BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Hölderlin

1770 - 1843

 

Briefe

 

1785

An Nathanael Köstlin

 

Nathanael Köstlin (1744 - 1826) war ein

deutscher evangelischer Theologe und

Privatlehrer des jungen Friedrich Hölderlin

 

 

Textgrundlage:

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 6, Briefe.

Hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart: Cotta, 1959

 

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27. November 1785

 

Hochehrwürdiger, Hochgelehrter

Insonders Hochzuverehrender Herr Helffer!

 

Ihre immerwährende große Gewogenheit und Liebe gegen mich, und noch etwas, das auch nicht wenig dazu beigetragen haben mag, Ihr weißer Christen-Wandel, erwekten in mir eine solche Ehrfurcht und Liebe zu Ihnen, daß ich, es aufrichtig zu sagen, Sie nicht anders, als wie meinen Vater betrachten kan. Sie werden also mir diese Bitte nicht übel nehmen. Etliche Betrachtungen, insonderheit seit ich wieder von Nürtingen hier bin, brachten mich auf den Gedanken, wie man doch Klugheit in seinem Betragen, Gefälligkeit und Religion verbinden könne. Es wollte mir nie recht gelingen; immer wankte ich hin und her. Bald hatte ich viele gute Rührungen, die vermuthlich von meiner natürlichen Empfindsamkeit herrührten, und also nur desto unbeständiger waren. Es ist wahr, ich glaubte, jezt wäre ich der rechte Christ, alles war in mir Vergnügen, und insonderheit die Natur machte in solchen Augenbliken, (dann viel länger dauerte dieses Vergnügen selten) einen auserordentlich lebhafften Eindruk auf mein Herz; aber ich konnte niemand um mich leiden, wollte nur immer einsam seyn, und schien gleichsam die Menschheit zu verachten; und der kleinste Umstand jagte mein Herz aus sich selbst heraus, und dann wurde ich nur desto leichtsinniger. Wollte ich klug seyn, so wurde mein Herz tükkisch, und die kleinste Beleidigung schien es zu überzeugen, wie die Menschen so sehr böse, so teuflisch seyen, und wie man sich vor ihnen vorsehen, wie man die geringste Vertraulichkeit mit ihnen meiden müsse; wollte ich hingegen diesem menschenfeindlichen Wesen entgegenarbeiten, so bestrebte ich mich vor den Menschen zu gefallen, aber nicht vor Gott. Sehen Sie, Theuerster HE. Helffer, so wankte ich immer hin und her, und was ich that, überstieg das Ziel der Mäßigung. Und heute insonderheit (am Sonntag) sahe ich auf mein bißheriges Betragen gegen Gott und Menschen zurük, und faßte den festen Entschluß, ein Christ und nicht ein wankelmüthiger Schwärmer, klug, ohne falsch und menschenfeindlich zu werden, gefällig gegen den Menschen, ohne mich nach ihren wahrhafftig sündlichen Gewohnheiten zu richten; Ich weiß gewiß Gott wird durch seinen h. Geist mein Herz leiten; und nun bitte ich Sie gehorsamst, Theuerster HE. Helffer, seyn Sie mein Führer, mein Vater, mein Freund, (doch das waren Sie schon lange!) erlauben Sie mir, daß ich Ihnen von jedem Umstand, der etwas zu meinem Herzen beiträgt, von jeder Erweiterung meiner Kentnisse, Nachricht geben darf; Ihre Lehren, Ihr Rath, und die Mittheilung Ihrer Kentnisse, diese werden alle meine Wünsche, die sich aufs Zeitliche richten, befriedigen. Ich weiß gewiß, daß Ihnen diß aufrichtige Schreiben nicht beschwerlich ist, und daß Sie diß Vertrauen als ein Zeichen meiner Ehrfurcht und Liebe gegen Sie ansehen werden. Finden Sie an diesen meinen Gesinnungen etwas fehlerhaffts, so bitte ich Sie, mir solches zu entdeken. Ich schließe also und verbleibe mit aller Hochachtung Dero gehorsamster Diener Hölderlin.