BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Peter Hebel

1760 - 1826

 

Allemannische Gedichte

Für Freunde ländlicher Natur und Sitten

 

1803

 

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Eine Frage.

 

Sag, weisch denn selber au, du liebi Seel,

was 's Wiehnechtchindli isch, und heschs bidenkt?

Denkwol i sag der's und i freu mi druf.

O, 's isch en Engel usem Paradies

mit sanften Augen und mit zartem Herz.

Vom reine Himmel abe het en Gott

de Chindlene zum Trost und Sege gschickt.

Er hüetet sie am Bettli Tag und Nacht;

Er deckt sie mittem weiche Fegge zu,

und weiht er sie mit reinem Othem a,

wird's Aeugli hell und 's Bäckli rund und roth.

Er treit sie uf de Hände in der Gfohr,

günnt Blüemli für sie uf der grüene Flur,

und stoht im Schnee und Rege d' Wiehnecht do,

se henkt er 'nen im Wiehnechtchindli-Baum

e schöne Früehlig in der Stuben uf,

und lächlet still, und het si süeßi Freud,

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und Mutterliebi heißt si schöne Name.

Jo, liebi Seel, und gang vo Hus zu Hus,

sag Gute Tag, und Bhütich Gott, und lueg,

Der Wiehnechtchindli-Baum verrothet bald,

wie alli Müetter sin im ganze Dorf.

Do hangt e Baum, nei lueg me doch und lueg!

In alle Näste nüt as Zuckerbrod.

's isch nit viel nutz. Die het e närschi Freud

an ihrem Büebli, will em alles süeß

und liebli mache, thut em, was es will.

Gib acht, gib acht, es chunnt emol e Zit,

se schlacht sie d' Händ no zsemmen überm Chopf,

und seit: «Du gottlos Chind, isch das mi Dank?»

Jo weger Müetterli, das isch di Dank!

Jez do siehts anderst dri ins Nochbers Hus.

Scharmanti bruni Bire, welschi Nuß!

Scharmanti rothi Oepfel ab der Hurt,

e Gufebüchsli, doch wills Gott der Her

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ke Gufe drinn! Vom zarte Bese-Ris

e goldig Rüethli, schlank und nagelneu!

Lueg, so ne Muetter het ihr Chindli lieb!

Lueg, so ne Muetter ziehts verständig uf,

und wird mi Bürstli meisterlos, und meint

er seig der Her im Hus, se hebt si b'herzt

der Finger uf, und förcht ihr Büebli nit,

und seit: «Weisch nit, was hinterm Spiegel steckt?»

Und's Büebli folgt, und wird e brave Chnab;

Jez göhn mer wieder witers um e Hus.

Zwor Chinder gnug, doch wo me luegt und luegt

schwankt wit und breit ke Wiehnechtchindli-Baum.

Chumm, weidli chumm, do blibe mer nit lang!

O Frau, wer het die Muetterherz so gchüelt?

Verbarmt's di nit, und goht's der nit dur d' Seel,

wie dini Chindli, wie di Fleisch und Blut

verwildern ohni Pfleg und ohni Zucht,

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und hungrig by den andre Chinde stöhn

mit ihre breite Rufe, schüch und fremd?

Und Wi' und Caffi schmekt der doch so gut!

Doch lueg im vierte Hus, daß Gott erbarm,

was hangt am grüene Wiehnechtchindli-Baum?

Viel stachlig Laub, und näume zwische drinn

ne schrumpfig Oepfeli, ne dürri Nuß!

Sie möcht, und het's nit, nimmt ihr Chind uf d' Schoß,

und wärmt's am Buse, lueget's a und briegt;

der Engel stüürt im Chindli Thränen i.

Sel isch nit gfehlt, 's isch mehr as Marzipan

und Zuckererbsli. Gott im Himmel siehts,

und het us mengem arme Büebli doch

e brave Ma und Vogt und Richter gmacht,

und usem Töchterli ne bravi Frau,

wenns numme nit an Zucht und Warnig fehlt.