker lebendig begrabenen, von aller Welt abgeschiedenen, sich selbst überlassenen Kaspar Hauser ringsum bestürmten, als er mit einem Male in die Welt und unter die Menschen hineingeworfen wurde, und welche nicht einzeln, sondern in Masse auf ihn einwirkten, die verschiedenartigsten Eindrücke der freien Luft, des Lichts, der ihn umgebenden Gegenstände, die ihm alle neu waren, dann das Erwachen seines geistigen Ichs, seine aufgeregte Lern- und Wißbegierde, seine veränderte Lebensweise u. s. w., alle diese Eindrücke mußten ihn nothwendig gewaltsam erschüttern und endlich, zumal bei seinem so sehr empfindlichen Nervensystem, seiner Gesundheit nachtheilig werden. – Ich fand ihn, als ich ihn wieder sah, ganz verändert. Er war traurig, sehr niedergeschlagen und ermattet. Die Reizbarkeit seiner Nerven war krankhaft erhöht. Seine Gesichtsmuskeln zuckten beständig. Seine Hände zitterten so sehr, daß er kaum etwas halten konnte. Seine Augen waren entzündet, konnten das Licht nicht vertragen und schmerzten ihn bedeutend, wenn er lesen oder einen Gegenstand aufmerksam betrachten wollte. Sein Gehör [90] war so empfindlich, daß schon jedes laute Sprechen ihm heftige Schmerzen verursachte und er daher die Musik, die er so leidenschaftlich liebte, nicht mehr hören konnte. Er hatte Mangel an Eßlust, mangelhaften, erschwerten Stuhlgang, klagte über Beschwerden im Unterleibe und fühlte sich durchaus unbehaglich. – Ich war nicht wenig wegen seines Zustandes besorgt, da es nicht möglich war, ihm mit Arzneien beizukommen; theils weil er einen unbezwingbaren Abscheu vor Allem, Wasser und Brod ausgenommen, hatte, theils weil, wenn er auch welche hätte nehmen können, zu befürchten war, es möchte selbst das indifferenteste Mittel zu heftig auf seine so sehr gereizten Nerven einwirken u. s. w.“

Kaspar Hauser wurde am 18. Juli aus seiner Wohnung auf dem Thurm erlöst und dem an Geist und Herz gleich vorzüglichen Gymnasial-Professor, Herrn Daumer, der sich bisher schon der Unterweisung und Bildung dieses Menschen väterlich angenommen hatte, zur Erziehung und häuslichen Pflege übergeben. Er fand in der Familie dieses Mannes – einer würdigen Mutter und der Schwester seines Erziehers – gewissermaßen den Ersatz für diejenigen Wesen, die ihm die Natur gegeben und Menschenbosheit genommen hatte. [91]

Auf den großen Andrang der Neugierigen, denen Kaspar Hauser bisher im Thurm Preis gegeben war, mag man aus dem einzigen Umstand den Schluß ziehen, daß der Magistrat zu Nürnberg, sobald Kaspar dem Professor Daumer übergeben war, sich veranlaßt sah, am 19. Iuli in öffentlichen Blättern folgendes Publicandum zu erlassen:

„Vom Magistrat der Stadt Nürnberg ist der heimathlose Kaspar Hauser zur gehörigen Entwickelung seiner körperlichen und geistigen Kräfte einem besondern, hiezu geeigneten Lehrer übergeben worden. Damit aber beide hierin keine Störung erleiden, und dem Kaspar Hauser die ihm in jeder Beziehung höchst nöthige Ruhe zu Theil und erhalten werde, ist der Erzieher angewiesen worden, keine Besuche bei Hauser mehr zuzulassen, und das gesammte Publicum wird daher hiermit ebenfalls angewiesen, sich derselben gänzlich zu enthalten, und sich dadurch der Wegweisung zu überheben, welche im Falle der Zudringlichkeit mit polizeilicher Hülfe erfolgen müßte“  1) [92]

Kaspar Hauser bekam zuerst bei Professor Daumer, statt seines Strohlagers auf dem Thurm, zur Schlafstätte ein ordentliches Bett, was ihm ganz ausserordentlich behagte. Oefters äußerte er: das Bett sei das einzige Angenehme, das ihm noch auf dieser Welt vorgekommen; alles übrige sei gar schlecht. – Erst seit er in einem Bette schlief, hatte er Träume, die er aber Anfangs nicht für Träume erkannte, sondern beim Erwachen seinem Lehrer als wirkliche Begegnisse erzählte, indem er zwischen Wachen und Träumen erst später einen Unterschied zu machen lernte  2).

Eine der schwersten Aufgaben war es, ihn an ordentliche Kost zu gewöhnen, was nur langsam [93] und mit vieler Mühe und Vorsicht gelang 3). Am frühesten verstand er sich zur Wassersuppe, die ihm täglich mehr behagte, weshalb er meinte, sie werde täglich besser zubereitet, und zuweilen fragte: warum man sie ihm denn nicht gleich Anfangs so gut gemacht habe? Auch Mehlspeisen, Hülsenfrüchte und was sonst mit dem Brod Aehnlichkeit hat, sagte ihm zu. Indem man ihm erst einzelne Tropfen Fleischbrühe unter seine Wassersuppe mischte, dann wenige, stark ausgekochte Fleischfasern ihn zu seinem Brode essen ließ, und diese Gaben mit Vorsicht nach und nach steigerte, gewöhnte man ihn allmählig an Fleischspeisen. Prof. Daumer macht in seinen über Kaspar H. gesammelten Notizen die Bemerkung: „nachdem dieser zuletzt ordentlich Fleisch essen gelernt, habe sich seine geistige Regsamkeit vermindert, die Augen hätten ihren Glanz und Ausdruck eingebüßt, sein lebendiger Trieb nach Thätigkeit habe nachgelassen, und das Intensive seines Wesens sei in Zerstreuungssucht 3) [94] und Gleichgültigkeit übergegangen; auch habe seine Fassungskraft bedeutend abgenommen.“ Ob dieses gerade Folge der Fleischspeisen, oder nicht vielmehr Folge der nun in Abstumpfung übergehenden schmerzhaften Ueberreitzung gewesen? bleibt wohl mit Recht unentschieden. Mit mehr Zuverlässigkeit ist hingegen anzunehmen, daß der Genuß warmer Kost und einiger Fleischspeisen auf sein Wachsthum bedeutenden Einfluß haben mußte; im Daumerschen Hause wurde er in wenigen Wochen um mehr als zwei Zolle größer.

Da seine entzündeten Augen und sein mit jeder Anstrengung des Gesichts verbundenes Kopfweh ihm das Lesen, Schreiben, Zeichnen, unmöglich machten, beschäftigte ihn Hr. Daumer mit Papparbeiten, worin er sehr bald nicht geringe Geschicklichkeit erlangte; auch lehrte er ihn das Schachspiel, das er ebenfalls bald erlernte, und mit Vergnügen übte. Ausserdem beschäftigte man ihn mit leichten Gartenarbeiten und machte ihn mit den verschiedenen Erzeugnissen, Erscheinungen und Kräften der Natur bekannt, wo dann kein Tag verging, der ihn nicht unzählig Neues gelehrt oder ihm Gegenstände des Befremdens, der Bewunderung, des Erstaunens zugeführt hätte.

Nicht geringe Mühe und häufige Zurechtweisungen kostete es, ihm den Unterschied zwischen [95] dem Organischen und Unorganischen, dem Lebenden und Todten, so wie zwischen freiwilliger und von aussen mitgetheilter Bewegung begreiflich und geläufig zu machen. Vieles was eine Menschen- oder Thiergestalt hatte, mochte es aus Stein gehauen, aus Holz geschnitzt oder gemahlt sein, hielt er noch immer für beseelt und mit allen den Eigenschaften begabt, die er an sich selbst oder andern beseelten Wesen wahrnahm. Bei den an den Häusern der Stadt gemahlten oder ausgehauenen Pferden, Einhörnern, Straußen etc. kam es ihm sehr verwunderlich vor, daß sie immer an einer Stelle blieben, und nicht davon liefen. – Gegen eine Statue in dem Hausgarten äusserte er seinen Unwillen, daß sie so schmutzig aussehe und sich doch nicht wasche. – Als er zum erstenmal das große Cruzifix des Veit Stoß an der Aussenseite der Sebalduskirche sah, erregte ihm dieser Anblick Entsetzen und Jammer; er bat flehentlich, man möge den gequälten Menschen da droben herunternehmen, und wollte sich lange nicht zufrieden geben, obgleich man ihm zu erklären versucht hatte, daß dieses kein wirklicher Mensch, sondern nur ein Bild sei und nichts empfinde. – Jede Bewegung, die er an was immer für einem Gegenstande wahrnahm, hielt er für freiwillig und das Ding, woran sie sich äusserte, für belebt. [96] Ein Blatt Papier, das der Wind herabwehte, war vom Tisch hinweggelaufen; ein von einer Anhöhe herabrollendes Kinderwägelchen, machte sich das Vergnügen, sich selbst von der Höhe herabzufahren. Der Baum bekundete ihm Leben, indem er seine Zweige und Blätter bewegte, und sprach, wenn der Wind durch seine Blätter rauschte. – Einem Knaben, der mit einem Stecken auf den Stamm eines Baumes schlug, bezeigte er seinen Unwillen darüber, daß er dem Baum so wehe thue. – Die Kugeln einer Kegelbahn liefen, nach seinen Aeußerungen zu schließen, freiwillig, thaten andern Kugeln wehe, und waren, wenn sie endlich still standen, vom Laufe müde. Prof. Daumer bemühte sich eine Weile vergebens, ihm die Ueberzeugung beizubringen, daß eine Kugel sich nicht freiwillig bewege. Es gelang ihm dieses erst dadurch, daß er Kasparn selbst aus seinem Brod eine Kugel formen, und ihn dieselbe dann vor sich herrollen ließ. – Daß ein Brummkreisel, den er schon eine Weile hatte tanzen lassen, nicht freiwillig sich bewege, wurde ihm erst klar, als ihm, vom öftern Aufziehen der Schnur, der Arm wehe that und er sich dadurch seiner eignen Kraft, die er bei jener Kreiselbewegung verwendet hatte, fühlbar bewußt wurde. [97]

Vollends den Thieren legte er längere Zeit dieselben Eigenschaften, wie den Menschen bei und schien sie von diesen nur durch ihre Gestalt zu unterscheiden. Er ärgerte sich darüber, daß die Katze blos mit dem Mund esse, ohne dabei ihre Hände zu gebrauchen. Er wollte sie dann das Essen mit den Pfoten lehren, versuchte sie aufrecht gehen zu machen, sprach mit ihr wie mit seines Gleichen und bezeigte Unwillen, daß sie gar nicht darauf achte und nichts lernen wolle. Dagegen lobte er gar sehr die Folgsamkeit eines Hundes. – Als er eine graue Katze sah, fragte er, warum sie sich nicht wasche, damit sie weiß werde. – Da er Ochsen auf dem Strassenpflaster gelagert sah, verwunderte er sich, daß sie nicht nach Hause gingen und sich da niederlegten. – Ganz zuwider war es ihm, daß die Pferde, Ochsen u.s.w. die Straße verunreinigten, und nicht, wie er, auf den Abtritt gingen. Sagte man ihm, bei diesem oder jenem was er von den Thieren verlangte, sie könnten dieses nicht, so war er gleich mit der Antwort bei der Hand: sie möchten es dann nur lernen; er habe ja auch schon vieles gelernt, und müsse noch immer vieles lernen.

Vom Entstehen und Wachsen des Organischen in der Natur hatte er Anfangs noch weniger [98] eine Vorstellung. Er äusserte sich immer so, als wären alle Bäume in den Boden hineingesteckt, alle Blätter, Blumen und Blüthen von Menschen-Händen gemacht und daran gehängt. Den ersten Stoff zu einer Vorstellung vom Entstehen der Pflanzen gewann er, nachdem er, auf Geheiß seines Lehrers, mit eigener Hand einige Bohnen in einen Blumentopf gesteckt hatte, und er diese nun, gleichsam unter seinen Augen, keimen und Blätter treiben gesehen hatte.– Ueberhaupt pflegte er fast bei jedem, ihm neuen und auffallenden Naturgegenstande zu fragen: wer dieses Ding gemacht habe?

Für die Schönheiten der Natur hatte er fast gar keinen Sinn. Die Natur schien ihn nur in so weit anzusprechen, als sie seine Neugier beschäftigte und ihm zu der Frage Anlaß gab: wer dieses oder jenes Ding gemacht habe?– Als er zum erstenmal einen Regenbogen sah, bezeigte er zwar daran in den ersten Augenblicken sein Wohlgefallen, wendete sich aber doch kurz darauf wieder von diesem Anblick ab, indem die Frage: wer dieses Ding gemacht habe? ihm weit mehr, als die Herrlichkeit der Erscheinung selbst am Herzen lag.

Ein Anblick machte jedoch hievon eine merkwürdige Ausnahme und wurde ein großes ihm [99] unvergeßliches Ereigniß seines mehr und mehr sich entfaltenden geistigen Lebens. Es war im Monat August (1829), als ihm an einem schönen heitern Sommerabend sein Lehrer zum erstenmal den gestirnten Himmel zeigte. Sein Erstaunen und Entzücken überstieg jede mögliche Schilderung. Er konnte sich nicht satt daran sehen, kehrte immer wieder zu diesem Anblick zurück, faßte dabei die verschiedenen Sterngruppen richtig ins Auge, und bemerkte die ausgezeichneten hellen Sterne mit ihren verschiedenen Farben. „Das“, rief er aus, „das ist aber doch das Schönste, was ich noch auf der Welt gesehen habe. Wer aber hat die vielen schönen Lichter da hinaufgestellt? wer zündet sie an? wer löscht sie wieder aus?“ Als man ihm sagte, daß sie, wie die Sonne, die er schon kenne, immer fortleuchteten, aber nicht immer gesehen würden, fragte er von neuem: wer sie denn da oben hinauf gesetzt habe, daß sie immer fortbrennten? Endlich verfiel er, indem er, gesenkten Kopfes, unbeweglich, mit starren Augen da stand, in tiefes ernstes Nachdenken. Als er wieder zu sich kam, war sein Entzücken in Schwermuth übergegangen. Er ließ sich zitternd auf einen Stuhl nieder und fragte: warum jener böse Mann ihn doch nur immer eingesperrt gehalten und von allen diesen schönen Sachen [100] ihm gar nichts gezeigt habe? er (Kaspar) habe doch nichts böses gethan. Er brach hierauf in ein langes, schwer zu stillendes Weinen aus, und sagte: man möge nun auch einmal den Mann, bei dem er immer gewesen, auf ein Paar Tage einsperren, damit er wisse, wie hart dieses sei. Vor diesem großen Himmelsschauspiele hatte Kaspar noch nie Unwillen gegen jenen Mann geäussert, noch weniger von einer Bestrafung desselben etwas wissen wollen. Nur die Müdigkeit und der Schlummer vermochten seine Empfindungen zur Ruhe zu bringen; er schlief – was vorher noch nie geschehen war– erst gegen 11 Uhr ein.

Ueberhaupt begann er erst in Daumers Familie, wie es schien, über sein Schicksal nachzudenken und was dieses ihm vorenthalten und genommen, mehr und mehr zu erkennen und schmerzlich zu empfinden. Erst hier wurde ihm die Vorstellung von Familie, von Verwandtschaft und Freundschaft, von dem menschlichen Verhältniß zwischen Aeltern, Kindern und Geschwistern nahe gebracht; erst hier erhielten die Namen: Mutter, Schwester, Bruder, für ihn eine Bedeutung, indem Er sah, wie Mutter, Schwester, Bruder, durch gegenseitige Liebe verbunden, für einander sorgten und sich wechselseitig zu Gefallen [101] lebten. Er wollte erklärt haben: was denn eigentlich Mutter sei? was Bruder? was Schwester? Man suchte ihn so gut als möglich durch eine schickliche Antwort zu befriedigen. Bald darauf fand man ihn auf seinem Stuhle sitzend mit Thränen in den Augen, und wie es schien, in tiefe Betrachtungen versunken. Als er gefragt wurde: was er denn wieder habe? antwortete er weinend: „er habe darüber nachgedacht, warum denn Er nicht auch eine Mutter, einen Bruder und eine Schwester habe? denn dies sei doch gar zu schön.“

Da seine hohe Reizbarkeit zu dieser Zeit das Ausruhen von jeder geistigen Anstrengung gebot, und vor allem die Kräfte seines schwächlichen Körpers der Uebung und Stärkung bedurften; so schien, nebst andern körperlichen Beschäftigungen, besonders auch das Reiten seiner Gesundheit förderlich werden zu können, zumal er hiezu besondere Lust bezeigte. Wie früher die hölzernen Rosse, waren schon längst die lebenden seine Lieblinge geworden. Unter allen Thieren war ihm das Pferd das schönste Geschöpf, und wenn er einen Reiter sein Roß tummeln sah, quoll seine Brust von dem Wunsche über: wenn er doch auch einmal so ein Roß unter sich haben könnte! Der Stallmeister zu Nürnberg, Herr von Rumpler, hatte [102] bald die Gefälligkeit, diese Sehnsucht zu stillen; er nahm unsern Kaspar unter seine Schüler auf. Kaspar, mit der gespanntesten Aufmerksamkeit alles beobachtend, was ihm und andern Scholaren von dem Lehrer gezeigt und vorgemacht wurde, hatte sich schon in der ersten Stunde die Hauptregeln und Elemente der Reitkunst nicht blos gemerkt, sondern auch, nach den ersten Versuchen, sogleich angeeignet; und in wenigen Tagen war er bereits so weit, daß Scholaren, junge und alte, die schon mehre Monate lang Unterricht genossen hatten, in ihm ihren Meister erkennen mußten. Seine Haltung, sein Muth, die richtige Führung des Pferdes, setzten Jedermann in Erstaunen, und er traute sich zu, was, ausser ihm und seinem Lehrer, Niemand zu unternehmen wagte. Als einst der Stallmeister auf der Reitbahn ein eigenwilliges türkisches Roß umhergetummelt hatte, schreckte ihn dieser Anblick so wenig, daß er dieses Pferd sich selbst zum Reiten ausbat. – Nachdem er sich einige Zeit lang geübt hatte, wurde ihm die Reitschule zu eng; er verlangte mit seinem Roß ins Freie und hier bewies er dann, nebst Geschicklichkeit, eine so unermüdliche Ausdauer, Härte und Zähigkeit des Körpers, daß es ihm die Geübtesten hierin kaum gleich thun konnten? Am liebsten hatte er muthige und harttrabende [103] Pferde. Er ritt oft viele Stunden lang ununterbrochen, ohne müde zu werden, ohne sich wund zu reiten, oder nur in den Schenkeln oder im Gesäß Schmerzen zu empfinden. An einem Nachmittag ritt er, fast beständig in vollem Trab, von Nürnberg auf die sogenannte alte Veste und von da wieder zurück; und dieser Schwächling, der um dieselbe Zeit von einigen Gängen in der Stadt so müde geworden war, daß er sich um ein Paar Stunden früher als gewöhnlich erschöpft zu Bett legen mußte, kam von jenem gewaltigen Ritt wieder so frisch und kräftig nach Haus, als wenn er im Schritt nur von einem Thor der Stadt zum andern geritten wäre. Er scherzte zuweilen über die Unempfindlichkeit seines Gesäßes, indem er sagte: wäre alles an mir so gut, wie mein Hintertheil, so stünde es sehr gut mit mir. Daß das vieljährige Sitzen auf hartem Boden an dieser Unempfindlichkeit seines Hintertheils den meisten Antheil habe, wie Professor Daumer vermuthet, ist allerdings nicht unwahrscheinlich. Man könnte jedoch überdies, aus der Pferdelust Hausers und seiner gleichsam instinktmäßigen Reitergeschicklichkeit, den nicht ganz unhaltbaren Schluß ziehen: er möge von Geburt einer Reiternation angehören. Denn daß ursprünglich nur durch Kunst erworbene Fertigkeiten, mehre Generationen hindurch [104] fortgesetzt, zuletzt sich als habituelle Neigung und besonders ausgezeichnete Anlage fortpflanzen können, ist nicht unbekannt, wofür die Schwimmfertigkeit der Südsee-Insulaner, die Scharfsichtigkeit der Jägernationen Amerika's u. s. w. als Beispiele dienen. Wenn ein gewisser feinriechender Polizeimann  4) durch das auffallende Reitertalent Kaspars zu der Ver­muthung verleitet wurde: Kaspar sei vielleicht ein junger englischer Reiter, der seiner Bande entlaufen, um auf eigne Rechnung mit den gutmüthigen Nürnbergern Komödie zu spielen, so wird nicht leicht Jemand dem Erfinder die Ehre seiner Hypothese streitig machen wollen.

Was, nächst dem seltenen Reitertalent Hausers, während seines Aufenthalts bei Prof. Daumer, als Eigenthümlichkeit sich besonders bemerklich machte, war die fast übernatürliche Beschaffenheit, Schärfe und Erhöhung aller seiner Sinne.

Was das Sehen betrifft, so gab es für ihn keine Dämmerung, keine Nacht, keine Finsterniß. Man wurde hierauf zuerst aufmerksam, als man bemerkte, daß er bei Nacht überall hin mit der größten Sicherheit vorwärts schreite, und daß er, so oft er an einen dunklen Ort ging, das ihm angebotene Licht ausschlug. Mit Verwunderung [105] oder Lachen sah er öfters den Leuten zu, die an dunkeln Orten z. B. Nachts beim Eintritt in das Haus und beim Treppensteigen, durch Tappen und Anhalten sich zu helfen suchten. Im Dämmerlicht sah er sogar bei weitem besser als am hellen Tage. So las er, nach Untergang der Sonne, auf der Straße eine Hausnummer, die er bei Tage wenigstens in solcher Ferne nicht würde erkannt haben, auf ungefähr 180 Schritte weit. Bei tiefer Dämmerung machte er einst seinen Lehrer auf eine Mücke aufmerksam, die in einem sehr entfernten Spinnegewebe hing. In einer Entfernung von gewiß 60 Schritten unterschied er die Beeren der Trauben von den Hollunderbeeren, und diese von Schwarzbeeren. Bei völliger Nacht unterschied er, nach sorgfältig mit ihm angestellten Versuchen, die Farben, selbst verschiedene dunkle Farben, wie die blaue und grüne. Wenn, bei einbrechender Dämmerung, ein gewöhnliches weitsichtiges Auge nur erst drei oder vier Sterne am Himmel sah, erkannte er bereits die Sterngruppen und wußte die einzelnen Sterne darin, nach ihrer Größe und eigenthümlichem Farbenspiel zu unterscheiden. Vom Nürnberger Schloßzwinger aus zählte er eine Reihe Fenster des Schlosses Marloffstein, und von der Burg aus die Fensterreihe eines unterhalb der Festung Rothenberg liegenden [106] Hauses. Sein Auge war eben so scharf in der Nähe, als weittragend in die Ferne. Bei Zergliederung von Blumen bemerkte er feine Unterschiede und zarte Theile, welche der Beobachtung Andrer ganz entgangen waren.

Fast nicht minder scharf und weitreichend war sein Gehör. In einer verhältnißmäßig sehr großen Entfernung, hörte er bei einem Spaziergang auf dem Feld die Tritte mehrer Wandrer und unterschied diese Tritte nach ihrer Stärke. Einst hatte er Gelegenheit, die damalige Schärfe seines Gehörs mit dem noch feinern eines Blinden zu vergleichen, der jeden, auch noch so leisen Tritt eines Barfüßigen bemerkte. Bei dieser Gelegenheit äusserte er: früher sei sein Gehör eben so scharf gewesen, habe aber, seitdem er Fleisch zu essen angefangen, bedeutend abgenommen, so daß er nicht mehr durchs Gehör so fein unterscheiden könne, wie dieser Blinde.

Unter allen Sinnen war es der Geruch, der sich ihm am zudringlichsten und peinlichsten erwies, und ihm vor allem andern das Leben auf dieser Welt zur Qual machte. Was für uns geruchlos ist, war es nicht für ihn; die feinsten lieblichsten Gerüche der Blumen, z. B. der Rose, waren ihm Gestank oder afficirten schmerzlich seine Nerven. Was uns Andern allenfalls blos in der [107] Nähe durch den Geruch sich ankündigt, roch er in der weitesten Ferne. Mit Ausnahme des Geruchs von Brod, Fenchel, Anis, Kümmel, an die er sich, wie er versichert, schon in seinem Gefängniß gewöhnt hatte, – denn sein Brod war mit diesen Gewürzen bestreut – waren alle Arten von Gerüchen ihm mehr oder weniger widerlich. Als er einst gefragt wurde: welcher Geruch ihm der angenehmste sei? antwortete er: „gar keiner.“ Seine Spaziergänge oder Spazierritte, da sie ihn bald an Blumengärten, bald an Tabaksfeldern, bald an Nußbäumen oder anderen, seinem Geruch empfindlichen, Pflanzen vorbeiführten, wurden ihm dadurch oft gar sehr verleidet, und er mußte dann seine Erholungen in freier Luft mit Kopfweh, Angstschweiß und Fieberanfällen bezahlen. Tabak, der auf dem Feld in der Blüthe stand, roch er auf mehr als 50 Schritte; zum Trocknen aufgehängte Tabaksbündel – wie sie in den Dörfern um Nürnberg an den Häusern hängen – auf mehr als 100 Schritte. Aepfel- Birn- und Zwetschenbäume konnte er schon am Geruch ihrer Blätter aus der Ferne von einander unterscheiden. Die verschiedenen Farbstoffe an den Wänden, Geräthschaften, Kleidern u. s. w., die Pigmente, mit denen er seine Bilder illuminirte, Tinte, Bleistift, womit er schrieb, alles was ihn umgab oder ihm [108] nahte, hauchte ihm widerliche oder schmerzliche Gerüche entgegen. Wenn auf der Straße ein Schornsteinfeger mehre Schritte vor ihm hinging, wendete er vor dem Geruch desselben schaudernd sein Gesicht ab. Auf den Geruch eines alten Käses wurde ihm unwohl und er mußte sich erbrechen. Als er einst Essig roch, der einen starken Schritt von ihm entfernt stand, wirkte dessen Schärfe so sehr auf seine Geruchs- und Augennerven, daß ihm das Wasser aus den Augen trat. Wenn Wein, in ziemlicher Entfernung von ihm, auf dem Tische eingeschenkt stand, so klagte er über widrigen Geruch und über Hitze im Kopf. Mit einer geöffneten Champagner-Flasche konnte man ihn zuverlässig vom Tische jagen oder krank machen. Was wir übelriechend nennen, schien ihn weit weniger unangenehm zu afficiren, als unsere Wohlgerüche. So sagte er z. B. er wolle weit lieber Katzenkoth riechen, weil er ihm weniger im Kopf weh thue, als Pomade, und weit lieber jede Art Koth, als kölnisches Wasser oder gewürzte Chocolade. Der Geruch von frischem Fleisch war ihm der schrecklichste von allen; sogar der Gestank von Katzenkoth und der Geruch von Stockfischen war ihm erträglicher. Als Professor Daumer (im Herbst 1828) mit Kaspar dem Johanniskirchhofe bei Nürnberg nahe kam, wirkte der Todengeruch, [109] von welchem Professor Daumer selbst nicht das mindeste spürte, so stark auf ihn, daß er sogleich zu frieren anfing und die Gebehrden des Schauders machte. Der Frost ging bald nachher in Fieberhitze über, die zuletzt in einen heftigen Schweiß ausbrach, der sein Hemd durch und durch tränkte. Solche Hitze, sagte er später, habe er noch nie empfunden. Auf dem Rückweg in der Nähe des Stadtthors wurde ihm wieder wohl; doch klagte er, daß es ihm vor seinen Augen dunkler geworden sei. Aehnliche Zufälle erlitt er, als er einmal (am 18. September 1828) lange neben einem Tabaksfelde herzugehen hatte. Auf die besondere Beschaffenheit des Gefühlvermögens Kaspars und dessen Empfänglichkeit, besonders für Metallreize, ward Prof. Daumer zuerst aufmerksam, als jener sich noch auf dem Thurm befand. Hier machte ihm einst ein Fremder ein Geschenk mit einem Spielpferdchen und einer kleinen Magnetstange, womit jenes, welches vorn mit Eisen beschlagen war, im Wasser schwimmend herumgezogen werden konnte. Als Kaspar den Magnet, nach der Anweisung gebrauchen wollte, fühlte er sich von demselben sogleich auf das unangenehmste afficirt, verschloß dieses Spielzeug alsbald in das dazu gehörige Kästchen, und holte es nie wieder aus [110] demselben hervor, um es – wie er mit seinen andern Spielsachen zu thun pflegte – den Besuchenden zu zeigen. Späterhin über den Beweggrund seines Benehmens befragt, äusserte er: jenes Pferdchen habe ihm einen Schmerz verursacht, den er durch den ganzen Leib in allen Gliedern gespürt habe. Nachdem er zu Prof. Daumer gezogen war, hielt er das Kästchen mit dem Magnet in einem Koffer verwahrt, aus welchem es einmal beim Aufräumen seiner Sachen zufällig wieder zum Vorschein kam. Professor Daumer, der sich der frühern Erscheinung erinnerte, kam jetzt auf den Gedanken, mit dem Magnet des Pferdchens an Kaspar einen Versuch zu machen. Kaspar spürte sogleich die auffallendsten Wirkungen. Hielt Professor Daumer den Nordpol gegen ihn, so griff Kaspar in die Gegend der Herzgrube, und zog seine Weste auswärts, indem er sagte: so ziehe es ihn, es gehe wie ein Luftzug von ihm aus. Der Südpol wirkte weniger stark auf ihn und er sagte von ihm: es wehe ihn an. Prof. Daumer und Prof. Herrmann machten hierauf verschiedentlich ähnliche Versuche mit ihm, welche zugleich darauf berechnet waren, ihn irre zu führen; doch immer sagten ihm jene Empfindungen ganz richtig, und zwar bei bedeutender Ferne des Magnets, wann [111] der Südpol oder der Nordpol oder auch keiner von beiden ihm zugewendet war. Lange durften solche Versuche nicht fortgesetzt werden, weil ihm bald der Schweiß auf die Stirne trat und er sich unwohl fühlte.

Ueber seine Empfindlichkeit gegen andere Metalle und dessen Gabe, sie durch das bloße Gefühl zu unterscheiden, hat Prof. Daumer sehr viele Thatsachen gesammelt, aus welchen ich jedoch nur Einige heraushebe. Im Herbst 1828 kam er einst zufällig in ein mit Metall- besonders Messing-Waaren angefülltes Gewölbe. Kaum war er eingetreten, so eilte er unter Aeusserungen heftigen Schauders, wieder auf die Strasse hinaus, indem er sagte: da drinnen ziehe es ihn am ganzen Körper, von allen Seiten. – Ein ihn besuchender Fremder drückte ihm einmal ein kleines Goldstück, ungefähr von der Größe und Dicke eines Kreuzers in die Hand, ohne daß Kaspar es ansehen konnte; dieser aber sagte sogleich: er fühle Gold in seiner Hand. – Prof. Daumer legte einst in Kaspars Abwesenheit einen goldnen Ring, einen Zirkel von Stahl und Messing, nebst einer silbernen Reißfeder unter Papier, so daß es unmöglich war, zu bemerken, was darunter verborgen sei. Daumer befahl ihm, mit seinem Finger, jedoch ohne das Papier zu berühren, [112] darüber hinzufahren; es geschah und an der Verschiedenheit und Stärke des Zugs, den die Metalle gegen seine Fingerspitzen ausübten, unterschied er richtig alle jene Gegenstände, nach ihrem Stoff, wie nach ihrer Form. – Einst führte Daumer, als gerade der Arzt Dr. Osterhausen und der Königliche Kronfiskal Brunner aus München zugegen waren, den Kaspar, um ihn auf die Probe zu stellen, zu einem mit einer Wachsdecke überzogenen Tisch, auf welchem ein Bogen Papier lag, und forderte ihn auf, zu sagen, ob kein Metall darunter liege? Er fuhr mit dem Finger in einiger Entfernung darüber hin und sagte dann: da zieht es! „Diesmal aber,“ erwiderte Daumer, „hast Du Dich denn doch getäuscht; denn siehe (indem er den Bogen Papier aufhob) es liegt nichts darunter.“ Hauser zeigte sich Anfangs betroffen, fühlte aber doch von neuem nach der Stelle hin, wo er den Zug gespürt haben wollte, und versicherte wiederholt: da fühle er einen Zug. Man hob nun die Wachsdecke auf, suchte genau nach, und es kam eine Nadel zum Vorschein. – Das Gefühl, welches ihm Mineralien erregten, bezeichnete er durch ein Ziehen, das ihn zugleich mit Kälte überlaufe, nach Verschiedenheit der Gegenstände, in seinem Arm mehr oder weniger hoch aufsteige, und auch [113] sonst noch sich eigenthümlich unterscheide. Dabei schwollen ihm sichtbar die Adern der Hand, die dem Metallreitze ausgesetzt gewesen war. Gegen Ende des Decembers 1828 – wo die krankhafte Reitzbarkeit seiner Nerven beinahe schon ganz gehoben war – verschwand auch allmählig seine Empfindlichkeit für Metallreitze und verlor sich endlich ganz.

Nicht minder auffallend äußerte sich in ihm der thierische Magnetismus, für welchen er weit längere Zeit, als für Metallreitze Empfänglichkeit behielt. Da jedoch diese Erscheinungen an Kaspar im Wesentlichen mit ähnlichen bekannten übereinstimmen, so ist es überflüssig, ins Einzelne einzugehen, und es dürfte wohl nur zu bemerken sein, daß er die Empfindung des auf ihn einströmenden magnetischen Fluidums immer ein Anblasen nannte. Solche magnetische Empfindungen hatte er nicht blos bei Menschen, wenn diese mit der Hand ihn berührten, die Fingerspitzen, selbst in einiger Entfernung, gegen ihn ausstreckten u. s. w., sondern auch bei Thieren. Wenn er ein Pferd anfaßte, ging es ihm, wie er sagte, kalt den Arm hinauf; setzte er sich darauf, so war ihm, als gehe ihm ein Luftzug durch den Leib. Diese Empfindungen vergingen jedoch sobald er sich mit seinem Pferd ein Paarmal auf [114] der Reitbahn herum getummelt hatte. Griff er eine Katze beim Schweif an, so überfiel ihn ein starker Kälteschauder und es war ihm, als habe er einen Schlag auf die Hand bekommen. – Im März 1829 wurde er zum erstenmal in eine Hütte geführt, worin ausländische Thiere zu sehen waren, und, nach seinem Wunsch, auf den dritten Platz gestellt. Sogleich beim Eintritt empfand er ein Fieberfrösteln, das, als die gereitzte Klapperschlange zu rasseln begann, viel stärker wurde, und bald in Hitze mit vielem Schweiß überging. Der Blick der Schlange war dem Platze, wo er stand, nicht zugewendet. Er war sich übrigens dabei, wie er versicherte, weder des Schreckens noch der Furcht bewußt.

Wir verlassen nunmehr die physische und physiologische Seite Kaspars, um in eine tiefere Region seines Wesens einige Blicke zu werfen, die, indem sie uns die Schärfe seines natürlichen Verstandes verrathen, zugleich auf sein Lebens-Schicksal und auf die gänzliche Verwahrlosung, worin menschliche Verruchtheit ihn versenkt hatte, den bündigsten Schluß ziehen lassen. In seiner Seele voll kindlicher Güte und Milde, die ihn unfähig machte, einem Wurm oder einer Fliege, geschweige einem Menschen wehe zu thun, welche in jeder Beziehung so fleckenlos und rein sich erwies, [115] wie der Abglanz des Ewigen in der Seele eines Engels, brachte er, wie schon früher bemerkt worden, keine Idee, keine Ahnung von Gott, keinen Schatten eines Glaubens an irgend ein höheres, unsichtbares Dasein, aus seinem Kerker mit sich in die Welt des Lichts. Wie ein Thier aufgefüttert, selbst im Wachen schlafend, in der Wüste seines engen Kerkerraums von nichts angeregt, als von den gröbsten thierischen Bedürfnissen, mit nichts beschäftigt als mit seinem Futter und mit dem ewigen Einerlei seiner Rosse, war sein Seelenleben dem Leben der Auster zu vergleichen, die am Felsen klebend, nichts empfindet als ihren Fraß, nichts vernimmt als den ewig einförmigen Schlag der Wellen, und, da im engen Raum ihres Gehäuses auch die beschränkteste Vorstellung von einer Welt ausser ihr keinen Platz findet, noch weniger von demjenigen etwas zu ahnen vermag, was über der Erde und über allen Welten ist. So kam denn Kaspar freilich ohne Vorurtheile, aber auch ohne allen Sinn für Unsichtbares, Unkörperliches, Ewiges auf die obere Welt, wo er, vom betäubenden Strudel der Aussendinge erfaßt und umhergetrieben, mit den sichtbaren Wirklichkeiten schon allzuviel zu thun hatte, als daß auch noch das Bedürfniß zum Unsichtbaren in ihm so leicht hätte aufkommen können. [116] Nichts hatte Anfangs Wirklichkeit für ihn, als was er sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken konnte; und sein erwachter, bald auch grübelnder Verstand ließ von allem dem nichts gelten, was nicht auf seinem sinnlichen Bewußtsein fußte, nicht in den Bereich seiner Sinne gestellt, in die Form eines ihm nahe liegenden groben Verstandesbegriffs gebracht werden konnte. Lange waren alle Bemühungen, auf gewöhnlichem Weg religiöse Vorstellungen in ihm zu erwecken, ganz fruchtlos. Gegen Professor Daumer beklagte er sich ganz naiv, daß er gar nicht wisse, was doch die Geistlichen mit allen den Dingen wollten, die er nicht begreifen könne. Um seinen plump materialistischen Vorstellungen etwas abzugewinnen, versuchte es Professor Daumer auf folgende Weise, ihn wenigstens vorläufig für die Denkbarkeit und Möglichkeit einer unsichtbaren Welt, besonders einer Gottheit, empfänglich zu machen. Daumer fragte ihn: ob er nicht Gedanken, Vorstellungen und einen Willen in sich habe? und, als er es bejahte: ob er diese sehen, hören u. s. w. könne? Da er mit Nein antwortete, machte ihm sein Lehrer bemerklich: wie es folglich, nach seinem eignen Bewußtsein, Dinge gebe, die man nicht sehen, noch sonst äusserlich wahrnehmen könne. Kaspar gestand dieses zu [117] und war sehr erstaunt über die Entdeckung der unkörperlichen Natur seines innern Wesens. Daumer fuhr fort: „ein Wesen, das Denken und Wollen könne, heiße ein Geist, Gott sei nun ein solcher Geist und verhalte sich zu der Welt, wie Kaspars eignes Denken und Wollen zu seinem Körper; wie er (Kaspar) in seinem Körper durch unsichtbares Denken und Wollen sichtbare Veränderungen hervorbringen, z. B. seine Hände und Füße bewegen könne, so könne es auch Gott in der Welt; Er sei das Leben in allen Dingen, Er sei der in der ganzen Welt wirkende Geist.“ – Professor Daumer befahl ihm jetzt, seinen Arm zu bewegen, und fragte ihn: „ob er nicht zu gleicher Zeit auch den andern Arm aufheben und bewegen könne?“ Allerdings! „Nun denn, fuhr Daumer fort, so siehst Du also daraus, daß Dein unsichtbares Denken und Wollen, das ist Dein Geist zu gleicher Zeit in zweien Deiner Glieder, also an zwei verschiedenen Orten zugleich sein und wirken kann. Dieses ist denn eben so bei Gott, aber im Großen, und nun wirst Du ungefähr verstehen, was das heißt: Gott ist allgegenwärtig. “ – Kaspar bezeigte große Freude als ihm dieses klar geworden war und äusserte zu seinem Lehrer: was er ihm da gesagt habe, sei doch etwas „Wirkliches“, während [118] andere Leute nie etwas Rechtes ihm darüber gesagt hätten. – Belehrungen, wie die oben bemerkten, hatten übrigens lange Zeit keine andere Folge, als daß Hauser gegen die Idee von Gott sich nicht mehr widerspenstig bezeigte und nun der Weg gefunden war, auf welchem man religiöse Vorstellungen seiner Seele nahe bringen könne. Der ihm eingebohrne Pyrrho kam indessen bei vielen Gelegenheiten immer wieder von neuem, in veränderter Gestalt und nach andern Richtungen hin zum Vorschein. – Einmal fragte er: ob er von Gott etwas Bestimmtes bitten dürfe und ob ihm das Gebetene auch gewährt werde? z. B. wenn er Gott bitte, ihm von seinem (damals eingetretenen) Augenübel zu helfen? Allerdings, war die Antwort, dürfe er bitten; nur müsse er es der Weisheit Gottes anheimstellen, ob dieser es auch für gut finde, ihm seine Bitte zu gewähren. „Aber, erwiderte er hierauf, ich will ja meine Augen wieder haben, damit ich lernen und arbeiten kann, und das muß ja doch gut für mich sein; Gott kann also nichts dagegen haben.“ Wurde er hierauf belehrt: Gott habe zuweilen seine unerforschlichen Gründe, uns auch das, was uns gut scheint, zu versagen, um uns z. B. durch Leiden zu prüfen, in Geduld zu üben u. s. w. so gingen diese Lehren immer nur kalt [119] an ihm vorüber, und fanden keine Anerkennung. – Seine Zweifel, Fragen und Einwendungen setzten nicht selten seinen Lehrer in nicht geringe Verlegenheit; z. B. als er einst, da von Gottes Allmacht die Rede war, die Frage stellte: ob denn Gott, der Allmächtige, auch die Zeit könne rückgängig machen? eine Frage, welche auf sein früheres Lebensschicksal eine ironische bittere Beziehung hatte, und im Hintergrund die Frage versteckte: ob denn Gott seine Kindheit und Jugend, die er lebendig in einem Grabe verloren, ihm wieder zurückgeben könne? – Aus diesem wenigen mag man schließen, wie es vollends mit der positiven Religion, mit der christlichen Dogmatik, mit dem Geheimniß der Versöhnungslehre und andern dergleichen Lehren stand, worüber seine Aeusserungen anzuführen ich mich gern enthalte.

Vor zwei Ständen hatte Kaspar geraume Zeit einen nicht zu bezwingenden Abscheu, – vor den Aerzten und den Geistlichen; vor den ersten „wegen der abscheulichen Arzneien, die sie verschrieben, und womit sie die Leute krank machten“; vor den letzten, weil sie ihn ängstigten und durch unverständliches Zeug, wie er sich ausdrückte, verwirrten. Sah er einen Pfarrer, so gerieth er in Schreck und Entsetzen. Fragte man [120] ihn um die Ursache, so antwortete er: „weil mich diese Leute schon sehr gepeinigt haben. Einmal sind ihrer vier auf einmal zu mir auf den Thurm gekommen und haben mir Dinge gesagt, die ich damals gar nicht verstanden habe, z. B., daß Gott Alles aus Nichts geschaffen. Wenn ich um Erläuterung bat, so schrieen alle zusammen und jeder sagte etwas anderes. Als ich ihnen sagte: das alles verstehe ich jetzt noch nicht, ich müsse zuerst lesen und schreiben lernen, so antworteten sie mir: jene Dinge müsse man zuerst lernen. Auch sind sie nicht eher fortgegangen, bis ich ihnen das Verlangen zu erkennen gab, sie möchten mich doch endlich einmal in Ruhe lassen“. In Kirchen war es daher Kasparn ebenfalls gar nicht wohl zu Muthe. Die Cruzifixe darin erregten ihm ein entsetzliches Schaudern, indem seine Vorstellung noch lange Zeit den Bildern unwillkührlich Leben verlieh. Das Singen der Gemeinde dünkte ihm ein widerliches Schreien. Zuerst, sagte er einmal nach einem Kirchenbesuche, schreien die Leute, und, wenn diese aufhören, fängt der Pfarrer zu schreien an. [121]

 

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1) Diese Bekanntmachung hatte gleichwohl nicht die gewünschte, vollständige Wirkung. Wie nicht leicht ein Fremder nach Nürnberg kommt, ohne sich das Sebaldus-Grab, die Glasmalereien der Lorenz-Kirche, das Gänse-Männchen u. s. w. zeigen zu lassen, so glaubte jetzt Niemand Nürnberg recht gesehen zu haben, wenn er nicht auch das geheimnißvolle Adoptiv-Kind dieser Stadt, in Augenschein genommen habe. – Seit Kaspars Aufenthalt zu Nürnberg bis jetzt, wo ich dieses schreibe, haben viele hundert Personen fast aller europäischen Nationen von allen Ständen, Gelehrte, Künstler, Staatsmänner, Beamte aller Gattungen, hohe und höchste Personen, ihn gesehen und gesprochen. 

2) Der Psycholog, besonders unser geistreicher Schubert, wird diese Umstände nicht unbeachtet lassen und in ihnen ein frappantes Zeugniß für Kaspars damaligen Seelenzustand erkennen. 

3) Ehe er warme Speisen vertragen konnte, hatte er beständig Durst und trank täglich 10 bis 12 Maas kalten Waffers. Aber auch noch jetzt ist er ein gewaltiger Wassertrinker, so daß unser berühmter Wasserdoctor, Prof. Oertel, ihn einem Jeden zum Muster vorstellen könnte. 

4) Herr Merker zu Berlin.