BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Wilhelm Waiblinger

1804 - 1830

 

Die Briten in Rom

 

1828

 

Erste Abteilung

 

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II.

 

Der andere Morgen brach an, und die Familie des Lord M. versammelte sich zum Frühstück. Nur die schöne Rebekka verweilte noch bei ihrem Tagebuche, das sie sorgfältig, seit der Abreise von London, für den Geliebten führte, den sie nun in Rom erwartete. Es möchte unsere Leser und uns selbst nicht wenig interessieren, aus diesem psychologischen Toilettenbüchelchen etwas zu erfahren, aber es wurde bloß für den Geliebten geschrieben, nur die Mutter durfte zuweilen ein treffliches Räsonnement oder überhaupt eine starke Stelle daraus vernehmen. Genug, sie hatte auf einer Barke den Hafen von Genua durchreist, hatte den Markusturm in Venedig erstiegen und — in Gottes Namen, sagen wir's denn, ein Verschen an den Bräutigam droben geschrieben, sie hatte in Verona das Grab von Romeo und Julie besucht und versicherte, daselbst geweint zu haben, sie sah die Sonne in Isola Bella aufgehen und bewahrte eine Feder von einer Perlhenne aus Isola Madre auf, in Pisa betrachtete sie Lord Byrons Palast, in Florenz Dantes Sitz vor dem Dome und hundert andere denkwürdige Plätze.

Diesmal, soviel haben wir ihr über die Schulter hinweg abgelauscht, hatte sie das Unglück am Vestatempel mit größtmöglicher Senti­mentalität aufgefaßt und dargestellt und dabei eine Menge Verse aus Young, Shakespeare, Southey, Moore und Lord Byron zitiert. Endlich erschien sie beim Frühstück, wenn auch im losen Negligé, doch immerhin so schlank als eine Tiberbinse. Henry wetteiferte mit dem Onkel, einen gewaltigen Teller voll Butterschnitten aufzuspeisen, die dem Anschein nach für einen Tag hingereicht hätten, und dabei einige Tassen Tee zu trinken, und man hatte bereits einen Laib vom feinsten französischen Brot, das nur auf dem Spanischen Platze gebacken wird, zu Ende gebracht, als sie abermals aufs heftigste beunruhigt werden sollten.

Wer hätte sich's auch vorgestellt! Der unverschämte Campagnen­bauer, dessen hübsches Weib gestern unter Henrys Pferd gekommen, stand abermals vor der Türe, und zwar in Begleitung einiger sauber gekleideten Männer, welche der unvergleichliche Scharfblick des gereisten Kapitäns sogleich für ebensoviel Blut- oder Geldigel ansah. Henry erschrak, und Rebekka fiel sogar die Teetasse aus der Hand, und ungeschickterweise gerade auf das feine Negligéröckchen, so daß sie einen Schrei des Entsetzens ausstieß und wenig gefehlt hätte, daß sie nicht in Konvulsionen gekommen wäre.

Die Lady sprang nach einem Tuche, um das jammernde Kind abzutrocknen, und der Bauer trug unterdessen aufs einfachste vor, daß seine Frau ein Bein gebrochen, daß sie in St. Spirito liege, daß er sie nicht daselbst lassen könne, daß er sie nach Grotta Ferrata hinüber transportieren lassen und, wie gegenwärtige Herren Chirurgen und Ärzte bezeugen, so viel an ihre langwierige, schreckliche Kur spenden müsse, daß er sich, das Schmerzengeld abgerechnet, nicht mit dem Bagatell von gestern begnügen könne. Der Onkel geriet dermaßen in Wut, daß er ausspuckte und zum Unglück seinen weit hervorstehenden Hemdstrich traf. Henry rüstete sich zu standhafter Opposition, der Lord meinte jetzt auch, daß es Spitzbuben seien, aber die Chirurgen und Doktoren fingen an, in einem Schwall der gelehrtesten Termini zu beweisen, was an dem Beine gebrochen und wiederherzustellen sei, behaupteten, daß es eine Kur von acht Monaten werde, und drohten einstimmig mit dem Campagnenmann, die Sache vor Gericht zu bringen, wenn sich die Herren Engländer nicht entschlössen, für die Kur noch andere fünfundzwanzig Zechinen und fünfzig spanische Piaster als Schmerzengeld zu bezahlen.

Der Onkel Kapitän richtete sich auf die Zehen empor vor Grimm und biß sich in den hohen Hemdkragen, indem er die äußersten Verwünschungen in englischer Sprache über das Lumpenpack von Italienern ausstieß, Henry sah den Lord an und schwieg, nicht wissend, was er beginnen solle.

„Nichts mehr, nichts mehr!“ schrie der Kapitän, „keinen Bajocco mehr, packt euch fort! Wollt ihr uns ausziehn? Wollt ihr bei hellem Tag den Banditen spielen?“

„Herr Engländer“, versetzte ein Doktor, vortretend, „wir sind nicht gekommen, Grobheiten von Ihnen anzuhören; wollen Sie bezahlen oder nicht?“

„Keinen Bajocco mehr, sag ich.“

„Kommt, meine Herren“, sprach der Doktor ganz ruhig, „wir gehen augenblicklich vors Governo, und dann sollen diese Herren Engländer zusehen, was es kostet, wenn man in Rom ein Weib zu Boden reitet.“

Damit gingen sie murrend fort. Henry, in Verzweiflung, sah den Vater an, dieser nickte, die Lady stotterte: „Laßt euch mit diesen Schurken in keinen Prozeß ein!“, und der Sohn schrie zur Türe hinaus und rief sie zurück.

Wozu schildern wir diese Trauerszene, die dem Onkel Kapitän ein halb Dutzend Runzeln mehr ins Gesicht zog, die Desperation, mit der Henry zwischen Bezahlen und Nichtbezahlen, zwischen der Furcht vor einem Prozeß und dem Unwillen über eine Überforderung schwebte, genug, die Geldschatulle wurde abermals geöffnet, die verzweifelte Summe bezahlt und der Schein von den Ärzten unterschrieben.

„Das ist mir genug, um ganz Rom zu verfluchen“, rief der Kapitän, „nein, ich will auch keine Stunde mehr hier sein, ich gehe heut noch nach Neapel. Zwanzig Zechinen und zwei Piaster, fünfundzwanzig Zechinen und fünfzig Piaster! nein, das ist unerhört, das ist das größte Banditenstück auf der Welt!“

Henry war nicht geizig, und diese Geschichte wurde ihm bloß so übermäßig ärgerlich, weil er gewiß sein konnte, daß der Onkel sie ihm zeitlebens vorwerfen werde. Er hatte ganz andern Kummer, andere Gedanken im Kopf und begab sich voll Unruhe und Zerstreuung auf sein Zimmer.

Kaum befand er sich daselbst, als ihn die Schwester in seiner Einsamkeit störte. „Oh!“ rief er aus, „Rebekka, ich duld es nicht länger so! Diese Camilla macht mich verzweifeln.“

„Und warum denn?“ fragte die Schwester.

„Ich meine, ich könne nicht leben ohne sie, ich bete sie an, ihr Bild schwebt mir Tag und Nacht vor den Sinnen, ihr großes Römerauge, ihr feurig Angesicht, ihre herrliche Gestalt, ihre zauberische Stimme, ihr Gesang und —“

„Das macht dich verzweifeln? Mich dünkt, ein Frauenzimmer von solchem Werte sollte nur beglücken können.“

„Freilich, ach freilich sollte man das meinen! Aber ich bemerke mit Schaudern, es ist eine tiefe Kluft zwischen uns! Sie sagt, sie sei mir gut, aber diese Zärtlichkeit, die ich gegen sie fühle, wird nicht erwidert, statt daß ich sie in Tränen einer schwärmerischen Liebe, in Empfindung, in Wehmut, in Melancholie sehe, plagt sie mich mit einer ausgelassenen Lustigkeit, beantwortet meine Liebesskrupel mit Scherzen, erlaubt sich gar, ihrer zu spotten, sagt mir Dinge, die ich unmöglich ohne Beeinträchtigung meines Selbstgefühls für Wahrheiten anerkennen kann, und ist so reizbar, so empfindlich, so streitsüchtig, daß ich's schon mit einer Verteidigung bei ihr verderbe, ja, und daß ich's dir gestehe, liebe Schwester, was mich am meisten beunruhigt, sie spricht von heiraten —“

„Ist es möglich?“ rief Rebekka, „sie selbst, ohne Schamröte —“

„O an Schamröte ist nicht zu denken, sie sagt es lachend und erlaubt mir keinen — keinen Kuß, wie sie sich ausdrückt, vor der Trauung!“

Die Miß lächelte, und ein halb vornehmer, halb sentimentaler Spott verbreitete sich von den blauen Augen bis zu dem kleinen Munde, der gerade für die zwitschernde Sprache, für yes und very well gemacht war.

„O du bist glücklich“, fuhr Henry fort, „deine Liebe wird auf ebendie ideale, geistige, zärtliche Weise von deinem Bräutigam erwidert — mit keinem Worte beleidigt er dein Zartgefühl, ihr versteht euch so schön als Yorick und Elisa, während diese Römerin auch nicht einen Begriff von jenen süßen Schwärmereien der Seelenliebe hat, gleich als ob sie ohne alle Erziehung, als ob sie ein gemeines Alltagsgeschöpf wäre, während sie mich mit tausend Verstößen gegen meine Delikatesse, meine Liebe martert. Es ist unbegreiflich, Rebekka, wie ein so schönes, so junges, so talentvolles, geistreiches Mädchen so entsetzlich unsentimental, so unpoetisch sein kann.“

Diese gerechten Klagen unsers jungen, empfindsamen Briten über die Kälte seiner Angebeteten dauerten noch eine Zeitlang fort, bis er sich endlich anschickte auszugehen. Nicht sobald war er auf den Spanischen Platz gekommen, als er einen reichen, ihm wohlbekannten Landsmann, Sir William A., ein kleines, unbedeutendes Figürchen, antraf.

Sie gingen eine Zeitlang auf dem Spanischen oder vielmehr britannischen Platz auf und ab und unterhielten sich über die köstliche Vögelsammlung, welche Sir William mit ungeheuern Kosten in Italien zusammengebracht, und Henry lud ihn zuletzt zur heutigen Abendgesellschaft. William entschuldigte sich und sagte: „Auf Ehre, mein Freund, es ist mir diesen Abend nicht möglich, ich hab ein Rendezvous.“

„Sie sind glücklich, Sir William“, versetzte Henry. „Ich für meinen Teil muß bekennen, daß ich Mühe habe, mich mit einer Römerin zu verwickeln.“

„Mühe?“ antwortete jener. „Hier in Rom Mühe? Und für Sie, einen jungen, reichen Fremden? Ist's Ihnen Ernst? Und sind schon ein Jahr hier? Nein, fürwahr, haben Sie denn je eine Stadt in der Welt gesehen, wo die Liebeshändel so sehr Mode sind?“

„Ich wiederhole, daß ich das Gegenteil finde, daß die Römerinnen kalt und lieblos gegen den Fremden sind und daß es überhaupt nicht wahr ist, wenn man behauptet, die Italienerinnen seien die ersten Liebesheldinnen.“

„Ei, so will ich Ihnen doch gleich das Gegenteil beweisen! Ich bin kaum eine Woche in Rom, so mach ich die Bekanntschaft einer jungen, bildschönen Frau, einer wahren Grazie, einer anbetungswürdigen Blondine, die Sie für ein achtzehnjähriges Mädchen halten würden!“

„Sie machen mich begierig, Sir William!“

„Mit einem Wort, es vergeht seither kein Tag, daß ich ihre Gesellschaft nicht genieße, ja ich bin soviel als ihr unumschränkter Ehemann.“

„Und sie ist eine Frau, sagen Sie, eine Witwe?“

„Gott bewahre! Haben Sie denn noch gar keine Kenntnis vom hiesigen Ton? Sie hat einen Mann, und dieser Mann selbst drückt ein Auge zu und öffnet den Beutel. Dieser Mann hat mir die Grazie völlig abgetreten. Die liebenswürdige Scaccietta will mir übermäßig wohl, opfert mir alles auf, ich bin ihr einziger Gebieter, und sie reiste mit mir auf zwei Monate nach Neapel,“

„Ist es möglich?“

„Es ist gewiß! Ich führe sie in Gesellschaft, gehe mit ihr aufs Land, nach Tivoli, Frascati, Albano; ich schwärmte mit ihr den ganzen Karneval durch, zu Fuß und zu Wagen, mit und ohne Maske, in Theatern, Festini, auf dem Corso; ich hab ihr himmlisches Bildnis, ich habe mich für sie malen, in Alabaster schneiden, selbst meine Büste für sie machen lassen, und sie liebt mich so treu, so beständig, daß sie mir nach England folgt, wenn ich abreise.“

„Aber der Mann —“

„Ei, der Mann wird bezahlt! Dem Italiener ist alles feil. Sie treffen nirgends mehr Hörner als hier, und man trägt sie in Rom eigentlich zur Schau. Mit den Mädchen ist nichts zu beginnen, diese sind spröde wie Eis, aber haben sie erst die Trauung, so sind sie des Teufels.“

„Das wäre schlimm!“ versetzte Henry betrübt. „Aber sind Sie denn gewiß, daß Sie der einzig Begünstigte sind!“

„So gewiß als die Sonne am Himmel steht!“

Henry wollte weitersprechen, als sein Begleiter plötzlich wie vom Donner gerührt stehenblieb und eine Schar Gallinaci oder welscher Hühner anschaute, welche vorübergetrieben wurden. „Was zum Henker ist das?“ rief er aus.

„Nun, haben Sie noch nie einen Gallinaccio gesehen?“

„O verflucht“, rief William, sich vor die Stirn schlagend, „was hab ich getan?“

Henry begriff ihn nicht und zweifelte wirklich an seinem Verstand, als er den Hühnerhändler herbeirief und fragte, was ein Stück koste. Der Mann forderte einige Paoli, und William brach in einen Strom von Verwünschungen über das vermaledeite italienische Volk aus.

„Hören Sie“, sagte er endlich, „was mir widerfahren. Sie kennen meine Liebe zu den Vögeln und wissen, wie ich die verschiedensten Arten zu sammeln suche. Nun kommt ein zerlumpter Lazzarone in Neapel zu mir her und zeigt mir einen höchst seltenen, kleinen afrikanischen Vogel. Ich bin außer mir vor Freude und erhalte ihn, wiewohl für einen unmäßigen Preis. Des andern Tages kehrt der Lazzarone zurück und bringt mir einen großen, wundersam gebildeten Vogel, wie ich noch keinen gesehen, indem er ihn ebenfalls für eine afrikanische Gattung ausgibt. Das Tier scheint mir äußerst dumm zu sein, und ich weigere mich, es zu kaufen. Der Lazzarone schreit und sagt: ‹Ei, jenes Vögelchen singt und lärmt, und dieser große Vogel denkt im stillen.› Neapolitanische Fratze, denk ich, aber ich kauf ihn doch um vier Louisdore und bewahr ihn als eine Seltenheit auf. Jetzt in diesem Augenblick seh ich eine ganze Schar solcher Bestien vorübertreiben, und der Hühnerhändler verlangt einige Paoli fürs Stück!“

Henry lachte über den geprellten Landsmann und tröstete ihn mit der Erzählung seines kostspieligen Unglücks am Vestatempel. Als sie voneinandergingen, sagte Henry: „Nun, also heute abend?“

„Warum nicht? aber reinen Mund!“

„Versteht sich, aber Sir William, hüten Sie sich, daß Sie keinen Gallinaccio mehr für etwas anders halten, als man's auf der Straße trifft!“

Sie schieden, Henry nicht ohne Neid über das Liebesglück seines Freundes und Sir William voll Wut über die empfindliche Enttäuschung und die Bosheit des abgefeimten Neapolitaners.