B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Johanna Spyri
1827 - 1901
     
   



B r i e f e

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Johanna Spyri an Betsy Meyer

      Liebe Betsy.
      Ich habe mit Sehnsucht deinem Briefe entgegen gesehn, u. da er endlich am stillen Samstag Abend ankam, da habe ich meinen Kopf auf das Blatt gelegt u. mich ausgeweint. Ich möchte zu dir reden, aber ich weiß nicht wie, ich bin so arm, u. in meinem Herzen ist nicht die Ruhe u. Gewißheit, die wohl thut. Und doch möcht ich zu dir reden, ich sehne mich nach dir, ich möchte dich hören. Es hat mich ergriffen wie aus dem tiefen Schmerz heraus deine Worte ertönen wie Sieg:

      «Ich danke dir, Herr Jesu Christ,
      Daß du der Erst u. Letzte bist,
      Der Anfang u. das Ende.»

Das hat mich wie eine Gewalt gefaßt; u. doch kann ich es nicht fest halten, ich habe es nicht erlebt. Liebe Betsy, komm doch bald wieder u. bleibe hier bei uns, du gehörst zu uns, u. unter uns lebt viel Liebe für deine theure Mutter. Dann wird mir auch wieder anders werden, jetzt mag ich fast nicht mehr zur Felicie gehn, wenn ich den Hof hinunter sehe so überkommt es mich so herzlich traurig daß ich von der ganzen Welt weggehn möchte, u. schweigen u. nicht mehr reden hören. - Liebe Betsy, ich habe selber in mir das Gefühl der Nichtigkeit alles dessen das ich anstrebe, u. all mein Thun u. Leben ist mir Zwang; es ist mir wohl wenn ich mit Jemand bin der Gewißheit im Herzen hat; deine Worte lese ich immer wieder mit Verlangen. -
      Ich lebe abgeschlossen u. still mit meinem kleinen Bernhard. Die Felide ist auf viele Seiten in Anspruch genommen, das innere Bedürfniß nach mir ist nicht mehr so lebendig, mir sehr begreiflich, besonders um der Stimmung willen in der sie mich seit geraumer Zeit findet; Netti Fries ist fort, meine Schwester lebt ihren Kindern, so seh ich Niemand u. entbehre es nicht. Daß du mir wieder kehrst ist mir ein großer Gewinn. -
      Meine Mutter war u. ist tief traurig, sie schreibt mir in jedem Brief von deiner seligen Mutter; sie sagt mir sie hätte gern an dich selber geschrieben, aber noch wollte sie warten, ich sag ihr aber sie soll es thun, ich weiß es wird dich freun, denn du kennst ihre Liebe zu deiner theuren Mutter. -
      Die gute Felicie hat dir wohl schon die schönen Plane angedeutet die sie auf deine Zurückkunft macht; sie macht sie in großer Liebe, ihr Herz ist wirklich golden; noch wirst du nicht weiter gedacht haben, aber mich verlangt zu wissen wie sich dein Leben gestalten wird. Ich fühle im tiefsten Herzen die Leere der kommenden Tage mit dir, wenn du in die alten Räume treten soll'st wo der milde Liebeshauch deiner Mutter nicht mehr um dich weht. Ihren freundlichen Händedruck voll zarter Festigkeit fühl ich immer noch, so hat ihn Keiner mehr; immer gleich liebevoll war ihr Entgegenkommen wenn ich in die stille Stube trat, u. so wohlthuend ihre milden Worte. Ich hatte deine Mutter lieb, Betsy! -
      Adieu, liebe Betsy, schreibe wieder, u. behalte mich lieb, wie ich dich aus Herzensgrund. Spyri grüßt dich freundlich, er nimmt herzlich Theil an Euerm Schmerz; auch deinen Bruder grüße von uns. In Treue

      Johanna.

      Zürich 11. XI. 56.


Johanna Spyri an Betsy Meyer

      Liebste Betsy,
      ich danke dir für deine Liebe, ich danke dir für deine Worte, die mir im Herzen wohlgethan; es macht mir immer wohl bei dir zu sein, am meisten wenn du ganz bei mir bist, aber auch wenn ich im Schreiben zu dir kann, oder du zu mir kommst; ich habe dein Wesen lieb im tiefsten Herzen. Und ich kann dennoch mein Herz nicht auf die Lippen bringen, auch vor dir nicht, die du mir nahe stehst, auch vor meiner eignen Mutter nicht; morgen will ich zu meiner Mutter gehn nach dem Hirzel, u. will ihr zeigen daß in mir zusammengebrochen ist was in mir gelebt, alle Kraft u. Freudigkeit, aber weiter kann ich nicht reden. Ja, liebe Betsy, eine Schuld liegt auch auf meinem Herzen, aber ich weiß ja nicht, ob es wirklich das Gefühl dieser Schuld ist, das mich so tief nieder beugt, ob es nicht ein Anderes ist, das damit zusammen hängt. Ja, dem Herrn sollte ich angehören, u. wenn die Zeit kommen kann, da ich mich ergeben, da ich Alles in Gottes Hand niederlegen kann, u. aus tiefer Seele sagen: dein Wille geschehe! Dann wird das Dunkel vorüber sein u. der Morgen tagen. Nein, das denke nicht, liebe Betsy, es hat mich Keiner verletzt, o wie wenig brennt eine Verletzung, die wir empfangen gegen eine solche die wir thun, u. immerfort thun, wenn auch nur in Gedanken u. im Herzen. O wie oft kehre ich zu meinem Psalm zurück, u. lasse mir die Seele stillen im tiefen Flehn: «Laß mich frühe deine Gnade hören, denn ich hoffe auf dich; thue mir kund den Weg den ich gehn soll, denn mich verlanget nach dir; lehre mich thun nach deinem Willen, denn du bist mein Gott, dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn!» - Ich bin viel bei dir, liebe Betsy, u. mich beschäftigt dein Leben u. wie es sich gestaltet in der neuen Athmosphäre; schreib doch bald wieder, auch wie dir zu Muth ist, u. dann komm uns bald wieder; das ist mir eine liebe Aussicht, daß du mir wieder heim kehrst, nach nicht gar zu langer Zeit. -
      Gestern Abend hat dich mein Kleiner ganz aus freiem Antrieb in sein Gebetlein eingeschlossen; er hat dich nicht vergessen; die Felicie nennt er beharrlich: Tante Betsy. Felicie u.Mineli werden morgen mit mir u. dem Buben nach dem Hirzel kommen, am Abend kehren wir wieder zurück. Werden wir im Leben auch noch einmal zusammen in diesen Hirzel kommen? ich möchte dir meine Heimat einmal zeigen, so reich an Erinnerungen, u. so reich an unaussprechlicher Schönheit. - Ich sehe oft die Felicie, sie ist gut u. liebevoll; es gibt wohl immer Momente da ich mit Einem Mal einen kleinen Stoß bekomme, aber ihre Liebe macht's immer wieder gut, u. es geschieht wirklich malgré elle wenn sie ihre eignen u. die Worte Anderer oft in zu starke Farben taucht, oder eine kleine Gewaltthätigkeit an Einem ausübt, wie wirklich kürzlich an mir, aus lauter sorglicher Liebe. -
      Draußen ist es grüner Frühling geworden; die Kastanienbäume blühn, die rothen u. die weißen, im ersten Erwachen, u. über dem Ütliberg-Wald liegt der Schmelz der Morgensonne; es sieht aus wie vor Zeiten; u. ich schaue durch das offene Fenster in die Herrlichkeit hinaus, u. denke: «Selig sind die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.» - Liebe Betsy, ich schreibe dir mit schwerem Herzen u. meiner frohen Stunden sind wenige; u. doch habe ich für so Vieles zu danken, ich erkenne es wohl, aber mit dem Herzen kann ich es in diesem Augenblick nicht empfinden. Ich will mich in der Stille halten u. auf Gott vertrauen. -
Die Felide hat mir herzliche Grüße an dich aufgetragen, Spyri grüßt dich sehr, du hast in hohem Maaß seine Neigung gewonnen durch deine Freundschaft für den Kleinen, er behauptet du habest ein besonderes Verständniß für den Buben; ich streite es ihm gar nicht ab.
Erzähle von dir, wenn du Zeit findest, oder rede auch nur ein paar Worte aus dem Herzen zu mir, aber rede bald wieder, liebe Betsy, ich bin viel bei dir u. grüße dich in Liebe u. Treue.

      Johanna.

      Z. 13. V. 57.


Johanna Spyri an Betsy Meyer

      Zürich 23. Oct.58.

      Meine liebe Betsy.
      Es ist sehr traurig daß Du fortbist; schon ist glücklicherweise einer unserer Donnerstage vorbei; u. ich zähle: nur noch drei Mal; u. dann bist Du wieder da, nicht wahr? Ich war ganz unglücklich daß ich meinen letzten Besuch bei Dir bis zum letzten Tage aufgeschoben hatte, ich wollte ihn zum letzten Eindruck haben. Nun kam auf einmal am Dienstag Abend die Nachricht, ich sollte am Mitwoch nach Bubikon kommen, nun hatt ich vollauf zu thun um nur flott zu werden für ein paar Tage mit meinem Buben. So konnte ich Dir kein letztes à Dieu sagen, hatte es aber tief für Dich im Herzen. Von Mitwoch bis Freitag waren wir allein, dann kam Herr Hofmeister an, u. wir hatten ganz freundliche, sonnenbeleuchtete Tage zusammen.
      Gestern Abend habe ich einen sehr lieblichen Abend bei der Frau Orelli zugebracht; sie hatte mich nur zu sich eingeladen, was wie Du weißt ganz nach meines Herzens Sinn war. Der freundliche Herr Orelli wohnte unserm Thee bei, u. nach einiger Zeit wollten alle sieben Kinderlein herein u. hockten sich um das brennende Kamin in die Runde. Die Kinder sind alle nicht hübsch, aber sehr wohl gezogene, gesunde, anmuthige Geschöpfchen. Nachher saß ich lange allein mit Frau Orelli zusammen, sie ist mir sehr lieb geworden; ich glaube sie hat viel durchgemacht u. hat gelitten, sie sagt einfach daß sie dem Heiland angehört, es war mir wohl um sie - u. dennoch, liebe Betsy, ich weiß nicht wo es steckt, in mir, oder in ihr, ich fühlte doch ein Fremdes, ein Etwas, das mich in ihrem Herzen nie daheim sein lassen wird wie in dem Deinen, sie ist nicht verzehrt vom Leiden «zerrissen in den Gründen.» Ich kann mich auch täuschen, denn ich sah sie doch zum ersten Mal ganz nah; wie dem auch sei, am liebsten wollt ich Du wärest wieder bei mir.
      Und nun von Dir u. Deinem Leben; wie ist Dir in Genf? Siehst Du Hrn. Naville's? Sieh nur für mich auch etwa nach Hrn. Naville, versteht sich ganz aus gehörigerFerne, hingegen die freundliche Mad: Albertine grüße mir nur recht in der Nähe, u. sag ihr sie soll doch mit Dir heim kommen - oder eigentlich lieber ein ander Mal so hab ich Dich erst wieder recht für mich. Alles aus Interesse! Was ist auch überhaupt Dein Lebenslauf, u. bringst Du mich nicht zum guten Schluß am Ende doch noch um einige Wochen? Sag mir's lieber zur Zeit, so kann ich mich eher fassen.
            In Zürich begegnet gar nichts. D. h. ich weiß eben von nichts; ich sitze in meiner hintern Stube u. schaue hinaus wie der Bergwald sich röthet, u. höre nichts von Welt u. Menschen. Diese Woche war zwar einmal die Felicie bei mir, es ist mir aber ganz entschwunden wie es war.
      Daneben schleich ich umher still u. wenig froh, u. trage schwer an mir. O daß ich nicht mehr an mir tragen müßte, sondern mich in die hohe Fluth der Gnade stürzen könnte daß sie mich ganz bedeckte. Es ist ein tiefes, zähes Festhalten an Sünde u. Verderben daß ich nicht ganz u. voll Vergebung schmecke, u. nun auflebe in diesem Lebenselement. Ach, liebe Betsy, kann ich denn nicht mehr heil werden?

      «Du bist, wie Du gewesen,
      An Hülfe reich u. groß,
      O lege zum Genesen
      Mein Herz in Deinen Schooß!»

Liebe Betsy, findest Du wohl Zeit mir einige Worte zu sagen? ich harre mit Sehnsucht darauf; laß mich nicht zu lang allein ohne Dich, Du weißt die Lücke die Du mir machst, u. Du thust gern wohl.
      Der kleine Bernhard erbaut Eisenbahnen neben mir, u. läßt der Tante Betsy sagen er sei heut artig gewesen, u. er wolle dann bald einmal die Tante Betsy besuchen, u. er laße sie grüßen. Es ist Alles grau Himmel u. Erde u. sehr traurig, aber auf den stillen Kirchhof nieder zu sehn ist so beruhigend, auf alle die Bettlein in der Erd. «Herz freu Dich Du sollst werden Vom Elend dieser Erden Und von der Sündenarbeit frei.»
      Ich grüße Dich mit großer Herzlichkeit, liebe Betsy, u. verlange nach den Tagen da Du wieder bei mir bist; doch auch fern von Dir bin ich Dir nah in Liebe u.Treuen.

      Johanna.

      Wir wollen uns doch nicht frankieren
      es ist so unbequem.


Johanna Spyri an Betsy Meyer

      23. Nov. 58. Zürich.

      Liebe Betsy.
      Dein Briefchen hat mich herzinnig gefreut als ein Hauch von Dir. Du bist so weit weg, u. so lange weg, es sind schon unabsehbar viele Donnerstage verflossen seit wir zusammen saßen; jeder Donnerstag Abend ist mir ein leeres Blatt das nichts anfüllt, was ich auch für Künste anwende, es nimmt nichts an. Komm doch wieder, bitte! komm eh das Jahr zu Ende geht. Ich weiß nicht hast Du meinen Brief bekommen, den Du erhalten mußtest ziemlich lange eh Du schriebst; ich weiß keine bestimmte Adresse u. bin daher nicht recht sicher.
      Deine Erzählungen von Vasco haben großen Anklang gefunden bei Bernhard, ich sollte sie immer weiter und weiter ausdehnen, bis in's Unmögliche; er wird dich gewiß gleich in's Examen nehmen über den Vasco u. all seine Thaten, sobald er Dich ansichtig wird. -

      2 December. Abends.
      Sieh doch, liebe Betsy, so lange blieb mein Blatt liegen, das ist zu arg, ich weiß nicht wie es kam. Bei Dir bin ich oft, u. mit unsäglicher Sehnsucht seh ich den stillen Abenden entgegen die ich wieder mit Dir zubringen werde, wenn Du endlich wiederkehrst. O wie oft käme ich gerne zu Dir, denn Du weißt [mit] ·aus· halben Worten gleich wie es im Herzen ist, das thut sehr wohl. Mir ist seit vielen Tagen schwer u. angst, aber der Heiland läßt mich doch nicht u. erquickt mich unverdient. Immerfort heißt es in meinem Herzen:

      «Ich senke mich in Deine Wunden,
      Ich senke mich in Deinen Tod,
      Wenn in der Busen Trauerstunden
      Die Sünde mir Verdammniß droht.
      Ich schaue Deine Schmerzen an,
      Und weiß Du hast genug gethan.»

O wie wohl thut das! Und die andern lieben Worte von Meyer sind meine stündlichen Gefährten:

      «Geh ein in Jesu Leiden,
      Geh ein in seinen Tod,
      und laß Dich willig scheiden
      Von aller eignen Noth.
      Sei Dir in Ihm gestorben,
      So weicht was Dich betrübt,
      Der hat die Ruh erworben,
      Der sich sein selbst begibt.»

      Es ist wie Thau in die durstende Seele, diese Gewißheit. Heut sag ich mir dieWorte immer u. immer, mir ist so tief unwohl vom gestrigen Abend, das muß ich Dir schon erzählen, denn den ganzen Tag dacht ich: wäre doch die Betsy da, so könnt ich zu ihr u. ihr klagen, u. mich befreien bei ihr von dem Eindruck; aber ich weiß daß du mich gern an das rechte Wasser gehn siehst mit meiner durstenden u. bestaubten Seele. Doch du hättest mir wohl gethan, Du hättest mich an die Quelle geführt u. mit Dir sein ist so lieblich! Da hatte uns Hr. Spöndlin (?) eingeladen, mit Meyer's, wie gewohnt; wie wir aber kommen treffen wir den Saal voller Menschen: die Damen Scheuchzer, (Rietli) Frl. Kramer, (Chorherr), Frau Stadler (Basel) Schlattmann (?), u. noch einen offnen Platz für Hrn. Antistes Füßli, der nicht erschien. Man saß bunt durcheinander, kannte sich theils halb, theils gar nicht; die Unterhaltung ging so brockenweis, nichts aus der Tiefe, kein Zusammenhang, kein Herzens-Bedürfniß zu reden, u. doch reden, u. reden. Stunde um Stunde verreden. Weißt Du wie mir nachher im Herzen war? Ganz ausgetrocknet u-Erd-staubig, ganz leer u. der Grund befleckt, so ganz weh durch u. durch; ich kam heim u. fiel auf meine Kniee keuchend nach einem Tropfen Labung, u. nach Verzeihung, u. nach Rettung aus der tiefen Grube voller Schlamm.
      Ach, liebe Betsy, wie ist das doch so sonderbar u. unsäglich traurig wie die Seelen sich wüst machen aneinander, freilich weil das Wüste in jeder Seele liegt u. beim Berühren aneinander zum Vorschein kommt. Es ist mir heut den ganzen Tag zum Weinen traurig. Du verstehst mich wohl, es ist nichts besonders Häßliches zum Vorschein gekommen, nur alle Seelen so staubig. O liebe Betsy wäre doch unser Wandel im Himmel!

      «Löse erstgeborner Bruder
      Doch die Ruder
      Meines Schiffleins, laß mich ein
      In den sichern Friedenshafen,
      Zu den Schafen,
      Die der Furcht entrücket sein!»

      Und wie ist Dein Leben, Liebe, sagst Du mir noch ein Wort eh Du kommst? u. wann kommst Du? Laß nicht das Jahr zu Ende gehn! Komm laß uns Weihnacht zusammen halten! - In dem Würtembergergesangbuch ist von deiner lieben Mutter noch mein so liebes Lied von Meyer bezeichnet: ««Ich habe viel gelitten.»» Ich schlage es nie auf ohne mit dem tiefsten Herzen Deiner Mutter zu gedenken. Es ist spät geworden. Gute Nacht, liebe Betsy! Wir wollen doch für einander beten! Ich bin in Liebe u. Treue

      Deine Johanna.


Johanna Spyri an Betsy Meyer

      Zürich 15. Dez. 74.

      Meine liebe Betsy.
      Herzlichen Dank für Deinen Brief u. gute Räthe. Mein Mann ist leider noch keinen Schritt weiter, als am Samstag, doch gehorcht er nun u. bleibt fast den ganzen Tag im Bett: Würde er aufstehn, so gienge von Neuem das Wandern nach dem Bureau an, zu jeder Stunde des Tages u. Erkältung wäre unausweichlich.
      Gleich auf deine Empfehlung hin habe ich den letzten Band der Leute von Seldwyla durchgelesen. Dietegen hat mich wenig angemuthet. Was soll das curiose Zeug! Und wie kann ein Mensch, der so gut schreiben kann, so geschmacklos sein zu gleicher Zeit! Ich finde völlig geschmacklos, wie er jene Zeit schildert, die seine Küngolt angebunden am Ofen zubringt. Soll es amüsant sein zu lesen, was doch in anständiger Gesellschaft Keiner anhören möchte?
      Mir bleibt immerfort u. bei Allem, das ich von ihm lese, derselbe Eindruck von Keller: Er hat eine eigne, kräftige, frische Feder, er ist nie breit noch langweilig, er findet das richtige Wort zum guten Gedanken u. ist oft köstlich amüsant - aber ich mag den Menschen nicht. Sehr amüsiert hat mich seine Horgergeschichte, diese Leute u. Verhältnisse kennt Keller gründlich. Und sein Pfarrer! Köstlich! Aber Einiges habe ich auch da auszusetzen: Ist es nicht miserabel, daß ein so gescheidter Kopf die ärmliche Erfindung machen muß, daß bei jenen zwei frommen Frauen es der reinste Zufall ist, daß sie fromm von Herzen u. auch dazu fromm dem Bekenntniß nach sind? Das gehört nie zusammen, liest man in seinen Worten. Er hat gar so deutlich zeigen wollen, daß er denn nicht die «Frommen» für die Rechten halte, wenn er schon in das «Tabernakel des Unbestimmten» hinein geschaut u. Nichts darin gefunden hat. Diese Tabernakelei ist wirklich herrlich, ich hörte die Stimme meines Schwagers auch deutlich durchtönen. Da hätten wir uns noch Allerlei zu sagen, hoffentlich sehn wir uns einmal wieder in nicht ferner Zeit. Auch mir war unser Zusammensein der letzten Woche lieb wie wenig andere Gesellschaftsfreuden u. ich sehe einer Wiederholung mit frohem Hoffen entgegen.
Dich u. Deinen lieben Bruder, den ich durchaus als Freund ansehe, herzlich grüßend, bin ich in alter Liebe

      Deine Johanna.

      Das muß ich noch sagen, nun ich meinen Brief überlese, das Wort: «Ich mag den Menschen nicht» heißt eigentlich wenig, ich will sagen warum nicht: Ich bin immer unsicher in seiner Gesellschaft, so als säße ich einem Menschen vorüber, der sehr gut redet, dem ich aufmerksam zuhöre, aber immer mit der heimlichen Besorgniß, er werde mir unversehens etwas Uebelriechendes in's Gesicht werfen. Er hat mir dieß noch jedes Mal gethan, wenn ich mich zu ihm setzte.
Dein Bruder schreibt anders; solcherlei Dinge können ihn auch nicht ansprechen.

      Nun gute Nacht!


Conrad Ferdinand Meyer an Johanna Spyri

      ·2 Juli 1880.·

      Verehrte Freundin,
      eine fliegende Zeile! Ihre hübschen Bändchen werde ich sorgfältig lesen, ja studiren. Vorläufig das Heft zurück, durch Gelegenheit.
      Auch ich werde die alte treue Freundschaft, in neuen Verhältnißen, festhalten.
      In Eile,                  Ihr      m.


Conrad Ferdinand Meyer an Johanna Spyri

      Verehrte Freundin,

      Der Mutter Lied u: Peppino habe ich gestern gelesen u: sehr hübsch gefunden, Peppino noch entwickelter. Der vorwiegende Eindruck ·war· der des Hellen u: Kecken (des ««Neckischen»» -wie das Ev.Wochenbl.sagt-), eine große Qualität. Um Composition u: Styl kümmern Sie sich nur nicht, das ist das gescheiteste, was Sie thun können Es wäre schade um den wilden Wuchs. Bei Ihrem Verstande ist keine Gefahr dabei. Einige Stellen im Peppino sind mir schon zu stark u: zu bewußt «stylisiert». Den Humor nicht übertreiben! (ich bin ein Römer). Ein paar «und» u: «denn» (zweitletzte Seite) streichen! - In der «Mutter Lied» sollte der Oberst doch das Grab seiner Tochter besuchen oder habe ich darüber hinweggelesen? ich muß das eine oder andere Ihrer Bücher doch an Meißner senden, der Kinder hat. Begierig auf Ihr Neuestes, nicht für Kinder,
      5 Juli 1880.            Ihr c.m.


Conrad Ferdinand Meyer an Johanna Spyri

      ·7 Juli 1880·

      Verehrte Freundin,
      Ihr «Heidi» hat mir einen jungen u: frischen Eindruck gemacht, wie ich nicht sagen kann. Sie haben doch ein glückliches Naturell! Dabei erzählen Sie so resolut, daß die Kritik gar nicht dagegen aufkommt. Heidi ist kräftig durchgeführt, kein leichtes Ding bei einer durchweg «naiven» Persönlichkeit. Ganz vorzüglich ist der Geissbube. Das schönste Kapitel ist wohl «der erste Tag auf der Alm». Eine Kleinigkeit: in der 2. Auflage laßen Sie Heidi nicht so·viel· «erklären». Sie «erklärte» statt «sie sagte» ist ein oder zwei Mal recht hübsch, aber man muß auch das Beste nicht zur Manier werden laßen. Betsy ist eben angekommen. Ich breche ab.
      Ihr m.
      Noch einmal meinen Dank für Heidi. Ich habe manches daraus gelernt.


Johanna Spyri an Conrad Ferdinand Meyer

      Zür: 14. I. 81.

      Hier, mein verehrter Freund, das Versprochene. Wenn ich zögere. Ihnen meine Sachen zu senden, so geschieht es aus Schonung für Ihre Zeit.
      Meine Empfehlung an die Frau Gemahlin - Ihnen meinen Gruß!

      JOHANNA SPYRI-HEUSZER
      STADTHAUS ZÜRICH.


Johanna Spyri an Conrad Ferdinand Meyer

      Zürich 15 Mai 81.

      Mein verehrter Freund!
      Ich bin in einer Verlegenheit, aus der ich mir nicht zu helfen weiß, wollen Sie mir heraus helfen durch einen guten Rath? Ich habe einen Verfolger in Hamburg, der hat mir wohl vier- fünf Mal geschrieben u. will nicht abgeben. Er will eine Art Biographie von mir haben, wenn auch nur kurz, die sollte ich selbst ihm liefern! Ich habe ihm wiederholt geschrieben, das könne ich ihm nicht liefern u. hoffte, er habe sich beruhigt. Er schrieb aber aufs Neue, ich müßte doch einen Freund, eine Freundin haben, die das für mich thun würden, was ich behaupte nicht selbst thun zu können. Heute schreibt u. drängt er auf's Neue, hat mein Schweigen als eine Art von Zusage angenommen, ·sagt mir,· daß sein Werk - ich glaube Biographien schriftstellemder Frauen der Gegenwart - fertig sei bis auf meinen Beitrag, den er nun sehnlich erwarte. Natürlich handelt es sich nur um einiges Persönliche, einige hervorstechende Charakterzüge u. den Rahmen des äußern Lebens zu den Daten, die ich ihm gegeben habe, mit denen allein er aber nicht zufrieden war. Ich habe keinen Freund oder Freundin, die mich wirklich kennen u. kannten von Jugend auf, ·als Sie u.Betsy,· aber Ihrer Feder darf ich eine solche Beschäftigung nicht zumuthen u. Betsy hat sich so sichtlich zurück gezogen u. verschanzt, daß ich den Muth auch nicht habe, mich an sie zu wenden.
      Was thu ich nun?
      Rathen u. helfen Sie mir um der alten Freundschaft willen! Zu allen Gegendiensten willig, allezeit lieber in Freud als in Leid
      Ihre
      J.Spyri.


Conrad Ferdinand Meyer an Johanna Spyri

      ·16 Mai 1881.·

      Meine verehrte Freundin,
      in Üirem Notfalle mache ich Ihnen folg. Vorschlag. Sie schreiben, sich objectivirend, ohne Aufschub ein flottes Biographiechen von J.Spyri, was Sie jedenfalls beßer vermögen als irgend ein Anderer ·nebst einer Geschichte u: kurzer Analyse Ihrer opera· und senden es mir. Obwol überhäuft, laße ich dann meinen mir mitunter als Secretär dienenden ·heimatlosen· Vetter Fritz kommen und dictire ihm Ihr Leben, dasselbe hin u: wieder leicht · (nach meinem Geschmacke)· verändernd. Nach Hamburg aber schreiben Sie, wahrheitsgemäß, ein zurückgezogener Freund habe Ihre Notizen redigirt.
      Sind Sie damit einverstanden, so avisiren Sie mich, daß ich Fritz bestellen kann und senden [mir] beförderlich Ihre Biogr., aber wohlverstanden keine Notizen, sondern ein ordentl. Stück mit Anfang, Mitte u: Ende
      Ihrem einzigen Freunde
      m.
      Betsy dürfen wir nicht wohl in Anspruch nehmen. Wie geht es Berni?


Johanna Spyri an Conrad Ferdinand Meyer

      Zürich 3 Juin 81.

      Verehrter Freund!
      Ich habe es nicht fertig gebracht. Wie könnte ich erzählen, was wahr ist? Wie könnte ich lügen? Nein, es ist ein Greuel u. Unsinn.
      Bitte behalten Sie Ihren Schreiber keinen Augenblick um meinetwillen u. entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe durch meinen Anlauf, der nach acht weiblicher Weise geendet hat.
      Unwandelbar Ihre Freundin
      JSpyri.


Conrad Ferdinand Meyer an Johanna Spyri

      10 Oct. 1881

      Meine verehrte Freundin,
      hier der neue oder fast neue Hutten, welchem ich nächstens den Separatabdruck eines Novellchens aus der D. Rundschau werde folgen laßen, nach unserer Abrede, bitte aber, unverzüglich mit ihrem Neuesten (Sontage oder wie es angekündigt wurde) zu reciprociren Ihre Sachen sind mir sehr lieb (zum Wiederlesen) sei es durch ihren Wert, sei es weil eine mir wohlbekante und wohlthuende Persönlichkeit durchschimmert, sei es aus beiden Gründen zu[sammengenommen] ·gleich. ·
      Neulich besuchte ich auf einer Fußwanderung nach Hütten - Frl. Ega welche mit Theodor senior rangirt, während Sie mit Christel rangiren. Fährt Berni immer noch auf dem Meere herum?
      Meiner l. Schwester scheint es sehr gut zu gehen - wir erwarten sie nächstens hier. Vor Jahresende hoffe ich noch einmal bei Ihnen vorzusprechen, werde mich um nicht zu verfehlen, anmelden
      Ihr m
      ·Grüßen Sie mir Ihren Mann. ·


Conrad Ferdinand Meyer an Johanna Spyri

      10 Januar 1883.

      ·In großer Eile u: Freundschaft·
      Verehrte Freundin,
      erbarmen Sie sich meiner u: Werfen Sie einen Blick auf die mitkommenden Producte Ihrer -·armen· Schwester in Eva. Mit dem besten Willen erlaubt es mir meine Zeit nicht. Auf der andern Seite habe ich über dem Schreiben des «Bauermädchens» ein menschliches Rühren empfunden. Jedenfalls wird Sie der Brief Spielhagens intereßiren.
      Meine Bitte ist nun, daß Sie einen Blick werfen auf die zugesendeten [Papiere] ·Hefte· u: mir mit ein paar Worten Ihr Urteil ·welches ich [unbesehen] ··voraus·· ratifizire· auf ein Stück Papier fixiren.
      In circa 14 Tagen wird mein Vetter u: Secretär Fritz Meyer das Paketchen ·mit Einschluß Ihrer Zeilen· wieder abholen
      Sie sind gewiß meiner Meing, l. Freundin, daß wir «Glücklichen» uns der [«armen»] [·Bedürftigen·] ·Bedrängten· annehmen sollen und ich denke am ersten auf einem Gebiete, wo wir competent sind - Apropos, die Frau ·Papetier· Staub ist schon avisirt. Ich werde jetzt direct mit ihr verhandeln.
      Ihr cfm.


Johanna Spyri an Conrad Ferdinand Meyer





      Zürich 19 Jan: 83.

      Mein verehrter Freund!
      Sie haben mir eine schwere Aufgabe gestellt. Auch ich möchte dem ursprünglichen Bauernmädchen gern helfen u. weiß nicht wie. Sie leidet an zwei Uebeln gegen die ich kein Heilmittel kenne: an Selbstüberschätzung u. an Geschmacklosigkeit. Wäre die erstere nicht in ihr, so spräche sie nicht von Spielhagen, wie sie that, er hat sicher in jedem Worte recht, in denen besonders, die er im allgemeinen über die Frauen sagt u. die sie besonders verletzt haben. Er hat ihr sehr guten Rath ertheilt, warum hat sie sich nicht wieder an ihn gewandt? Ich weiß warum.
      Ueber die Reiter-Käthe kann ich nichts sagen: da will die Professorin wissen, ob der historische Hintergrund völlig correkt sei. Das weiß ich nicht.
      In «Zu spät» finden sich Dinge wie ein Wortstreit zwischen zwei Frauen, die sich vorwerfen, was man im Leben nicht anhören möchte. Dann liegt etwas Verzwicktes darin, daß sie die Sympathie der Leser durchaus für ihre edel denkende Heldin will, die sich schließlich vergiftet, weil sie 32 Jahre alt ist u. der, den sie liebt, ein 24-jähriger Student eben vor seinem Examen steht, ihr an einen Badeort nachläuft, wohin ihm hinwiederum die Mutter nachläuft, um ihn einzufangen u. der ältern Geliebten was man nennt wüst zu sagen. Nach der Vergiftung thut der Junge recht u. erfüllt alle Pflicht, aber er ist für immer gebrochen, denn, sagt uns die Verfasserin: Die Liebe ist das höchste u. beste Gut, also soll man sie nicht kreuzen. Da steht man nun am Schluß u. hat Mitleid mit den Beiden u. kann sich nicht erwehren zu denken, den Jungen hätt ich als Mutter aber doch auch eingefangen!
      Die Kunst, der Verfasserin, ohne ihr Leid zu thun, in wenig Worten zu sagen, was man da sagen kann, müssen Sie kennen, ich kenne sie nicht.
      Die Gedichte, natürlich völlig subjektiv, sind Heine-artig, wie so u. so viel andere, natürlich ohne Heinesalz, völlig kraftlos. In der Novelle ist eine Art von Kraft. Es ist Kraft der Leidenschaft u. einer Erbitterung gegen die Bevorzugten des Glücks u. der Stellung im Leben, die in der Verfasserin kocht.
      Ihre Manuscripte will ich liegen lassen, bis, nach Ihrer Anweisung, Ihr Herr Sekretair wieder erscheint. Natürlich stehe ich Ihnen jeder Zeit zu jedem Freundschaftsdienst bereit, aber versuchen Sie mich nicht über Vermögen!
      In aller Freundschaft            Ihre      JSpyri.


Johanna Spyri an Betsy Meyer

      Zürich 27 Nov: 92.

      Liebe Betsy!
Einmal wieder ein Wort von Dir zu erhalten, hat mich herzlich gefreut. Ich habe die alten Zeiten nie vergessen und mich auch immer gefreut, sie im Verkehr mit Deinem lieben Bruder wieder aufzufrischen. Unsere eifrigen Gespräche in jenem Stübchen, wo er auf dem kleinen Ofen saß, sind mir in recht klarer und lieber Erinnerung. Daß Du mir bessere Nachricht von ihm geben kannst, ist wohlthuend. Herr Dr. Frey hat mich nicht getroffen, wie Du vielleicht gehört hast. Wenn er den Wunsch hat, noch einmal zu kommen, so werde ich ihn schon um deinet- und Conrads willen freundlich empfangen. Die heut zu Tage so große Sucht, noch bei Lebzeiten der Menschen ihre Biographien zu schreiben und ihre Briefe zu drucken, ist mir schrecklich. Welch einen Eindruck muß ein solches Buch auf den Betreffenden machen! Wahr können sie ja nie sein. Ich möchte auch bei dieser Gelegenheit Dich bitten, liebe Betsy, mir meine Briefe u. auch die alten Gedichte zurück zu senden. Briefe können ja nur für einen einzigen Menschen bestimmt sein und wir sind Beide nicht mehr jung. Ich thue diese Bitte nicht nur an Dich und hoffe, Du kannst sie wohl verstehen.
      Mit herzlichem Gruß und dem Wunsche, wieder von Dir zu hören

      Deine Johanna.


Johanna Spyri an Betsy Meyer

      Zürich 24 Apr: 97.

      Meine liebe Betsy!
      Recht herzlich hat mich dein Frühlingsgruß erfreut und mit allen Freuden ergreife ich für einmal deinen Vorschlag zu einer Zusammenkunft in Baden. Herzlich gern werde ich dich später einmal in deiner neuen Heimat aufsuchen, für einige Tage des Mai habe ich einer alten Bekannten ein Rendez-vous in Montreux versprochen, zu dir komme ich dann aber lieber einmal extra, nicht nur so en passant. Gern möchte ich dir für Baden nun gleich den nächsten Mitwoch, Donnerstag oder Freitag vorschlagen. Du sagst mir die Zeit Deiner Ankunft u. ich richte mich danach. Wir werden uns viel zu erzählen haben, wie freue ich mich darauf! Im Winter lebe ich immer still daheim, noch nie war ich einen Winter fort. Im Herbst gehe ich gern nach Süden, wenn es sein kann, allein gehe ich nicht. Auf Wiedersehen! Herzlich grüßend

      Deine Johanna.

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Quelle: Johanna Spyri · Conrad Ferdinand Meyer,
Briefwechsel 1877 - 1897
Mit einem Anhang: Briefe der Johanna Spyri an die
Mutter und die Schwester C. F. Meyers 1853 - 1897
Hrsg.: H.und R. Zeller, Kilchberg 1977