BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carl Spitteler

1845 - 1924

 

Hanns Sachs über Spittelers Roman «Imago»

 

Hanns Sachs war Schüler Sigmund Freuds und seit 1912

Herausgeber der Zeitschrift «Imago - Zeitschrift für die

Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften»

 

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Hanns Sachs, Psychoanalytiker und Schüler Freuds, nennt Spittelers «Imago» nicht nur ein «Meisterwerk des psychologischen Romans, das uns vielerlei gelehrt und gewiesen ... hat», sondern bekennt, daß Spitteler die Tiefenpsychologie «durch ein unentbehrlich gewordenes Kunstwort bereichert» habe, so daß es «kaum möglich gewesen wäre, ein anderes zu wählen, als wir daran gingen, dieser Zeitschrift ihren Namen zu geben ... Wohl war uns der Mechanismus der ‹Zerlegung› einer Person in mehrere als charakteristisches Symptom einer Geisteskrankheit (der Paraphrenie oder Schizophrenie) bekannt, und wir wußten auch, daß die Psychosen nur das verzerrte Bild eines normalen Vorgangs bieten. Damit war aber nur eine äußerliche Betrachtungsweise gewonnen, den Einblick ins Innere hat uns selbst der Dichter eröffnet und zugleich den treffenden Terminus gegliedert. Die Wichtigkeit dieser Erfahrung kann kaum überschätzt werden, denn nur durch sie gelangt man dazu, das Kernproblem der Psychoanalyse, den Ödipuskomplex, richtig zu werten. Es schien weder erträglich noch glaubhaft, daß alle Menschen ein auf ihre nächsten Verwandten berichtetes verbotenes Begehren ihr ganzes Leben lang in der Brust verschlossen tragen sollten. Erst wenn wir einsehen, daß es im letzten Grunde nicht Vater und Mutter des aktuellen Lebens sind, denen jene Gefühle gelten, sondern des Vaters und der Mutter ‹Imago›, ihr in unbewußter Phantasie bewahrtes Erinnerungsbild aus der ‹Parusie›, ... dann begreifen wir den Sinn jener durch das ganze Leben fortwirkenden Ödipuseinstellung ... Viktor, der Held des Buches, bildet aus allen seinen Gedanken und Wünschen Gestalten, die für ihn selbständiges Leben gewinnen, ein Wahnsinniger also, wenn er nicht ein Dichter wäre. So aber weiß er immer noch die Oberhand über seine Kreaturen zu gewinnen; statt sie fälschlich in die Realität zu versetzen, wie es ihm die Versuchung nahelegt, gründet er für sie eine neue Welt, in der sie frei wirken und walten können, ‹das Reich, welches reiner ist als das Reich der Wirklichkeit, aber wesenhafter als das Reih der Träume› - seine Kunst.»

 

Entnommen dem Nachwort Werner Stauffachers in der

Suhrkamp-Ausgabe des Romans «Imago», Frankfurt am Main 1990