BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Hölderlin

1770 - 1843

 

Gedichte

in chronologischer Folge

 

1786

 

Textgrundlage:

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 1, Gedichte bis 1800

Hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart: Cotta, 1946

 

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An Stella

 

Du gute Stella! wähnest du mich beglükt,

Wann ich im Thale still und verlassen, und

Von dir vergessen wandle, wann in

Flüchtigen Freuden dein Leben hinhüpft?

 

Schon oft, wenn meine Brüder, die Glükliche

So harmlos schliefen, blikt ich hinauf, und fragt

Im Geiste, ob ich glüklich seie –

Bin ich ein glüklicher Jüngling, Stella?

 

Es streut der Schöpfer seeliges Lächeln oft

In meine Tage, giebt mir der heiligen

Empfindungen, der Freuden recht zu

Handeln so viele, der gute Schöpfer:

 

Doch giebt es Wünsche, denen der Spötter höhnt –

O Stella! du nicht! höhne dem Armen nicht! –

Giebt unerfülte Wünsche – – Tugend,

Hehre Gefährtin! du kennst die Wünsche.

 

Ach laß mich weinen! – nein! ich will heiter sein!

Ist ja ein Ort, wo nimmer gewünscht wird, wo

Der Sterbliche sein Schiksaal preiset, –

Dort ist es, wo ich dich wiedersehe.

 

Und stürb' ich erst mit grauem gebeugtem Haupt

Nach langem Sehnen, endlich erlößt zu sein,

Und sähe dich als Pilger nimmer,

Stella! so seh' ich dich jenseits wieder.