BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carl Spitteler

1845 - 1924

 

Imago

 

4. Kapitel

 

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Viktor im Zweikampf mit Pseuda

 

«Nässer als naß kann ich nicht werden», hatte er gemeint. Irrtum! Der Hauptguß kam erst. Es begab sich nämlich eines Tages, daß Frau Direktor Wyß in seiner Gegenwart gegen die Galanterie eiferte (Galanterie, das war auch so ein Uhu für die Idealia). «Hm, hm!» lächelte Viktor, «Sie würden nicht übel erbosen, Frau Direktor, wenn Ihnen ein Mann tatsächlich die Galanterie verweigerte.» Und da sie diesen Satz hochfahrend bestritt, beteuernd, weder verlange noch wünsche sie Galanterie, vielmehr wäre sie dankbar, wenn man sie damit verschone, reizte ihn der Geist der Wahrheit, daß er beschloß, ihr eine Lehre zu erteilen. Zu diesem Zwecke stellte er sich nachher beim Abschied im Vorzimmer auffällig vor sie hin, mit auf dem Rücken verschränkten Armen, und ließ sie ihre Pelzjacke allein vom Haken nehmen und anziehen. Die Ärmel waren zu eng, so daß es ein mühseliges Freiturnen absetzte. Ergötzt spotteten seine Blicke: «Merkst du jetzt, Maidlein, wozu die Galanterie nütze ist?» Doch siehe da, nicht möglich, sie merkte nichts; Widerlegung durch Rebus, Rückbeziehung einer Handlung auf frühere Reden, diesen Belehrungsstil verstand sie nicht; offenbar war ihr noch nie dergleichen vorgekommen. Dagegen spürte sie natürlich gar wohl die Absichtlichkeit seiner Hilfeversagung, weil er es ja auffällig tat und weil er überdies als überförmlicher ‹Zeremonienmeister› in Verruf stand. Folglich mußte sie seine Unterlassung als böswillige Beleidigung auslegen. Der Blick, den sie ihm zuwarf! kein Auge mehr, bloß ein weißer Gallert, mit einem Tintenfleck darin. – Was tun? Sie aufklären? Unnütz, sie glaubte es ihm doch nicht. Sich entschuldigen? Ein weibliches Wesen nimmt niemals eine Entschuldigung an. «Legen wirs zum übrigen; ist es doch nicht die erste Ungerechtigkeit, die du erleidest. Und wer weiß, vielleicht ist es auch nicht so schlimm, wie es aussieht.»

Es war jedoch so schlimm, wie es aussah. Wo und wann sie ihn fortan erblickte, entfuhr ihr ein Naturlaut des Hasses, etwas wie das Fauchen eines jungen Panthers: «Rha! Cha!», und mit schlankem Schwung drehte sie ihm den Rücken.

Das erste- und zweitemal nahm ers überlegen, fand sogar Freiheit genug, um seine Blicke an dem gelenkigen Rückenschwung zu weiden. Allein beim drittenmal fuhr ihm jählings der rote Kasper in die Nase: «Ach du einfältiges Affengesicht in deinem Thusneldahöschen!» schrie es in ihm, «wenn ich wollte! wenn ich dich nicht schonte! Was gilts, ich möchte handkehrum dein kindisches ‹Rha! Cha!› in ein schmachtendes Gugurr umwandeln. ‹Jetzt müssen Sie mich selber verachten› (Seufzer), ‹Wie kann ich fortan mei nem Mann und meinem Kinde› (Tränen), ‹Aber wirst du mir auch immer› (Umarmung), und so weiter der ganze übliche Trallala. – Doch halt! Hand davon! ob dus schon verdient hättest mit deinem albernen Getu. Ehebruch in Ehren; aber es muß wenigstens ein gesunder, gerader Ehebruch sein, Liebe um Liebe oder Lust für Lust; dagegen eine Frau hinterlistig mittels Kunst und Berechnung zu überrumpeln, eine unschuldige Familie aus gemeiner gekränkter Manneseitelkeit zu vernichten – denn die geht ins Wasser, wenn sie gefehlt hat, daran ist gar kein Zweifel – holla! so etwas tu ich nicht. Erstens, weil ichs nicht tue, zweitens, weil ich für meinen Lebensberuf eine saubere Seele nötig habe. Und dann ihr Mann, der mein Freund ist! Darum nein und nein und nochmals nein! Lauf hin und sag Dank, Bebé! Aber wenn du mich hassen willst, so tu es auch recht; was gilts, ich will dich mich hassen lehren, daß du vor Wut die Wände hinaufspringst. Ich aber werde gelassen einen Rettich dazu verspeisen. Je gründlicher du mich hassest, desto inniger solls mich freuen. Das glaubst du nicht? Getrost! ich werde dirs sogleich beweisen.»

Und begann sie – zwar immer in den Grenzen des Erlaubten, aber hart an der Grenze – aus Leibeskräften zu reizen und zu ärgern, zu welchem Zwecke er sich ihr rücksichtslos aufdrängte, schonungslos an ihrer Seite klebend. Je nach Laune bediente er sie mit Spott oder mit Hohn, auf geradem Wege oder auf Umwegen.

War seine Stimmung im Zeichen des Hohnes, so ließ er schauerliche Sprüche vom Stapel, welche ihre heiligsten Gefühle rundum drehten. Ob ihr nicht schon aufgefallen wäre, daß bei den Frauen oft eine erstaunliche Gemütsroheit zutage trete? Ob sie nicht auch schon beobachtet habe, daß man nirgends einen erschrecklicheren Mangel an Gemüt und Herz finde als bei den Musikbolden? Oder er bewunderte den treffsicheren Instinkt des Frauenherzens, welches mit wahrhaft genialer Unfehlbarkeit unter hundert Männern den größten Esel herausfinde, um sich in ihn zu verlieben. Oder befürwortete den Ehebruch als ein Erziehungsmittel für den Ehemann, damit er sich gegen seine Frau artiger betrage. Oder beklagte sein erbarmungswürdiges Schicksal, in diesem elenden Neste «zur Sittlichkeit verdammt» zu sein. Und warum man denn ihn und seinesgleichen Wüstlinge nenne, man müßte ihn vielmehr einen Schönling nennen, da er doch von der Schönheit des Frauenkörpers angezogen werde. Überhaupt, was das für ein verlogenes pharisäisches Gekeif gegen die Lüsternheit sei: «Wenn ich eine Frau unappetitlich finde, nicht wahr, so fühlt sie sich dadurch beleidigt; folglich, wenn mich der Appetit nach ihr lüstert, erweise ich ihr damit eine Huldigung, das ist doch klar.» Gelt, das schmeckt dir, wie wenn du eine Blindschleiche verschlucken müßtest? Wohl bekomms, darum laß uns fortfahren. «Was ich nie habe begreifen können, ist das, daß ein Seeräuber mit einer geraubten Jungfrau Umstände macht. Sie kann ihn ja doch nur mit dem Gesicht gehässig ansehen, nicht mit den Beinen; das Gesicht aber ist in solchen Fällen Nebensache.» Noch mehr in diesem Stil gefällig? nein? nun, darum also weiter. «Jeder Mann begehrt jeden Augenblick jede schöne Frau; wenn einer das abstreitet, so ist er entweder kein Mann, oder er lügt.»

Sie mochte ihm nicht die Ehre antun, mit ihm zu streiten; nur ihre Blicke verkündeten ihm: «Falls Sie etwa, mein Herr, das Unglück haben sollten, unter einen Eisenbahnwagen zu geraten, so würde ich das zwar aufrichtig bedauern, aber keineswegs beklagen.»

Worauf sein frecher Blick höhnisch erwiderte: «Gnädige Frau, falls Sie etwa geruhen, platzen zu wollen, so, bitte, sagen Sie mirs voraus, damit ich mir ein auserwähltes Stück sichere.»

War er gelinder gestimmt, so begnügte er sich mit der Verletzung ihrer Überzeugungen und Schulsätze, gegen ihren alpenrosenfarbigen Patriotismus, ihre hirtenselige Volksbegeisterung und dergleichen zielend.

Sie liebte auf Spaziergängen das Volkslied zu jauchzen: «Am Morgen in der Frühe, da melken wir die Kühe.» «Ja, können Sie denn überhaupt melken, Frau Direktor?» fragte er in bewunderndem Tone. – Und als sie mit einem andern Liede loreleite: «Jedem sag ich einfach du», klatschte er eifrig Beifall. «Es war schon lange mein stiller Wunsch gewesen, daß wir uns duzten.» – Neben ihrem Bruder war ihr besonderer Staat ein langbeiniger Vetter namens Ludwig, der jahraus, jahrein ruhelos Gipfel stürmte; diesen stürmischen Ludwig nannte er einen Duliehu. – Und überhaupt, warum denn seine lieben Landsleute sich so gewaltig viel auf die Alpen einbildeten? «Sie haben sie ja doch nicht gemacht; hätten sie sie machen müssen, so wären sie wahrscheinlich etwas flacher ausgefallen.» Ohnehin, ganz abgesehen von den Alpen, würde die leblose Natur gegenwärtig unendlich überschätzt; die kleinste Zehe einer schönen Frau wäre vor dem Antlitz Gottes wertvoller als der anspruchsvollste Gletscherklotz, und er gestehe offen, in einem tadellos sitzenden Zylinderhut mehr Seele und Geist zu entdecken als in einem Sonnenaufgang; «denn einen Sonnenaufgang kann ein Mammut begreifen; einen Zylinderhut dagegen bloß ein Kulturmensch von feinem Geschmack.» – Oder er erteilte ihr unerbetene Ratschläge. Beklagte sie die vandalische Zerstörung der heimischen Altertümer, so riet er: «Kanonen auffahren und den hölzernen Plunder zusammenschießen!» Bedauerte sie das allmähliche Verschwinden der Trachten und der Dialekte, so empfahl er, man solle Verbrecher zur Strafe in die Volkstracht stecken und den Dialekt auf erblich belastete Familien beschränken.

In solchen Stimmungen waren Namensumtaufungen sein Lieblingsvergnügen. Ihre gemeinsame stolze Vaterstadt nannte er Muhheim; die hiesige Politik eine periodische Aufregung darüber, ob man den Franz oder den Fritz wählen solle. Statt eine ‹Roheit› sagte er: ein ‹Patriotismus›, statt eine ‹Grobheit›: eine ‹Germanität›; Taktlosigkeiten nannte er ‹Dialektfehler der Seele›!

Zuweilen ärgerte er sie auf weiten Umwegen mit scheinheiliger, unschuldiger Miene. Zum Beispiel mittels Anekdoten und Denkwürdigkeiten, die er für den guten Zweck schlankweg erfand. – «Kennen Sie, Frau Direktor», konnte er harmlos anheben, «die Anekdote von der Gräfin Stepansky, Beethoven und dem Kapellmeister Pfuschini?»

«Ich will sie gar nicht kennen» – schnurrte sie, eine Bosheit witternd.

«Da haben Sie unrecht, sehr unrecht, denn sie ist ebenso lehrreich wie ergötzlich. Als die Gräfin Stepansky, welche den Beethoven und den Pfuschini gleichzeitig zu Tisch gehabt hatte, gefragt wurde, welchen von den beiden sie für den Bedeutenderen halte, den Beethoven oder den Pfuschini, zog sie ein überlegen gescheites Gesicht: ‹Das läßt sich nicht vergleichen; jeder in seiner Art; sie ergänzen einander.›»

«Überhaupt die Musik und die Frauen! Wollen wir einen Versuch anstellen, gnädige Frau? Lassen Sie das genialste Musikmädchen im Konservatorium ausbilden, halten Sie nachher jede männliche Anregung von ihr fern, und sehen Sie nach zehn Jahren nach: sie hat den Flügel abgeschlossen und sich eine Katze angeschafft. Den Flügel, weil sie keine Zeit hat, die Katze, weil sie nicht weiß, was mit der vielen Zeit anfangen.»

Und als sie wieder einmal im Gespräch den Überwert des Weibes vor dem Manne behauptete: «Ich würde Ihnen mit Vergnügen beipflichten» – sagte er, «wenn nur nicht die Frauen selber in unbeobachteten Augenblicken den Mehrwert des Mannes predigten.»

«?»

«Nun, freilich. Denn wenn einer Mutter nach sechs weiblichen Mißgeburten endlich ein Bub gelungen ist, so erhebt sie ein Siegesgegacker, als hätte sie den Messias geboren. Und alles Weibliche auf eine Quadratmeile im Umkreis eilt freiwillig herbei, um dem wundersamen Übermädchen unterwürfig zu dienen. Der ‹Bube›, der ‹Bubi›, der ‹Bub›! als wäre ein Bube ein Weltwunder. Aus dem Messias wird dann später ein Kantonsrat, wenns hochkommt.»

 

Mit alledem erreichte er in der Tat mühelos, was er erwartet hatte, nämlich ihren tiefsten, gründlichsten, herzinnigsten Abscheu. Nicht mehr «Rha! Cha!» rief sie bei seinem Anblick, sondern «Äh! Uäh!» wie vor einem schmierigen Lurch. Darüber frohlockte er dann, als hätte er weiß was für einen Sieg über sie errungen. «Siehst du jetzt», lachte er in sich hinein, «wie gleichgültig dein Urteil mir ist!» Und belustigt zog er einen Vergleich: «Von den Fröschen wolltest du sie erlösen, und nun bist du selber der Frosch.»

«Viktor, jetzt fange ich an, selber zu glauben, du bist wirklich verrückt.» «Ein Grund mehr, um verrückt zu tun», lachte er.

Da hörte er eines Nachmittags, gerade wie er um eine Straßenecke biegen wollte, hinter sich mit lauter Stimme rufen: «Lama!» Und als er sich jähzornig nach dem Rufer umdrehte, fuhr die Stimme fort: «Du brauchst dich nicht umzudrehen; ich bins, dein Verstand, der dich Lama nennt.»

«Mit welchem Rechte nennst du mich Lama?»

«Weil du mit Teufels Gewalt auf das Gegenteil von dem arbeitest, was du bezweckst.»

«Ich bezwecke ja gar nichts.»

«Doch, du bezweckst etwas, und ich will dir sagen, was. Du hast im geheimen, ohne daß du dirs selber gestehst, den Plan, das unerfahrene Dämchen dermaßen konfus zu ärgern, daß sie den Orient verliere und dir eines Tages vor lauter Horniszorn unversehens an den Hals fliege wie eine gewittertolle Bremse.»

«Und gesetzt der Fall, wäre denn die Berechnung gar so falsch? Es hat sich schon oft Weibeshaß urplötzlich in Liebe verwandelt.»

«Romani Romana», erwiderte der Verstand, «doch mach, was du willst, ich bin nicht deine Gouvernante!»

Viktor aber stutzte, von Zweifel berührt. Unsicher und verwirrt kehrte er nach Hause. Und wie er mit umsichtigem Geiste seine Stellung prüfte, erschrak er, von Schwindel ergriffen: er war auf einem falschen Wege; er hatte sich verstiegen. Nicht zu bestreiten, der Verstand hatte recht, Pseudas Haß war nicht von jener Art, die sich in Liebe verwandelt. Eine böse Entdeckung. Vorwärts konnte er nun länger nicht; denn nachdem ihm die geheime Hoffnung auf einen plötzlichen Umschlag geraubt war, hatte es keinen Sinn mehr, Pseudas Haß zu verstärken, das hieße ja nur, den Entfernungswinkel zwischen ihm und ihr zu vergrößern. Ja, aber was dann? Umkehren bis zum Ursprung und ganz von vorn anfangen? Sittiglich und sänftiglich zunächst ihren Haß beschwichtigen, hernach mühsam erst ihren Abscheu überwinden, hierauf die Abneigung heilen und dann geduldig, Schritt für Schritt, Stufe um Stufe um ihre gnädige Gunst werben? «Warum nicht gar! fällt mir nicht ein! Da müßte ich ja mein ganzes Selbstbewußtsein abdanken. Habe auch gar keine Zeit dazu. So weit sind wir übrigens, Gott sei Dank, noch lange nicht!» – Ja, aber wenn das nicht, was dann? Er mochte noch so scharf rundum spähen, nirgends ein Ausweg. Plötzlich stampfte er mit dem Fuße: «Wer verpflichtet mich denn, mich um sie zu kümmern? Mag sie bekehrt oder unbekehrt sein, im Sumpf oder im Tümpel waten, wenn sie will, was geht das mich an? Ich hin doch nicht ihr Beichtvater und Seelsorger. Oder meint sie etwa, ich gäbe Privatstunden in Psychologie? Viel zuviel Ehre, die ich ihr antat, sie zu ärgern. Aber ehe ich mich jemals wieder um sie bemühe, müßte sie mich erst angelegentlich darum bitten. Einstweilen fahr hin, ich kenne dich nicht. Was ist das – Frau Direktor Wyß? Lebt das im Wasser oder nistet es auf den Bäumen? Pickt es Körner oder frißt es Insekten? Gnädige Frau, haben Sie jemals einen Floh von einem Fingernagel springen sehen? Genau so springen Sie hiemit aus meinem Gedächtnis. Eins – zwei – drei! geschehen; nichts mehr. Pseuda, du bist nicht.»

Sprachs, drehte sich auf dem Absatz um und schlug ein Schnippchen. Oh, wie war ihm jetzt leicht, seit er dieses schädliche Geschöpf vergessen hatte! Ein böser Zahn, den er los war! Was nun mit der jungen Freiheit beginnen? Tausend köstliche Möglichkeiten winkten. «Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir uns zur Abwechslung einmal in jemand verliebten?» Ein guter Einfall! denn seit unvordenklichen Zeiten hatte er diesen kleinen Sirup nicht mehr gekostet; das ist doch unnatürlich! Und zwar womöglich in ein ganz untergeordnetes, ungebildetes Geschöpf, damit, wenn sies erfährt (und in diesem Klatschnest erfährt sies sicher), es sie ärgert und demütigt. Also zum Beispiel in eine ‹Kellnerin›. Zu diesem Zwecke begab er sich, seinen Widerwillen gegen den Alkohol und dessen Huldinnen überwindend, ins nächste Wirtshaus. Pamela hieß sie, die ihn bediente. Die nötigte er neben seinen Platz und kandierte sie mit Redezucker, indem er nach bewährter Regel die Teile ihres Gesichtes einzeln einmachte. Eine Weile hörte die Pamela schmunzelnd zu, sich behaglich schmiegend wie eine Schnecke unterm lauen Mairegen. Bis sie unversehens rauchend und zischend hinter den Käsekatheder schnurrte, wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten hat. «Dummkopf, alter, ungebildeter!» keifte ihr Gruß. Ach so, er hatte ihre Perlenzähne gepriesen, und sie besaß gar keine Zähne mehr. Er hatte es nämlich nicht einmal über sich vermocht, sie nur anzusehen.

Am drittfolgenden Tage eilte ihm Frau Direktor Wyß freundschaftsstrahlend über die Straße entgegen. Ei sieh, welch eine plötzliche Verwandlung! Was soll das bedeuten? «Man darf, scheints, Glück wünschen!» heuchelte sie, «auf wann die Hochzeit mit der Pamela?»

«Ach, du Verschmitzte!» – so hatte ers nicht gemeint.

Nein, mit der Liebe ging es nicht. Wie er gleich bei seiner Ankunft richtig geahnt hatte: auf diesem Kalkboden wächst keine Liebe. Versuchen wirs mit der Freundschaft. Ein gewisser Andreas Wixel, Archivar, war ihm hiefür besonders empfohlen, deshalb, weil ihn Frau Direktor Wyß nicht ausstehen konnte; einen scheuledernen Andreas pflegte sie ihn zu nennen. Für diesen Andreas verspürte er jetzt, unbekannterweise, plötzlich eine stürmische Zärtlichkeit, eilte, ihn aufzusuchen, und freundete sich ihm an, ganz gerührt von seinem scheuledernen Anblick. Der Wixel wiederum war gerührt von Viktors jäher Freundschaft, und um den Freundschaftsbund einzuweihen, verabredeten die beiden auf nächsten Sonntagnachmittag einen Ausflug auf die Guggisweid. Von dort stierten sie dann den unendlichen, schauerlichen Sonntagnachmittag auf die Stadt hinunter, zwischen einem kegelnden Turnverein und einer weinerlichen Blechmusik; Viktor stockstumm, die Blicke auf die Münstergasse geheftet, der Wixel querköpfiges Zeug über den Unterschied von Goethe und Schiller von sich gebend, in unerbittlichem Klavadatsch, daß es einen zum Erbrechen hätte erbarmen mögen. Es half nichts, Pseuda mochte sagen, was sie wollte, er war wirklich ein scheulederner Andreas, der Wixel.

Mit der Männerfreundschaft also war es auch nichts. Dann etwas anderes. Theater? Puh! was für ein Theater in dieser Stadt! Überhaupt liebte er nicht das Theater. Vielleicht ein Konzert? Gut; versuchen wirs mit einem Konzerte. Aber, o weh, da saß sie in der zweitvordersten Reihe, und mit einem Male tönten alle Instrumente falsch. Auch Besuche wurden ihm verleidet, dadurch, daß man ihm überall von einer gewissen sogenannten Frau Direktor Wyß sprach. «Wissen Sie nichts Neues von Frau Direktor?» «Wann haben Sie sie das letztemal gesehen?» und ähnliches. Dann suchte er mühsam an der Zimmerdecke in seiner Erinnerung: «Frau Direktor Wyß? Wo habe ich doch diesen Namen schon einmal gehört?» Sogar auf der Straße wurde er angeredet, damit er Nachricht über das Befinden einer Frau Direktor Wyß erteile, die ja doch gar nicht vorhanden war. Nein, er wußte zwar, daß es aufdringliche Weiber gibt, allein eine so unverschämt klebrige, harzige Klette wie diese sogenannte Frau Direktor Wyß hätte er doch nicht für möglich gehalten. O, diese Kleinstadt, wo man beständig über die nämlichen Menschen, oder wenn nicht über die Menschen, doch über ihre Namen stolpert! Wohin vor dieser unseligen, unvermeidlichen Direktorsgattin sich retten? Man müßte hinaus, weit hinaus aufs Land flüchten können, wo keine Ziege von ihr weiß.

Nun, warum denn nicht? Wozu ist denn die Eisenbahn da? Er erinnerte sich, einmal aus ihrem Munde den Ausruf vernommen zu haben: «Merkwürdig, ich bin in meinem ganzen Leben noch gar nie in Lengendorf gewesen.» Dieses Lengendorf war demnach erinnerungsrein, pseudasauber. Also fuhr er mit der Eisenbahn nach Lengendorf. Dort angekommen, gestattete er sich, um das Bewußtsein ihres Nichtvorhandenseins gründlich auszukosten, ein kleines, abgefeimtes Lustspielchen: Kaum ausgestiegen, begab er sich zum Bahnhofsvorstand und bat ihn mit der ausgesuchtesten Höflichkeit um die Gefälligkeit einer Auskunfterteilung. Er wäre nämlich nach Lengendorf gekommen, um eine gewisse sogenannte Frau Direktor Wyß zu besuchen; ob er vielleicht die große Liebenswürdigkeit haben würde, ihm den Weg nach ihrer Wohnung zu erklären. Der Stationsvorstand erstaunte, schüttelte den Kopf und rief den Kassier zu Hilfe; dieser den Türmann, der Türmann den Knecht vom Hirschen und den Kutscher vom Storchen. Sämtlichen war der Name Frau Direktor Wyß unbekannt. Der Polizeidiener, ferner einige Herumstehende mischten sich in die Frage. «In Lengendorf», lautete einstimmig der bedauernde Bescheid, «wohnt eine Frau Direktor Wyß nicht»; und betrachteten den Viktor mit Beileidsmienen. Dieser aber frohlockte in seinem Herzen: «Siehst du jetzt, du anspruchsvolle, zudringliche Person, nicht einmal das Dasein deiner Wenigkeit ist bei den Menschen bekannt; folglich, was dünkst du dich so über alle Maßen wichtig?» Diese saubern Lengendorfer, die von Frau Direktor Wyß nicht einmal den Namen kannten, taten ihms an; und mit herzgewinnender Leutseligkeit, wie ein Fürst, der inkognito abgestiegen ist, bezauberte er alles Lebendige, was ihm über den Weg lief, durch seine Liebenswürdigkeit. Den ganzen Tag spielte er den Kaiser Joseph; übrigens nicht nur äußerlich; nein, er hatte sie wirklich von Herzen lieb, diese guten, wackern, hochachtbaren Lengendorfer, welche Frau Direktor Wyß nicht einmal dem Namen nach kannten. Und die entzückende Umgegend, wohin sie nie den Fuß gesetzt! Diese freundlichen Waldhügelhäupter, nach welchen sie niemals einen Blick geworfen! Man atmete ordentlich auf in dieser Luft! Spürt ihrs nicht selber? Und pries das Lengendorfer Klima so überschwenglich, daß der Wirt zum Storchen, wo er eingekehrt war, von fremdenindustriellen Hoffnungen beschwingt, ihm mit flüsternder Stimme Preisermäßigung antrug, für den Fall, daß ihm etwa künftigen Sommer eine Luftkur in Lengendorf belieben sollte. Er hatte sogar keine kleine Mühe, seine schuldige Gebühr für das Mittagessen entrichten zu dürfen. Wie er am Abend schied, hatte er das ganze Dorf zu Freunden, vom Doktor und Pfarrer bis zum Hausknecht und Hofhund. Gerührt und glückselig fuhr er heim, denn selten hatte er so ungetrübte Stunden verlebt. Entschieden, er hatte das Landvolk bisher weit unterschätzt.

 

Noch ganz verträumt dem idyllischen Tage nachsinnend, drängte er sich bei der Heimkunft in die Stadt durch die Menschengruppen im Bahnhof. Pfui Ärger; da stand sie selber, im Gespräch mit dem Professor Pfininger, und mit der Seligkeit über ihr Nichtvorhandensein war es vorbei.

«Jetzt, bitte, wo sind die Naturgesetze? und was sagt denn dazu die Logik? Wenn sie nicht existiert, so kann ich sie doch unmöglich sehen; und wenn ich sie sehe, so muß sie doch existieren; sie existiert ja aber doch nicht, wie kann ich sie dann sehen? Da soll ein Sophist klug daraus werden! – Ich weiß nur noch ein einziges Mittel: ich schließe mich in mein Zimmer ein; durchs Schlüsselloch wird sie schwerlich den Weg finden!» Schloß die Tür, schob den Riegel vor, legte sich aufs Sofa und drehte die Daumen. Nachdem er eine Weile so gelegen hatte, erschien im Zimmer etwas wie ein Lichtnebel; der Nebel verdichtete sich mehr und mehr, ein menschliches Antlitz leuchtete daraus hervor, immer deutlicher und schöner, und siehe da, es war ihr Antlitz. «Jetzt, Pseuda», sprach er sanft, aber ernst, «jetzt rufe ich dein Billigkeits- und Gerechtigkeitsgefühl an. Gegen deine Abneigung, deinen Haß will ich nichts einwenden; die Straßen, die Stadt, die gesamte Außenwelt überlasse ich dir; aber den Hausfrieden achte; auf meinem Zimmer sollst du mich nicht heimsuchen.»

«Aber!! aber!! Viktor!!» belehrte ihn der Verstand, «sie ist ja doch nicht selber da, sondern einzig Schwester Anastasia Phantastasia gaukelt dir etwas vor.»

«Die könnte auch etwas Gescheiteres gaukeln!» meinte er ärgerlich.

«Ich gaukle, was ich will», maulte die Phantasie, «der Pseudakopf gefällt mir nun einmal; wenn du anderer Ansicht bist, so brauchst du einfach nicht hinzusehen, niemand zwingt dich dazu.» Und blieb bei ihrem Spiel; so daß Viktor nun auf seinem Zimmer, mit seltenen Pausen, beständig den Pseudakopf um sich schweben hatte; namentlich des Abends, wenn Dämmerung das Zimmer füllte. Was war da zu machen? Es scheint, er war nun einmal dazu verurteilt, immer und überall diese eingebildete, aufdringliche Null vor Augen sehen zu müssen. Schließlich: eine Störung ist noch lange kein Unheil; andere haben Mücken im Zimmer, er hatte Pseuda; der ganze Witz besteht darin, sich nicht darüber aufzuregen. Und fand sich mit der Tatsache ihrer Allgegenwart in Weisheit ab.

Plötzlich, wie eine Granate in ein Haus, schlug ihm die Nachricht zu Ohren, sie wäre krank. Das war abends gegen sieben Uhr; das Dienstmädchen hatte es heimgebracht. Nachdem er sich von seiner ersten Bestürzung erholt, verspürte er eine wilde Aufregung und Verwirrung, als hätte er einen Ameisenhaufen in sich und er läge mitten darin. Wie sollte er sich nun zu dieser Tatsache stellen? Von herzlicher Teilnahme konnte natürlich keine Rede sein; o, weit weg davon! Seine boshafte Feindin! die Verräterin der Parusie! die Vergifterin Imagos! Anderseits konnte er wieder nicht umhin, sie aufrichtig zu bedauern; denn sie war ja trotz allem in diesem Augenblick ein leidendes Geschöpf. Wo ist nun da die scharfe Trennungslinie? und welches ist die genaue, richtige Mitte? Eine schwierige Aufgabe für das Gefühl, und noch dazu eine gefährliche; denn wenn er Pseuda nur ein wenig zuviel bedauerte, so sähe es ja danach aus, als ob sie seinem Herzen nicht gleichgültig wäre; wenn er sie aber zu wenig bedauerte, so stand er da als ein gemütloser, hassenswürdiger Mensch. Diese Aufgabe war so schwierig, daß er sich bis Mitternacht den Kopf darüber erhitzte, und um Mitternacht war er nicht klüger als am Anfang, im Gegenteil. Und wehe! eine schlimme Möglichkeit! wenn es nun eine ernstliche Krankheit wäre! wenn sie am Ende gar –! Doch nein, das wäre ja geradezu eine teuflische Bosheit vom Schicksal, ihn durch solche niederträchtige Kunststücke zwingen zu wollen, dieser Verräterin herzlich gut zu sein. Und die andere Hälfte der Nacht verbrachte er in angstvollem Gebet an das Schicksal, daß sie gesund werden möge, damit er ihr nicht gut sein müsse. Durch diese heftige Gemütsarbeit war er dann am Morgen dermaßen verstört, daß er selber halb krank aus dem Bette stieg.

Das Frühstück verschmähend, eilte er in die Münstergasse. «Statthalter, wie geht es Ihrer Frau; hoffentlich nichts Schlimmes?» rief er ihm schon vom Hausflur angstvoll entgegen.

Der Statthalter erstaunte; «Warum? sie ist doch nicht krank; höchstens ein wenig Zahnschmerzen. – Aber warum nennen Sie mich denn Statthalter?»

«Nichts, nichts», jauchzte er und eilte erleichtert davon; das Schicksal hatte also sein Gebet erhört. Allein Zahnschmerzen, ob es schon nichts Gefährlicheres ist, das tut weh. «Halt! etwas Hübsches, sehr Hübsches! Weißt du –, unbeschadet des Kriegszustandes, in welchem ich mich mit Pseuda befinde –, zum Dank dafür, daß sie mir nicht krank geworden ist, will ich ihr jetzt auch etwas Artiges erwidern (man kann ja auch einen Krieg ritterlich führen). Also paß auf: während sie Schmerzen leidet – meinst du nicht? – will ich ebenfalls Schmerzen leiden, und zwar genau an der nämlichen Stelle, also an den Zähnen. Gelt, das ist fein? das ist hübsch? das ist eine höfliche Kriegführung? Ging hin und klingelte beim Zahnarzt Effringer, dessen Wohnung er leider schon kannte. Er solle ihm den und den Zahn ausziehen, begehrte er.

«Der Zahn ist ja ganz gesund! Sie meinen wahrscheinlich eher den faulen Stockzahn daneben? Um den Kerl wäre es allerdings nicht schade.»

Viktor kämpfte mit seinem Gewissen: Ist es auch anständig, mit dem Schmerz zugleich einen Nutzen zu verbinden? Schließlich entschied er sich doch lieber für den bösen Stockzahn als für einen gesunden.

Als dann der Effringer mit seinem Lachgas anrückte, meldete sich das Gewissen zum zweiten Mal: «Viktor, schäme dich! warst gekommen, um Schmerzen mit ihr zu leiden; und nun willst du Feiglings an den Schmerzen abmarkten.»

Wohl schämte sich Viktor. Allein in Anbetracht der unheimlichen Zange fand er es doch für zuträglicher, das tröstliche Zeug, das er zwar nicht verlangt hatte, nicht abzulehnen, als es freiwillig ankam. Um indessen sein Gewissen einigermaßen zu versöhnen, ließ er sich gleich noch einen zweiten Stockzahn ziehen, ebenfalls einen wurmstichigen, und wieder mit Lachgas.

Nachher auf dem Heimwege kam er nicht mit sich ins reine, ob er nun eigentlich etwas Ansehnliches geleistet habe oder nicht. Auf der einen Seite ist es doch nichts Alltägliches, sich zwei Zähne ziehen zu lassen, nur weil ein anderer Mensch Zahnschmerzen hat, andererseits sind zwei faule Zähne gerade kein so fleckenloses Opfer, und Schmerzen mit einem schmerzstillenden Mittel zu dulden, für dieses Martyrium hätte ihn schwerlich ein Papst heilig gesprochen.

Allein er fühlte sich plötzlich ein wenig angegriffen und schwach; so daß er sich gerne irgendwo hingesetzt hätte. Als Privatmensch aber, der niemals Wirtshäuser besuchte, verfiel er nicht auf diese nächstliegende Auskunft, sondern wußte im Augenblick keinen anderen Rat, als trotz der ungebräuchlichen Stunde (– es war ein wenig mehr als neun Uhr) die Gastlichkeit eines Bekannten in Anspruch zu nehmen. Frau Doktor Richard wohnte am Wege. Sie möchte gütigst entschuldigen, er fühle sich nicht ganz wohl. Eifrig besorgt machte sie sich um ihn zu schaffen; nötigte ihn aufs Sofa, zwang ihm ein Gläslein Malaga auf, das ihm wirklich gut tat, und als er sich dankend entfernen wollte, überredete sie ihn zu bleiben. «Sie sind immer noch ein bißchen blaß; ich versichere Ihnen, Sie stören mich nicht im mindesten.» – Als er ungefähr ein halbes Stündchen so dagesessen hatte, trat in Hut und Mantel ein lebhaftes, mutsprudelndes Fräulein herein. «Dieses hübsche Fräulein», sagte Frau Richard, «muß Ihnen besonders sympathisch vorkommen – abgesehen davon, daß sie ohnehin jedermann sympathisch vorkommt – oder nicht? –, ich meine besonders sympathisch, weil ihr Frau Direktor Wyß vor Zeiten einmal das Leben gerettet hat.» Darauf vorstellend: «Fräulein Marie Leona Planita, die beste Klavierspielerin unserer Stadt, und zugleich, wie Sie bemerken, das reizendste Geschöpflein, das jemals den Männern den Kopf verdreht hat.»

«Ja, ohne Frau Direktor Wyß wäre ich nicht hier», bestätigte Fräulein Planita mit einem auflodernden Dankesfeuer im Blick, «und ich machte nicht so viele Dummheiten im Leben und Fehler in den Oktavengängen.» «Ja», lachte sie, «sie hat mich aus der Taufe gehoben.»

Frau Doktor Richard gab ihm mit zwei Worten Aufschluß: Es war in der Schulzeit gewesen; beim Baden war die Marie Leona in eine Tiefe geraten, und die schöne Theuda (wie sie schon damals allgemein genannt wurde) hatte sie herausgezogen.

«Nur so eins, zwei in den Kleidern ins Wasser gesprungen, als wäre das die natürlichste Sache der Welt», ergänzte Fräulein Planita. «Ich sehe noch ihren Blick vor mir, wie er mich traf, als ich so mit den Händen herumpatschte und nicht schreien konnte, weil ich den Mund voll Wasser hatte. Ich hatte noch nicht einmal Zeit, tot zu sein, so war ich schon wieder am Leben. Aber übel war mir nachher! übel! das kann ich Ihnen sagen! – Ja, es gibt zwar viel Schönes in der Musik, und ich bin gewiß die erste, dies mit dankbarer Bewunderung anzuerkennen, aber alle Musik zusammen reicht doch an Schönheit nicht an den einzigen Blick heran, der mir zurief: ‹Getrost, Marie Leona, ich helfe dir.› Ein halb Dutzend Mädchen badeten in meiner nächsten Nähe, sie hätten bloß die Hand auszustrecken gebraucht; aber nicht eine von ihnen hat etwas gemerkt; sie hätten mich alle verzappeln lassen. – Und keins von uns beiden konnte schwimmen, weder ich noch Theuda. Wie wir da nicht beide zusammen ertrunken sind, begreife ich heute noch nicht.»

Bei dieser Erzählung machte Viktors Herz ein Gesicht wie der Bauer, wenn ihm ein Meteorstein vor den Pflug fällt. Wie bringt diese boshafte Frau Direktor Wyß es fertig, einer solchen edlen Aufopferung fähig zu sein? Oder versparte sie vielleicht ihre ganze Bosheit nur für ihn? Warum aber gerade denn für ihn? Hundert Gedanken pochten ungestüm an seinem Geist um Einlaß. Allein er vermochte gegenwärtig keinen Gedanken anzuhören; er mußte nur immer dieses frische, lebhafte Jüngferlein ansehen, welches ohne Frau Direktor Wyß im Grabe modern würde. Und als Fräulein Planita sich erhob, bot er ihr sein Geleit an, um die mit einem Wunder Behaftete noch länger ansehen zu können. «Darf ich Sie heimbegleiten, Fräulein Lazarus?» fragte er.

Sie lachte. «Ja, Fräulein Lazarus, so kann ich füglich heißen.»

«O, jetzt ist mir um unsern Viktor nicht mehr bange», scherzte Frau Richard, «denn wenn der ein hübsches Fräulein heimbegleiten darf, ist er augenblicklich genesen.»

 

Nachdem sich Viktor von Fräulein Lazarus verabschiedet hatte, fuhr er in seinen Gedanken fort: Wenn ich am Ertrinken gewesen wäre, mir hätte sie nicht die Hand gereicht! O nein! mit Steinen hätte sie nach meinem Kopf geworfen! Doch halt! wer kommt dort? Fast hätte ich geglaubt – wahrhaftig sie ist es: die leibhaftige Pseuda! Anscheinend ganz gesund und fröhlich, nicht einmal die bewußte Unglückswatte um die Wangen. Jetzt, das ist merkwürdig, das gibt zu denken: hatte vielleicht das Opfer seiner beiden Zähne ihre Peiniger besänftigt? Eigentlich Wahnsinn; immerhin doch nicht ganz unmöglich. Im Bewußtsein seiner verdienstlichen Opferhandlung schritt er ihr ein wenig zuversichtlicher entgegen als sonst. Beinahe ein kleines Wörtlein des Dankes erwartete er. Siehe, da gaffte sie ihn fremdsachlich an, als ob sie ihn nicht erkenne, drehte sich abseits und betrachtete aufmerksam in gebückter Haltung, bis er vorüber war, einen Hut im Fenster einer Modenhandlung.

«Gut so! fahr weiter! jetzt grüßt sie mich nicht ein mal mehr! das fehlte eben noch!» Und mit königlicher Verachtung den Arm ausstreckend: «Da hast dus, so sind die Menschen! Während du dir ihretwegen die Nächte vergällst, den Schlaf versagst, verweigert sie dir den Gruß!» Und so niedrig schien ihm ihr Verhalten, daß er es mit erhabener Gleichgültigkeit aus dem Sinn warf. Aber empörend war es doch gewesen. Und die Empörung wühlte nun nachträglich seine Seele auf, mit jedem Schritt heftiger, unter bittern Gedanken, so daß es ihm schließlich geradezu wehe tat, als ob man in seinem Zorn ein Messer umdrehte. Entschieden, es war so: alles Böse ihm, das Gute den andern. Immerhin, wenn mans bedenkt: es braucht doch eine bodenlose Schlechtigkeit dazu, mit Steinen nach einem Ertrinkenden zu werfen! Und würgte beständig an dem bösen Brocken. Was aber geradezu teuflisch war: sie hatte gerade heute äußerlich noch viel schöner ausgesehen als je, seit er die Geschichte mit Fräulein Lazarus wußte.

Plötzlich tauchte in dem Erinnerungsbilde ein fraglicher Punkt auf: «Hat sie nicht hinter den Augen heimlistig gelächelt, als sie dich so fremdsachlich angaffte? ihr Blick schien mir verdächtig.»

Er kam den ganzen Tag nicht zu einer bestimmten Ansicht hierüber. Aber als ihm abends im dunkeln Zimmer wie gewöhnlich wieder der Pseudakopf erschien, und zwar noch leuchtender als sonst, siehe da, kein Zweifel mehr, jetzt sah er es mit aller Deutlichkeit: sie lächelte heimlistig hinter dem Blicke.

Darob wallte sein Zorn: «Was soll dies Lächeln?» rief er drohend, «Lächeln ist eine vieldeutige Sprache; ich fordere redliche Auskunft. Pseuda, ich befehle dir, mir zu sagen, aus welchem Grunde du hinterlistig über mich lächelst.»

Anstatt einer Antwort erschien jetzt mitten zwischen dem hinterlistigen Lächeln ein spöttischer Punkt, der sich mehr und mehr vergrößerte.

Darob entfuhr ihm ein Wutschrei: «Weib, boshaftes! spotte nicht! Genug, daß du mich mit deinem giftigen Hasse verfolgst, täglich und stündlich hinter mir her, ohne Ruhe und Unterlaß, mit Steinen nach mir werfend, wenn ich ertrinke, aber spotte nicht, verstehst du, spotte nicht, das verbiete ich dir.» Allein der spöttische Punkt blieb, als ob er nichts gesagt hätte; und siehe, jetzt erschien, von unsichtbarer Hand bewegt, ein triumphierendes Siegesfähnlein über dem leuchtenden Spottgesichte.

«Was triumphierst du?» schrie er. «Was für einen Sieg hast du denn über mich errungen? Ich wüßte nicht, welchen! Also bitte, im Namen des guten Geschmackes, tu mir den Gefallen, laß das alberne Triumphtüchlein unterwegen!»

Doch es war, als ob er nichts gesagt hätte. Das Siegesfähnlein blieb, und sieh die neue Bosheit: das Spottlächeln ihrer Augen versetzte sich abwärts um die Mundwinkel, welche sich jetzt zu frechem höhnischen Grinsen verzerrten. Und das Grinsen nahm mehr und mehr einen höllischen Ausdruck an. Schließlich wurde aus dem Menschengesicht eine Teufelsfratze mit Hörnern und Schnabel, so eine Art höllischer Spottvogel, der aber doch zugleich die schönen Züge Pseudas aufwies.

Das war denn doch Viktors klarem Geiste zu viel. «Hinweg, Phantom!» rief er und schlug nach dem Phantom. Da barst das Phantom entzwei und flüchtete nach allen Seiten. Aber langsam, langsam kehrten die einzelnen Teile zurück, aus der einen Ecke das Siegesfähnlein, aus einer andern der teuflische Spottvogel mit Hörnern und Schnabel und aus der dritten Pseudas schönes Menschenangesicht; und sämtliche Teile blieben fortan durch einen Zwischenraum getrennt. Statt eines einzigen Phantoms hatte er nun drei. Da überfiel ihn bleiche Angst. «Viktor, was ist jetzt das? Bist du etwa wahnsinnig?» Mit scharfem Geiste prüfte er seine Gesundheit. «Was ist das Merkmal des Wahnsinns? Daß man Phantome nicht für Phantasiegebilde erkennt, sondern mit der Wirklichkeit verwechselt. Tust du das?» «Fällt mir nicht ein; ich weiß gar wohl, daß ich bloß einen Phantasiespuk vor mir habe, nur gelingt es mir eben nicht, mit dem Willen den Spuk zu beseitigen, weil ich eben mit einer übermächtigen Phantasie behaftet bin.»

«Dann gut, laß die Phantasie spuken und kümmere dich nicht darum.» Und beruhigt legte er sich schlafen.

Den nächsten Morgen, wie er im nachtschwarzen Zimmer die Augen öffnete und bei allmählich erwachendem Bewußtsein durch den Gedankennebel die Erinnerung sich zu regen anfing, gewahrte er den ganzen Spuk von neuem: das triumphierende Fähnlein, den höhnisch grinsenden Teufelsvogel, die schöne menschliche Pseuda.

«Ja, soll jetzt das so fortgehen?» Es ging so fort. Sein gesamter Lebensinhalt, Sekunde für Sekunde ward jetzt der Kampf mit seiner Phantasie, die Berichtigung des Phantoms, die bange Sorge, nicht etwa den Spuk mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Eine angestrengte, fürchterliche Arbeit, die für keinen anderen Gedanken mehr Raum ließ. Und das Verzweifeltste dabei: die Arbeit war zugleich nötig und zugleich vergeblich; nötig, damit er dem Wahnsinn entrinne, vergeblich, weil, was die eine Stunde mit unendlicher Mühe erstritten hatte, die nächste Stunde wieder vernichtete. Als wäre nichts gewesen; vom Morgen bis zum Abend immer das höllische Trio ihn umschwebend, erbarmungslos, ohne einen Atemzug Pause. Und statt zu schwinden, wuchs es ins Riesige, ins Ungeheuerliche. In der Finsternis grinste es ihn aus den Zimmerecken an, am Tage vom Fenster, von den Dächern, von den Hügeln, von überall.

Wahnsinnig wurde er nicht, aber rasend. Es kam vor, daß er wutschreiend durch die Wälder rannte, daß er einen Menschen, der friedlich mit ihm sprach, plötzlich wild anfletschte, weil er das höllische Phantom zwischen sich und jenem erblickte. Und in seinem Innern flutete unaufhörlich ein schwarzer Strom, das Bewußtsein umkreisend, mit roten Flecken darin, als ob aus einer Wunde blutige Tinte quölle.

Eines Abends unterlag er der Müdigkeit: «Ich kann einfach nicht mehr, ich weiß nicht mehr aus und ein.»

Da war ihm, als ob er einen schönen Mann neben sich erblickte, der ihm die Hand auf die Schulter legte. «Viktor», sprach der schöne Mann, sonst nichts.

Viktor schaute den schönen Mann kummervoll an, darauf senkte er die Stirn, die er mit den Händen stützte. «Ich will gut sein», murmelte er schließlich, «das ist das einzige, was ich noch verstehe.»

«Ja, sei du gut», tröstete der schöne Mann, «alles übrige, Wahnsinn oder nicht Wahnsinn, ist ja schließlich Nebensache.»

Nach diesen Worten versiegte der schwarze Strom mit der blutigen Tinte aus der Wunde. Die Gespenster dagegen beharrten nach wie vor.

Das war an einem Donnerstag. Am Samstagmorgen gewahrte er sie leibhaftig auf der Straße, etwa einen Steinwurf entfernt vor ihm einhergehend, durch andere Leute von ihm getrennt. Ah, hab ich dich endlich! seufzte er auf und eilte ihr im Laufschritt wolfsgierig nach. Und da er die Augen des schönen Mannes auf sich gerichtet sah: «Keine Besorgnis! weder ein scharfes Wort noch eine unziemliche Bemerkung; nichts als dem tückischen Feind, der mich aus dem Unsichtbaren hetzt, in die Augen sehen.»

Als er sie eingeholt hatte, erstarrte er, sprachlos vor Verblüffung. «Nichts als das?» Zusammengeschrumpft in kläglicher Begrenzung, lächerlich klein, das Ganze kaum ein Meter achtzig hoch, schritt sie einher; nichts von ihr außerhalb ihrer Haut; keine Phantome um sie herum, keine Spiegelfechterei, keine Ungeheuerlichkeit. Und der geschmacklose Hut, den sie aufhatte! Welch eine erbärmliche Entpuppung!

 

Hiermit hatte er den Talisman gegen ihre teuflischen Gaukeleien gefunden. Er brauchte sie nur körperlich vor sich zu haben, so war es mit ihren Zauberkünsten vorbei. Offenbar – mit Hinterlist ist ja meistens Feigheit gepaart – fürchtete sie sich vor ihm. Deshalb begab er sich nun so oft als möglich zu ihr heim und bannte sie mit seinen drohenden Blicken, vor ihrem Gesichte lauernd wie die Katze vor dem Mauseloche. «Gelt, du getraust dich nicht?» und weidete sich an ihrer Ohnmacht. Eigentlich, es nahm ihn doch wunder, hätte er gerne einmal mitangesehen, wie sie den Gespensterspuk bewerkstellige; ein Frauenkopf plötzlich in einen Vogelkopf verwandelt, das sieht man nicht alle Tage. Zu diesem Zwecke, also um sie beim Gesichtertausch zu überraschen, blickte er sie zuweilen, wenn sie es am wenigsten erwartete, blitzschnell an. Doch vergebens, sie war geschwinder als er.

Die Phantome aber, da sie sich entlarvt sahen und inne wurden, daß sie ihren Meister gefunden hatten, gaben das Spiel auf, erschienen noch ein paar seltene Male, doch ohne Überzeugung, nur um das Gesicht zu retten; endlich blieben sie gänzlich aus.

Das hätte noch eine unabsehbare Weile so weiter gehen können.

Da ereignete es sich eines Abends, im Beisein eines anderen Gastes, aber in Abwesenheit des Statthalters, daß sie dem andern, nachdem sie verschiedene gleichgültige, unnütze Lieder vorgetragen hatte, auch jenes Lied singen wollte, das sie einst ihm, dem Viktor, in der Parusie gesungen hatte. Sie tat das ohne Arg, da ja für sie jenes Lied einfach ein Musikstück wie jedes andere bedeutete. Er aber spürte vor der bevorstehenden Entweihung seines heiligsten Besitzes einen wahnsinnigen Schmerz toben. «Das Ewigkeitsgold der Parusie durch gemeine Übermalung besudeln! Das Grab Theudas, ihrer Schwester, meiner Braut, einem Fremden vorzeigen! fühllos, lediglich zur Kurzweil, noch dazu in meiner Gegenwart! Ist das nun Teufelsbosheit oder Vertiertheit?» Ohnehin mit Wort und Rede kläglich beschlagen, verlor er in solchen Zuständen höchster Erregung die Stimme. Stummen Entsetzens verfolgte er, wie sie das Notenheft, jenes nämliche Heft von damals, nur mittlerweile ein wenig an den Rändern angegilbt, hervorkramte und gleichgültig auf dem Klavierpult ausbreitete. Als sie sich jedoch zum Singen zurückstellte, erzwang er, vorspringend, gewaltsam die Sprache: «Dieses Lied werden Sie nicht singen!» verbot er. Er hatte flehentlich darum anhalten wollen, allein Schmerz und Empörung verwandelten ihm unterwegs vom Herzen zur Stimme die Bitte zum schroffen Befehl.

Heftiger Unwille rötete ihre Stirn. «Ich möchte denn doch wissen», trotzte sie, «wer sich erlaubt, mir verbieten zu wollen, jene Lieder zu singen, die ich will.»

«Ich», stöhnte er.

Jetzt erst, jetzt erst recht mochte sie das Lied singen; seinem anmaßlichen Verbot zum Trotz. Öffnete den Mund und sang wahrhaftig das Lied der Parusie; wahrhaftig, sie sang es, erbarmungslos, eine unendliche Zeit, von der ersten Note bis zur letzten. Und er mußte dabeisitzen und es über sich ergehen lassen. Er fand die Kraft, an sich zu halten und sich nicht zu bewegen. Kaum aber hatte sie geendet, so lud er seinen Blick mit leidenschaftlicher Beleidigung, stand auf, trat vor sie hin und warf ihr aus den Augen ins Antlitz Verachtung.

«Halt da!» drohte ihr Auge zurück. «Entschlüpft Ihnen jemals ein einziges unehrerbietiges Wort –»

Nein, so konnte es nicht weiter gehen; es mußte sich etwas entscheiden. Und neugierig, obschon vergeblich, befragte er seine Ahnung, was.