B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Wilhelm Waiblinger
1804 -1830
     
   


D i e   B r i t e n   i n   R o m

N o v e l l e
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Text:
Wilhelm Waiblinger,
Mein flüchtiges Glück. Eine Auswahl
Hrsg.: W. Hartwig, Berlin/DDR 1974


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     Kaum war man zu Hause angekommen und hatte sich von dem Schrecken einigermaßen erholt, in den Henrys verwegener Originalgedanke und die barschen Schweizertrabanten die ganze Familie versetzt hatten, als man sich entschloß, heut abend ein Theater zu besuchen, und zwar, wie die Lady wollte, das eigentliche römische Nationaltheater. Ironius erbot sich sogleich, sie in dasselbe zu führen, und man fuhr abermals ab, die Miß nicht ohne ein Buch, um sich darin mit Lesen zu vergnügen. Der Onkel, der Lord und Henry blieben zurück, und Ironius und Sir Thomas begleiteten die Damen.
     Aber was tat der Schalk Ironius! Unglückliche Britinnen, er führte euch ins Nationaltheater auf den Platz Navona, zu den Burattini, ins Theater der Stinker, Schwarzbäuche, Obsthändler, Stiefelputzer, Eckfaulenzer und Kuppler! Man erstaunte schon über den geringen Eintrittspreis von zwei Bajocchi, aber wie sahen sich die beiden Damen an, als sie in das schwarze, schmutzige Mörderloch eintraten! Noch nie hatte die Miß auf ihren großen Reisen einen so scheußlichen Roßstall gesehen, der Boden war gepflastert und so überfüllt von Unrat als der Platz Navona. Eine einzige Laterne hing oben an der Galerie. Und welch ein Publikum! „Gott“, rief Rebekka, „es regnet, und wir sind ohne Regendach?“ Aber Ironius machte sie auf die Täuschung aufmerksam, indem er sie überzeugte, daß dies gewöhnliche Geräusch nichts anders als das Knistern und Rauschen der Kastanien sei, welche das gesamte Publikum fraß. Auch nicht ein Mund war ohne Arbeit zu sehen; die Obstverkäufer schrien wie auf dem Markte, man warf sich mit Kastanienschalen, man sang und pfiff, man lachte und balgte sich, und, was für die zarten, englischen Nerven am empfindlichsten sein mußte, man stank über alle Beschreibung. Lauter schwarze, halbnackte, bärtige Kerle, wilde, mutwillige Gassenbuben mit spitzen Hüten, wohlbeleibte Minenti, ohne Wams, mit bloßer Brust, hübsche tolle Mädchen und Weiber, alle Kastanien kauend, das bildete insgesamt ein Publikum, wie unsere Britinnen noch keines gesehen.
     „Um des Himmels willen“, rief die Lady, „wohin haben Sie uns geführt, Herr Ironius? — Das ist ja entsetzlich, das riecht ja wie in einem Affenstalle.“ — „Das ist das römische Volkstheater“, antwortete dieser, „wohin Sie zu gehen verlangten. —Auch die Schuhputzer, Limonienhändler, Eselstreiber und Lastträger haben ihr Vergnügen, haben ihre Boccabadati, und Sie werden, wenn nur erst der Vorhang  aufgeht, die  romantischen  Ritterstücke und Marionetten bewun-dern —“
     „Marionetten?“ schrie die Lady, „Marionetten?“ — „Und der Pulcinella noch dazu“, antwortete Ironius, „hören Sie, wie diese nackten Kerle fressen und schreien, wie sie sich lustig machen um ihren Bajocc!“
     Indem flog eine Kastanienschale gerade der Lady ins Gesicht, so daß sie vor Schrecken aufschrie: „Um Gottes willen, wo sind wir? was ist das für ein Volk, für ein Theater!“
     „O Mutter“, rief die Miß, ein Riechfläschchen hervorziehend, „das riecht ja wie in der Hölle — hier ist die Pest zu Hause! Lassen Sie uns fliehen — mir wird übel.“
     Der Irländer brachte die Schnupftabaksdose nicht von der Nase, und die Schwarzbäuche griffen ungescheut nach ihr, ein Dutzend rauher, schmutziger Finger verlangte eine Prise.
     Jetzt begann das Musikchor, welches aus vier zerlumpten Taugenichtsen bestand, und nun sang und pfiff zumal das ganze Theaterpersonale zusammen, so daß es unsern Engländerinnen in den Ohren sauste.
     Der Irländer schwitzte, daß ihm das Wasser auf der Stirne stand — und er seufzte gegen Ironius hin: „Ich — ich ersticke —“
     „Aber“,  antwortete  dieser, „das  ist  doch  ein hübsches Theater-chen —“
     „O hübsch“, stöhnte Sir Thomas, „ganz hübsch, außerordentlich hübsch!“ Er konnte nicht weiter, da rief die Lady: „Lassen Sie uns hinaus, ich bin des Todes — o Rebekka, deinen Spiritus!“
     Wirklich sank sie auch zurück auf eine kotige Bank, denn der fürchterliche Qualm dieses Theaterpöbels hatte pestilenzialisch auf ihre Nerven gewirkt.
     Es entstand ein wildes Geräusch um sie her, man stieg auf die Bänke, man drängte sich ihr nahe, der Vorhang ging auf, niemand sah auf die Bühne, alles betrachtete nur die ohnmächtige Dame.
     Sir Thomas jammerte, und Ironius eilte hinaus; die Miß hob ihr das Fläschchen an die Nase, jener stürzte mit Wasser herein, das Volk schrie den Marionetten zu: „Stille, stille! man ist ohnmächtig geworden!“ Andere trommelten mit den Füßen, wieder andere klatschten und pfiffen, kurz es war ein entsetzliches Getümmel; die Marionetten mußten abtreten, und es währte eine halbe Viertelstunde, bis die arme Lady zu sich kam und in den Wagen gebracht werden konnte. Sir Thomas dachte an seine Not in dem Knopf der Peterskirche, und Rebekka sagte, daß sie nun einen Begriff vom echten Höllengestank habe. Von diesem Abend an hatte Ironius freilich die Gunst der Lady und Miß verloren, denn die beiden Damen fanden den folgenden Morgen ihre Kleider noch so übelriechend, daß sie dieselben nicht mehr tragen konnten, sondern verschenken wollten. Der Onkel Kapitän lachte und meinte, daß das ein Theater gerade für das italienische Volk sei, und der Lord schätzte sich glücklich, daß er unterdessen zu Hause die „Times“ gelesen.
     Sir Thomas trippelte nach Hause, zufrieden, daß er ungefährdet davongekommen, und fand Rosa diesen Abend gar nicht freundlich. Am andern Morgen saß er eben beim Frühstück, welches aus vier Eiern, einem Beefsteak, einer guten Portion Schinken und einem Fiasco Orvietowein bestand, ein Dejeuner, mit dem er schon zwei Stündchen bis zum Mittagsmahl warten konnte, als die hübsche Minente schon an die Türe klopfte.
     Das artige, gute Kind! Es bracht ihm die schönsten Rosen von der Welt, und eine stak ihm selbst am Busen, so recht voll und wild und wollüstig aufgeblüht wie dieser. Sir Thomas schluckte vor Freude ein unmäßig großes Stück Beefsteak hinunter und rief, sich heftig räuspernd: „Ach schön, ganz schön, das ist außerordentlich schön!“
     Jetzt tat er freundlich mit dem Mädchen, das ihm eine Weile den Kopf voll schwatzte, und endlich sagt' es, indem es die Haare schlichtete und ihren langen, üppigen Wuchs zeigte: „Ach ja, wenn ich ihn nur hätte!“
     „Was seufzest du denn, liebe Rosette?“ fragte der liebetrunkene Irländer.
     „Ja, daß wir auch so arm sind! In zwei Monaten kommt der Oktober, und da muß man doch an den Monte Testaccio hinausfahren und donnerstags und sonntags den Saltarello tanzen! Und meine Freundinnen haben alle so einen Kamm!“
     „Was für einen Kamm denn?“
     „Ei nun, wie wir Minenti ihn tragen; er ist aber teuer, und ich kann mir nicht so viel Geld verdienen, niemand nimmt sich meiner an, und ich habe keinen Liebsten, der mir einen Haarschmuck kauft.“
     Jetzt merkte Sir Thomas, der in solchen Dingen nicht ohne Sagazität war, ziemlich deutlich, worauf dies Gespräch hinauswollte; er sah deshalb die Rosen an und sagte: „Ach welche schöne Blumen, außerordentlich schön! aber die schönste Rose bist doch du!“
     Da sprang die Römerin auf den alten Herrn zu, fuhr ihm mit der Hand über die Kupferwangen, so daß ihm's durch die Nerven rieselte, und rief: „O lieber Herr Thomas, wollen Sie mir den Kamm kaufen?“
     „Ich?“ antwortete dieser verlegen, „ich? wie kommst du denn auf mich?“
     „Ach Sie sind ja so gut, so reich, so fromm und ein so trefflicher Christ, Sie kaufen mir ihn gewiß, und zwar heute noch, denn morgen könnt er ja schon weg sein!“
     „Du bist ein närrisches Ding“, versetzte Sir Thomas, sich die Haare mit den Fingern lüpfend. „Aber was willst du mir denn dafür geben?“ setzte er endlich mit blinzelnden Augen hinzu, indem er über seine pfiffige Frage lächelte.
     „Alles, was ich kann, lieber, guter Herr Thomas!“ und nun fing sie an, mit jener unwiderstehlichen Beredsamkeit einer Italienerin einen solchen Schwall von Bitten und Vorstellungen über den armen Irländer herstürmen zu lassen, daß er endlich sagte: „Nun, was kostet er denn?“ „Nur zehn Piaster.“
     „Zehn Piaster?“ fiel er erschrocken ein. „Bist du des Teufels, Mädchen? Das ist ja doch gar zu viel!“
     „Aber Sie sind ja so lieb!“ begann die Italienerin wieder schmeichelnd und liebkosend. Sir Thomas schüttelte bedenklich den Kopf; aber wie konnt er widerstehen? Er gab die zehn Skudi her, und nun hub das Mädchen an zu lachen und zu tanzen, sie küßt' ihm die Hand, und als er sie fassen wollte, um ihr den Mund zu küssen, flog sie davon, indem sie rief: „O wie seid Ihr ein himmlischer, unvergleichlicher Herr!“
     Auch Henry hatte diesen Morgen ein zärtliches Abenteuer. Er ging, seine Camilla zu besuchen. Die verhängnisvolle Geschichte im Belvedere des Vatikan verschwieg er weislich, aber er versicherte die Braut, daß er heute mit der Mutter sprechen, daß am Fest St. Peter und Paul ihr Verlöbnis stattfinden werde und daß auch seine Schwester an jenem Tage ihren Bräutigam erwarte.
     „Welch einen sehr hübschen Shawl, Signor Enrico“, begann Camilla, „haben Sie mir gestern geschickt! Den soll ich wohl am Brauttage anlegen? Ich bin Ihnen sehr dankbar, Signor Enrico.“
     „Aber warum denn, liebe, teure Camilla, diesen fremden Titel? warum denn nie ein Wort der Liebe —“
     „Siehe da, schon wieder eine Wunderlichkeit! Soll ich Sie denn jetzt schon Herr Gemahl nennen, ehe Sie es wirklich sind, ehe nur die Frau Mama einstimmt? Und wird sie's denn auch? Sie muß sich doch gar tief herablassen, und die Miß Rebekka, nein, sie wird nie einwilligen, eine solche Schwägerin zu haben!“
     „Camilla, lassen Sie mich die Grillen meiner Mutter nicht entgelten, Sie wissen, wie ich denke, wie ich fühle; meine Mutter findet nicht in der Person, nur in der Nation —“
     „Ah, Sie sind ein nachsichtiger Herr! die Nation nur setzt sie an mir aus! Also weil ich nicht englisch rede?“
     „Sie hat nun einmal dies Vorurteil, nur das Englische gut zu finden, aber es stünde bei Ihnen, sie umzustimmen —“
     „Wenn ich etwa dies ‹what, what, what› lernte? O wir armen Römerinnen! Aber warum lernen diese Damen denn unsere Sprache?“
     „Sie ist leicht, ist im Spielen zu lernen —“
     „Leicht, Signor Enrico? Und doch haben Sie noch nicht einmal ein A aussprechen gelernt —“
     „Camilla, wenn Sie nicht zu stolz wären, wenn Sie Ihr Selbstgefühl nicht zu lebhaft an Ihre Vorzüge erinnerte, ein wenig Rücksicht gegen die Lady, gegen die Miß könnte alles ausgleichen —“
     Er wollte fortfahren, als es klopfte. Camilla öffnete und erschrak ein wenig. Es stand ein Limonienhändler vor der Türe, ein junger, schwarzlockiger, bildschöner Bursche, der in zwei großen Körben seine goldenen Südfrüchte anbot.
     Camillas Angesicht färbte sich, ihr Feuerauge strahlte wilder, sie näherte sich mit einem heißglühenden Gesicht dem Burschen und fragte nach dem Preise. Der Mensch forderte fürs Stück einen Paul, und Camilla brach in ein schallendes Gelächter aus!
     Sie schwang sich im Kreise, als wenn sie außer sich wäre, und der Limonienjunge wandte sich nun an Henry, indem er ihm seine Ware anbot. Dieser, entschlossen, beide Körbe zu nehmen, fragte ebenfalls nach dem Preise und erhielt zur Antwort: „Zwei Paul.“
     Camilla schlug die Hände zusammen. „Und warum diesem Herrn das Doppelte?“ rief sie.
     „Ei“, antwortete dieser in einem reinen Italienisch, „er ist ein Engländer, und Ihr, schöne Dame, seid eine Römerin!“
     „Hören Sie's“, rief Camilla mit brennenden Augen, „wie er galant ist! Zahlen Sie schnell. — Wie gefällt Ihnen dieser Junge?“
     Henry schaute ihn an und sagte: „Er scheint so unverschämt zu sein als alle seinesgleichen.“
     „Was?“ schrie der Italiener, beide Körbe niederlassend, „was meint Ihr? Unverschämt? Das mir?“
     Damit stellte er sich wie wütend in schlagfertiger Bewegung vor den erschrockenen Henry hin, und ein sanguinaccio di Dio, ein accidenti und corpo del diabolo wurde nach dem andern abgeflucht. Camilla flammte vor Gelächter, und Henry, der sich schämte, fragte kleinmütig: „Und was verlangt Ihr für die beiden Körbe?“
     „Neun Piaster“, rief der Limonienhändler. Henry griff in den Beutel und gab sie.
     „Gott sei uns gnädig, das heißt bezahlt!“ rief die Mognaschi, das Angesicht mit dem Sacktuch bedeckend und sich die überquellenden Augen trocknend.
     Der Italiener steckte das Geld ein und ging. Aber Camilla flog ihm mit den Zitronenkörben nach und ließ den Engländer allein. „Himmel“, flüsterte sie außen, „was bist du für ein Schelm, wie bist du lieb in dieser Tracht, mein Herz, meine Seele!“, und damit schlang sie in aller Schnelligkeit die schönen Arme um ihn, und der Limonienhändler lag an ihrem Busen und wurde mit Inbrunst abgeküßt.
     Florindo lachte; aber die Geliebte bedeckt' ihm den Mund mit ihren Lippen und sagte: „Komm wieder so! Lebe wohl, mein alles, lebe wohl!“
     Armer, betrogener Brite! du stehst unterdessen am Fenster und nagst an deinen Fingern und ahnst nicht, wie teuer dir diese Limonien zu stehen kommen! Du geizest nach einem Blick aus dem Sternenauge dieser Mognaschi, und ein Zitronenhändler schlürft die höchste Wollust von ihren Lippen! Dein höchstes Trachten ist, diese spröde Diana dereinst zu besiegen, und du ahnest nicht, welch Schicksal sie dir bereitet! O welche Zukunft, welche unvermeidliche Gefahren für dich! Welch ein Unglück, wenn du's durchsetzest, diese Römerin ins Brautgemach zu führen! Ja, das ist das Land, wo die Zitronen blühn, aber nur nicht für den Engländer!
     „Nein“, rief Camilla hereintretend, „Sie haben zu viel gegeben! Ich glaube fast, der Schelm wird Sie verlachen! Aber so ist's, die Engländer verderben unser Volk! Wissen Sie das Geschichtchen von dem florentinischen Hunde?“
     „Nein“, antwortete Henry unmutig.
     „Denken Sie, einer Ihrer Landsleute kaufte einmal in Florenz einen Hund um einen übermäßig großen Preis und reiste nach Rom. Nun glaubte der dumme Toskaner, daß man in Rom noch mehr solcher Engländer finde, kaufte einen großen Rudel Bestien zusammen und zog damit hieher. Von morgens bis abends lief er durch die Straßen, trieb die Hunde zusammengebunden vor sich her und schrie wie besessen: „Chani! chani! chani!“ Aber es fanden sich keine Käufer, und er mußte die Tiere spottwohlfeil hergeben, und diese florentinische Hunderasse, sagen sie, hat sich noch bis heute in Rom fortgepflanzt.“
     Henry fand sich durch diese Erzählung nicht sehr geschmeichelt und ging mißmutig fort.
     Nun hatte er noch einen Besuch bei einem berühmten englischen Maler zu machen, von dem man sich in ganz Rom, besonders in den Schenken der deutschen Künstler, die seltsamsten Dinge erzählte.
     Schon ins vierzehnte Jahr malte dieser Mann an einem ungeheuern Bilde und wurde dafür von einem Lord pensioniert. Du Glücklicher, Überglücklicher, sagte mancher Nachkomme Teuts, wie hast du so gut zu leben! Wie ärmlich versorgt uns das Vaterland! Wie müssen wir uns plagen, wie müssen wir borgen und schwitzen, bis eine kleine Pension von hundert Talern durch die Porta del Popolo hereinkömmt! Was ist unser Vergnügen? Kaum gelingt es uns, die wenigen Bajocche für den Custode aufzubringen, wenn wir Raffael und Tizian, Domenicchino und Caracci, Caravaggio und Guercino, ach und gar unsern allverehrten Fiesole betrachten wollen! Unser Vergnügen besteht in den schwermütigen Spaziergängen durch die Ruinen der sieben Hügel, in einer Pfeife Tabak und in einer frugalen Mahlzeit! Während du bei Franz oder in dem trefflichen „Hermelin“ speisest, sitzen wir in der finstern Höhle der „Chiavica“, die jeder honette Römer flieht, und sind froh, daß man uns dort nur ein paar Monate borgt! Unser Ausflug geht nach Albano und Frascati, wo wir um fünf Paul des Tages leben können, während du nach Neapel fliegst, den Vesuv besteigst und die Paradiese von Sorrent, Capri und Ischia durchschwärmst! Uns achtet der Römer wenig oder nicht; Tedesco, sagt er und zuckt mitleidig die Schultern und setzt vielleicht ein verächtliches poverello! hinzu. Wer armselig gekleidet geht, den nennt man hierzulande einen Deutschen, und man bezeichnet uns nur mit dem vertrackten „Frosch“ und „Trink es Wein!“ Du bist Inglese! und schon beim Klange dieses Namens fliegen Camerieri, Facchinen, Lohnbediente, Ciceroni und Ruffiane herbei.
     Der englische Maler konnte wirklich auch von Glück sagen. Seine Pension hätte für ein Dutzend Deutsche hingereicht, und er malte, wie gesagt, schon im vierzehnten Jahre an dem Bilde, wodurch er sein Genie beurkunden sollte. Da er ein Pferd darin anzubringen hatte, so wollt er's auch mit profunder anatomischer Gelehrsamkeit tun. Was tat er? Er kaufte sich ein schönes, stattliches Tier, erstach es und hängt' es in seiner Werkstatt auf! So arbeitete er tagelang nach dem Modell. Allein es war eben Augusthitze, und so verbreitete sich denn bald ein so pestilenzialischer Gestank durchs ganze Haus und in der Nachbarschaft umher, daß man ihm obrigkeitlich befahl, das Aas fortzuschaffen.
     Henry bewunderte das Bild, das wohl an die fünfzig lebensgroße Figuren zählte und Gott den Vater samt allen Engeln und Erzengeln, Joseph, Maria und das Christkind, auch den Riesen Goliath in den letzten Zügen, als Sinnbild des Untergangs aller Feinde des Davidischen Geschlechtes, darstellte.
     Er erinnerte sich dabei an die baldige Abreise und erschrak, als er daran dachte, daß er noch nichts an Gemälden, Kupferstichen, Altertümern, Gemmen, Kameen und dergleichen Merkwürdigkeiten eingekauft. Er nahm's sich für morgen vor und schied. Als er auf die Straße trat, redete ihn ein wohlgekleideter junger Mann an und fragte ihn, ob er kein weibliches Modell nötig habe. „Jung, schön, blond, schlank“, sagte der Ruffian, „sie wird Ihnen gefallen! Sie ist mein Weib.“
     Henry sah ihn starr an und befand sich in Verlegenheit. Er errötete und sah sich mit ängstlicher Freude endlich einmal einem rechten Rendezvous nahe. Er vermochte nicht zu widerstehen und fragte stotternd, wo sich denn die Schöne befinde.
     Der Ruffian antwortete: „Zu Hause, lieber Herr! Wollen Sie so gütig sein und mich begleiten?“
     Unser armer Henry befand sich, wie Herkules, am Scheidewege. Aber nein, sprach er zu sich selbst, noch hab ich ja die schöne Verführerin nicht gesehen! Erst dann, wenn die Hülle sinkt, dann ist's Zeit, die Hand der Tugend zu ergreifen und die Augen von dem Reiz der Sünde wegzuwenden. Und was ist denn daran? Warum rühmen wir uns, das Ideal aller weiblichen Schönheit, die Mediceische Venus, warum, die Göttin der Wollust von Tizians Pinsel gesehen zu haben? Und die lebendige, warme Natur sollten wir fliehen?
     Unser Henry sophistisierte sich jeden moralischen Skrupel weg, und zu der natürlichen Lüsternheit, die wir bei jungen, unerfahrenen Menschen finden, gesellte sich noch die Hoffnung, hier endlich einmal ein ganz originelles Abenteuer zu bestehen.
     Kurz, er folgte, um sich auch durch den Augenschein zu überzeugen, daß jener Williams, der ihm so viel von der Verdorbenheit römischer Ehen erzählte, vollkommen recht habe. Der ehrbare Ehemann führte ihn auf den Monte Pincio, und dem guten, unschuldigen Jungen fing das Herz an ungestümer zu wallen.
     Man trat in ein enges Gäßchen, in ein dunkeles Haus; Henry schwankt' es vor dem Auge, wunderbare Bilder umgaukelten ihn.
     Man klopft' an eine Tür, man rief, man öffnete, und Henry sah ein zartes, bleiches, anmutiges Geschöpf vor sich, dem die blonden Haare aufgelöst über den Nacken hingen, in dessen matten Augen die Folgen der Ausschweifungen nur allzu sichtbar waren.
     Henry befand sich in äußerster Verlegenheit. Aber wie erstaunte er, als er — nun wer hätte sich auch das eingebildet? —die Büste seines Freundes William, des bekannten Engländers vom Gallinaccio, des Eroberers einer römischen Tugend, des einzigen Besitzers ihrer Reize, auf einem Tische stehn sah!
     Also das ist seine Getreue, das ist seine Angebetete! Ja, dachte er, hier ist die Eroberung leicht; du hast zum zweitenmal einen Gallinaccio gekauft als einen raren Vogel, und so laufen sie doch in Rom auf der Straße herum. Damit lief er davon.

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