BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Wilhelm Schröder

1808 - 1878

 

De Swienegel als Wettrenner

 

1835

 

Nachwort von Walter Schmidkunz

 

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Das Märchen vom Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel ist altes, uraltes Erzählgut der ganzen Welt.

Die Fabel vom Wettkampf zwischen dem schwerfälligen und dem schnellen Tier, der witzgerecht immer zugunsten des ersteren ausgeht, wurde von Oskar Dähnhardt, der in seinen «Natursagen» fast 100 Erzählformen beibrachte, auf drei Grundthemen zurückgeführt: In der aesopischen Fabel, die als Wettkämpfer Schildkröte und den Hasen paart, sieht er die Urform: Der siegesgewisse Hase verläßt sich auf seine flinken Beine, läßt die Schildkröte ruhig davonkriechen, legt sich derweilen aufs Ohr und verschläft so den Sieg. Es triumphiert also die Beharrlichkeit über die Nachlässigkeit.

Das einfache Motiv der Urfassung genügte dem beredten Volksmund der Welt nicht, er begann zu fabulieren. Die simple Beharrlichkeit des Siegers wandelte sich zur triumphierenden List, deren charakteristische Einfälle deutlich zwei Gruppen ergeben: Die Mithilfe von Verwandten und die listige Selbsthilfe: Das heimliche Anhängen am schnelleren Gegner.

In solchen Ausspinnungen treffen wir nun das Fabelmärchen fast bei allen Völkern der Erde an. Es ist hier nicht der Platz - so aufschlußreich gerade dieses Märchenbeispiel ist - nachzuweisen, wie es um die Welt gewandert ist und wie neue Zusätze den Stoff Zug um Zug ausschmückten. Wir wollen uns hier damit begnügen, nur einen Blick in diese Fülle und Buntheit zu tun: Da sind aus Afrika Märchen der Bantu, der Wakonde in Deutsch-Ost, der Betschuanen und Hottentotten, aus Kamerun und vom Kongo in mitunter erstaunlich lebendiger Ausführlichkeit aufgezeichnet. Als Wettbewerber treten der Schildkröte an Stelle des Hasen auch Leopard, Schakal, Elefant, Steinbock, Antilope und der Vogel Strauß gegenüber. Nicht weniger bunt sind die amerikanischen Märchen. Da ist bei den Chirokee-Indianern das Kaninchen der unterliegende Teil, in Brasilien siegt die Schildkröte über Reh oder Hirsch. Negermärchen aus den Südstaaten lassen, durch das Motiv der Brautgewinnung verstärkt, Waschbären, Krokodile, Seemuscheln antreten; mittel- und südamerikanische Indianer bringen Reh oder Fuchs und Frösche auf die Wettlaufbahn und in einer Erzählung der Zuni prellt das Erdeichhörnchen die besten Menschen-Läufer um den Sieg.

In Ostasien begegnen uns annamitische Tiger, javanische Zwerghirsche, malayische Wasserschnecken, die sich mit Schildkröten messen, und nach einer Fabel der Fidschiinsulaner hetzt der Taschenkrebs gar den Kranich zu Tode. Die Singhalesen stellen der Schildkröte den Löwen gegenüber; in China mißt sich der Rabe, in Westafrika die prahlerische Krabbe mit ihr.

In der beispielreichen nordafrikanisch-europäischen Fabelgruppe taucht nun statt der Schildkröte unser Igel auf. Berber, Marokkaner, Araber und Zuaven fabeln von einem Wettlauf zwischen Wolf oder Schakal mit dem Igel und über den märchenreichen Stützpunkt Malta führt endlich die Spur zu den europäischen Quellen. Da begegnen sich in einem lateinischen Gedicht des 13. Jahrhunderts Hirsch und Igel vor dem schiedsrichternden Eber im Wettkampf und ein altes Sprichwort stellt Bär und Igel gegenüber; in englischen, polnischen, lettischen, französischen und bretonischen Volksfabeln sind Fuchs oder Hase die Herausforderer.

Bevor wir nun die Ahnentafel unseres Swienegels weiter verfolgen, sei noch ein Blick auf die Fabelgruppe geworfen, der das listige Anhängen des Schwächeren am schnelleren Gegner eigentümlich ist. Auf Madagaskar treiben so Wildschwein und Chamäleon ihr Spiel, innerafrikanische, recht vergnügt erzählte Fabeln führen den Löwen mit der Schildkröte oder den Elefanten mit dem Chamäleon oder dem Zwerghirsch zusammen. In Südamerika tragen Reh und Holzzecke, Fuchs und Viehbremse den Kampf aus, in Hinterindien treffen Kröte und Tiger und in Polynesien Kranich und Schmetterling kämpfend aufeinander. Eine westasiatisch-europäische Motivgruppe mit syrischen, armenischen, serbischen, italienischen Beispielen, denen sich deutsche, nordländische und russische Volksüberlieferungen anschließen, stellt dem listigen Fuchs den Krebs und (in Quellen aus Siebenbürgen, der Schweiz, Frankreich, Belgien, Holland, Tirol) die Schnecke, das Sinnbild der Langsamkeit, gegenüber. In einem wendischen Märchen übertölpelt der Frosch den Fuchs und bei den Ainos prellt der Fuchs den Tiger. Im hohen europäischen Norden schwimmen Fische mit List und Tücke gegeneinander um die Wette. Erweiternde Nachbildungen der Märchenfabel führen Schnecke und Maikäfer und schließlich gar den Teufel mit einem Dienstmädchen oder einem Bauern als Wettlaufrivalen in die Weltliteratur des Märchens ein.

Aber nun zu unserem Freund, dem Swienegel! Wenn auch die Märchenfabel ihre Urheimat in Byzanz oder Hellas haben dürfte, von wo aus sie um die Welt wanderte, so trägt sie zweifellos in der humorigen Form, wie nun der Igel vor uns steht, grunddeutsche Züge, auch wenn er nicht «seine» Steckrüben pflanzen, seine Piep rauchen und plattdütsch snaken würde. Die Brüder Grimm zeichneten in ihrem unsterblichen Märchenbuch erstmals die Geschichte etwa in der Form auf, wie sie auf den vorhergegangenen Seiten fröhliche Urständ feiert. Als Quelle nennt Wilhelm Grimm den Professor Firnhaber in Kassel, der das Märchen bei Osnabrück dem Volksmund abgelauscht hatte. Etwas später brachte auch Firmenich in seiner großen Volksmundsammlung den Swienegel aufs Tapet, der ihm durch Wilhelm Schröder aus der Gegend von Stade im Hannoverschen zugetragen worden war. Unsere Wortfassung entspricht einem selten gewordenen Groschenbüchlein, das der taube Maler, Holzschneider und Erzähler Johann Peter Lyser (geb. zu Flensburg 1804, gest. 1870 in Altona) herausgebracht und mit Bildern geschmückt hat. Dieser gibt nun an, das Märchen sei eine selbständige Dichtung «des verstorbenen Theodor von Robbe», der es als seine Erfindung und sein Eigentum bezeichnet hätte. Wilhelm Grimm hatte demgegenüber schon damals an Hand, einiger Parallelen das Märchen als volksechte, lebendige Überlieferung gekennzeichnet, und unsere vorangestellten Quellenhinweise haben dies wohl zur Genüge bestätigt.

Wer nun den Igel zum Swienegel befördert hat und ihn in das niedersächsische Kleinhäusleridyll und nach Buxtehude verpflanzte und den «goldenen Lujedor un'n Buddel Branntwein» dazu erfand, mag dahingestellt bleiben. Die Hauptsache ist, in dieser Form ist es ein prachtvoll erzähltes, echtes, deutsches Märchen für Alt und Jung. Wem aber das Platt eine «to swere Sprak» sein sollte, dem bauten wir in der wort- und sinngetreuen hochdeutschen «Übersetzung» eine freundliche Eselsbrücke. Echt und recht für unsere Ohren aber klingt das Weltmärchen doch nur in seiner herzhaften, plattdeutschen Fassung.

 

Walter Schmidkunz.