B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Wilhelm Waiblinger
1804 -1830
     
   


D i e   B r i t e n   i n   R o m

N o v e l l e
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Text:
Wilhelm Waiblinger,
Mein flüchtiges Glück. Eine Auswahl
Hrsg.: W. Hartwig, Berlin/DDR 1974


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     Für Henry hatte längst die Stunde der Erlösung geschlagen, und er befand sich schon zu Hause, als die Familie von Ponte Molle anlangte. So gerechte Ansprüche er auf die Teilnahme der übrigen machen konnte, so wurde ihm doch wenig Aufmerksamkeit geschenkt, indem man nur mit dem Unglück des Vaters beschäftigt war und besonders der Onkel darüber nachsann, wie man sich mit dem Italiener abfinden könne. Seine Meinung ging endlich darauf hinaus, daß man die Porträts der Familie von ihm malen lassen und ihm etwa die Reise nach Neapel bezahlen solle, damit er sie daselbst ausführe. Der Lord meinte aber, daß sich das schon finden werde, und die Lady sagte: „Der arme Mensch! er hat nichts als sein bißchen Leben und setzt auch das daran, um einem andern das seinige zu retten! Es ist wirklich eine schöne Tat, und wir müssen sie ihm gut bezahlen, eh wir abreisen.“
     Henry hatte wenig Anteil an dem tragischen Vorfall bei Ponte Molle genommen, denn in seinem Gehirn verknüpften sich die wunderbarsten Ideen, geheime Heirat, Flucht, Limonienhändler, die Longara, wie künftiges Glück und noch unzählige andere Dinge, sogar Youngs „Nachtgedanken“. Der Sonnabend kam heran, am Sonntag sollte das Abenteuer überstanden werden, und er überlegte jetzt reiflich, wohin er mit Camilla fliehen solle. Er entschloß sich, noch in derselben Nacht nach Tivoli abzureisen und einen Brief zu hinterlassen, der den Eltern anzeige, was geschehen, und ihnen die Wahl frei lasse, ob sie seine vollzogene Vermählung genehmigen oder ihn nie mehr sehen wollten. Er setzte sich sogleich an den Schreibtisch und fertigte folgendes Billett aus:
     Liebe Eltern!
     In dieser Stunde bin ich der glücklichste Mensch auf Erden geworden, Camilla ist mein, auf ewig, unzertrennlich mein. Der Priester hat uns verbunden. Vergebt mir, daß ich so kühn war, den höchsten meiner irdischen Wünsche so eigenmächtig zu erfüllen, ich konnte nicht anders; wenn Ihr je geliebt, so wißt Ihr, wie allmächtig die Leidenschaft ist! In dem Augenblick, da Ihr diese Zeilen leset, ist mir nichts mehr zu wünschen übrig geblieben, als daß Ihr einwilligt in eine Verbindung, welche Ihr nicht mehr auflösen könnt. Schon ist mir Camilla ans Herz gesunken, und ich habe das äußerste Maß von Seligkeit genossen, das mir der Himmel bestimmt hat. Gebt unserer Liebe den Segen, wir sind in Tivoli, an den donnernden Kaskaden des Teverone! Sendet uns das Wort der Liebe, und wir eilen in Eure Arme!
                                  Henry M.
     Dieses Billett, er konnte nicht warten, er mußt es Sonnabend schon schreiben, und am Abend des Festes, wenn die Eltern von der Girandola zurückkamen, sollte es ihnen zu Gesicht kommen. Es stiegen wohl zuweilen Zweifel in ihm auf, wenn er sich der frühern Sprödigkeit Camillas erinnerte, wenn er die Größe des Opfers betrachtete, welches sie ihm zu bringen versprochen, aber seine Eigenliebe spiegelte ihm tausend Gründe vor, die sie zu diesem waglichen Schritt bewegen konnten; er hatte ihr geschrieben, daß sein ganzes Lebensglück von ihrem Eintreffen abhänge, und vor allem war es seine Einbildungskraft, die mit einem Schwarm romantischer Bilder und Hirngespinste jeden Skrupel unterdrückte, den der kältere Verstand in den Weg legen wollte. So vertraute er den Worten ihres Briefes und erwartete sie zuverlässig an dem bestimmten Ort, rüstete Geld und Reisebedarf, packte seine Effekten zusammen und bestellte einen Wagen nach Tivoli.
     Am Sonnabend früh erschien der edelmütige junge Italiener und ließ sich dem Lord melden. Dieser empfing ihn mit einer väterlichen Umarmung und nötigte ihn zu sich auf das Sofa. „Hier, Henry“, versetzte er, „ist mein Wohltäter, und wie — du sagst ihm kein Wort des Dankes?“
     Henry sah den Italiener starr an und ging endlich auf ihn zu, ihm mit Zeichen der Überraschung die Hand reichend und für seine menschenfreundliche Tat dankend. Die Miß trat herein, verbeugte sich, wie ein Schilfrohr, das der Wind etwas bewegt, und lief sodann davon. Die Kinderchen kamen ebenfalls, keines kümmerte sich um den Fremden, nur das Kleinste trat auf ihn zu und fragte ihn schnippisch: „Sprechen Sie englisch oder italienisch oder französisch oder deutsch oder lateinisch oder griechisch? Haben Sie die Villa Pamfili schon gesehen und die Villa Borghese und die Passeggiata?“
     Die Lady sprach unterdessen mit dem Onkel in dem Nebenzimmer und meinte, daß man dem guten Menschen doch etwas geben müsse. „Was meinst du, Bruder“, fragte sie, „wie wär's, wenn wir ihm eine silberne Uhr kauften oder ein Dutzend Schnupftücher oder eine schöne Weste?“ Der Kapitän beharrte aber darauf, daß es besser sei, sich von ihm malen zu lassen, und daß man ihn deshalb nach Neapel mitnehmen und freihalten könne.
     Unterdessen, denn die Unterhaltung ging schlecht, weil der Lord nicht gar zu gut italienisch sprach und überhaupt so einsilbig war wie ein Seehund, hatte dieser den Italiener schon in sein Zimmer gezogen und ihm einen Wechsel von vierhundert Zechinen in die Hand gedrückt. Als man wieder herauskam, erschien das edle Geschwisterpaar, die Lady und der Kapitän, und flüsterten dem Lord etwas ins Ohr.
     Dieser wandte sich sofort an den Italiener und fragte ihn, ob er mit ihnen morgen nach Neapel gehen und sie daselbst porträtieren wolle.
     Allein jener schützte unübersteigliche Hindernisse vor, versprach aber, später nachzukommen, um die liebenswürdigste Familie, die er jemals kennengelernt, abzukonterfeien. Bald darauf verabschiedete er sich, wurde von dem Lord begleitet und noch einmal ermahnt, vor den genannten Personen alles geheimzuhalten.
     Stündlich erwartete man den Bräutigam Rebekkas. Der Onkel meinte, daß ihm in diesem Lande der Taugenichtse leicht etwas widerfahren sein könne, und man erschöpfte sich in Vermutungen, bis endlich die Miß ihrer Mutter vertraute, er werde erst morgen früh erscheinen.
     „Und wie, warum denn?“ fragte die Lady neugierig.
     „Verzeihen Sie, liebe Mutter, ich bin daran schuld“, begann das Töchterchen. „Ich will Ihnen alles bekennen, aber Sie sollen's auch geheimhalten, sollen gegen niemand ein Wort verlauten lassen. Versprechen Sie mir das, Mütterchen?“
     „Nun ja doch, liebes Kind, ich verstehe dich nicht!“
     „Es hängt viel von Dingen ab, welche dem gewöhnlichen Menschen gleichgültig sind, als zum Beispiel: eine Begrüßung, ein Abschied! Dergleichen wichtige Augenblicke unseres Lebens sollten mit der zartesten Vorsicht behandelt werden, man sollte alles entfernen, was in der Außenwelt stören könnte, nur das Sinnige, das Bedeutungsvolle sollte uns umgeben und alles um uns gleichsam ein Widerhall von dem geistigen Akte sein, welcher in uns gefeiert wird.“
     „Aber was soll denn das, mein Kind —?“
     „So hören Sie doch nur! Wie beleidigend für mein Gefühl wäre es, wenn ich den Geliebten aus dem Reisewagen steigen sähe, wenn ich ihn in der Umgebung von Mägden und Bedienten, in einem gemeinen Zimmer begrüßen müßte! Darum, liebe Mutter, hab ich ihm geschrieben, daß er nicht früher als diesen Abend in Rom eintreffen solle und daß ich ihn morgen am Fest von St. Peter und Paul, in derselben Stunde, da der Beherrscher der katholischen Christenheit von St. Peter aus den Segen erteilt, auf der Trajanssäule erwarte!“
     „Das ist ein Gedanke“, rief die Lady, „der nur in deinem wundersamen, sinnreichen Gehirnchen entstehen konnte! Nun, so komm er denn erst morgen, denn am Montag reisen wir unfehlbar nach Neapel ab. Ich danke nur dem Himmel, daß die verhaßte Italienerin aus dem Hause geschafft worden! Welch ein Übermut in dieser römischen Kokette! welche Frechheit in dieser ungesitteten Komödiantin! Mir das ins Gesicht zu sagen, so eine bettelarme Person, die Staat macht wie eine Sultanin und einen Engländer heiraten möchte, um Geld zu haben! Nein, das ist eine unverzeihliche Verirrung unseres Henry! Was würde dein Bräutigam sagen, wenn er morgen seine Schwägerin sähe? Möge sie ihresgleichen heiraten, von meinem Gelde soll sie auch nicht einen Schilling haben.“
     „Es ist doch eine Schande“, erwiderte die Miß, „sich so von einem Fremden beschenken zu lassen! Und dann erst noch die Unverschämtheit, alles zurückzuschicken und sagen zu lassen, daß ich die Kleider tragen solle!“
     „Italienisches Volk!“ versetzte die Lady. „O ich hätte es nie geglaubt, als ich nach Italien ging, daß ich mit Italienern in Berührung kommen werde! Lieber war ich in London geblieben. So ist mir's auch unangenehm mit dem Menschen, dem wir so sehr verpflichtet sind, zumal da der Vater so närrisch mit ihm tut. Wir wollen ihn bezahlen, und dann mag er seiner Wege gehen; er soll belohnt werden, allerdings, und man soll wissen, daß Engländer nichts umsonst annehmen, aber dann soll er uns ungestört lassen.“
     Dies und anderes redeten unsere britischen Humanistinnen zusammen. Aber wir haben unsern guten Irländer ganz aus den Augen verloren.
     Warum sollte in dem ehrbaren alten Herrn, der einem Backofen so ähnlich ist und dem die Feuerflamme durch hundert Rubinen hervorschlägt, warum sollt in ihm nicht auch die Flamme der Liebe auflodern? Es ist wahr, daß dies die Priester verbieten, und sie mögen ihre Gründe dazu haben, es ist wahr, daß Sir Thomas aus der Blütenzeit bereits heraus ist, aber verblüht ist er denn doch nicht, im Gegenteil lachen ihm die reifsten Purpurfrüchte aus der Nase und den Wangen, er ist bejahrt und ein Hagestolz, ist fromm und geht täglich in die Messe, beichtet jeden sündigen Gedanken und nimmt den Hut vor jedem Kreuz, jedem Madonnenbild, jedem Kapuziner, Monsignore und Bischof ab, er glaubt felsenfest an Heilige, an Wunder und Reliquien und fällt vor dem Papst nieder wie vor Gottes Vikarius, aber wenn man so eine allerliebste Römerin im Hause hat, so ist das alles zusammen nicht hinreichend, um das Aufkeimen einer gewissen verliebten Zärtlichkeit zu verhindern.
     Der Gegenstand, nach dem die Wünsche unsers Irländers hinschielten, ist freilich von niederm Stande, aber man weiß ja, daß die Liebe nicht nach dem konventionellen Unterschied fragt, den die üble Laune des Schicksals unter die Menschen gebracht hat, und daß die Schönheit allenthalben zu Hause ist und nicht bloß bei vornehmen Engländerinnen wie Miß Rebekka. Kurz, Sir Thomas, so orthodox er sonst als römisch-katholischer Christ dachte, konnte in einem gewissen Punkte, den die Gelehrten, welche Latein verstehen, punctum sexti nennen, für ziemlich liberal und freigeisterisch gelten. Nur fehlte es ihm etwas an Geschick, das Ding gut anzugreifen, und so mag sich denn ein verliebtes Abenteuer selten in seinem Leben, und vielleicht nie ohne Ruffiano, ereignet haben.
     Auf die hübsche Rosette hatte er es nun aber einmal abgesehen und Skudi an den Mandolinspieler, Schnupftücher und Piaster für den Oktoberkamm gespendet, um dem Herzen des artigen Kindes mit aller strategischen Kunst nahezukommen. Er trug sich freilich nicht mit dem erhabenen Gedanken wie unser Henry, dessen Seele einen weit platonischern Schwung hatte, wiewohl die Feinde des Platonismus behaupten würden, daß es bei beiden am Ende auf eines hinauslaufe. Wer kann es ihm verargen, daß er mehr Leib als Seele war, und so ist es leicht erklärbar, wie jene sentimentalen Liebesphantasien, welche sich gerne blasse Gesichter, magere Figuren, altdeutsche Personen, geniesüchtige, transalpinische Gymnasisten und römische Nazarener und Fiesolaner aussuchen, wie sie in dem irländischen Schlund voll Beefsteak und Pudding ihr zartes, schmächtiges Dasein nicht erhalten konnten.
     Zudem wär es bei einer trasteverinischen Schönen auch nicht am Platze gewesen; denn dort, wie überhaupt in Italien, ist die theoretische Liebe weniger im Kurs als die praktische. Schöne, wilde, sinnliche Weiber, rasches Flammenblut, Leidenschaft und Lebensfülle, ein starker Wein, ein süßes, nervenreizendes Klima, ein glücklicher, leichter Kopf, Sorglosigkeit und Frohsinn, das sind Dinge, welche die Liebe daselbst auf dem einfachen Wege der Natur halten, wenn sie gleich zuweilen im Übermaße vorhanden sind, die Natur überschreiten und sich in schrecklichen Ausbrüchen entladen, welche im Moment die Hand eines beleidigten Liebhabers oder eines wütenden Weibes mit dem Messer bewaffnen.
     Kurz, als Sir Thomas am Sonnabend nach Hause kam, traf er Rosetten mit einem jungen Burschen vor der Haustüre. Das wollte ihm gar nicht gefallen, und er warf einen zweideutigen Blick auf den Minente, der vom rechten Schlage war, eine Schärpe um die Brust trug und das Manchesterwams auf der Schulter hatte, ganz nach Trasteveriner Art. Als Sir Thomas oben war, kam das Mädchen, und er fragte blinzelnd: „Wer ist denn der Bursche unterm Hause? Du Schelm! das ist dein Liebster, nicht wahr?“
     „Mein Liebster?“ rief Rosa auflachend, „o was Ihr denkt, Ihr seid wunderlich, das ist ein Vignarol aus Trastevere und mein Vetter!“
     Sir Thomas hatte nicht geringe Furcht, denn er hatte so mancherlei von der Eifersucht, der Rache, der Wut der Italiener gehört, aber die Gegenwart des artigen Kindes, das schöne Gesicht, das üppige Haar, das naive Franzenjäckchen, die volle Brust, die aus ihm hervorquoll, das reichte hin, seinen Mut wieder zu beleben.
     Er fing an zu schäkern — was wissen wir, was er vorbrachte —, allein das Mädchen versprach ihm auf morgen ein appuntamento!
     „Wenn alles fort ist, versteht Ihr“, flüsterte sie ihm ins Ohr, „wenn alle drüben beim St. Peter sind und die Kuppelbeleuchtung und die Girandola auf dem Kastell beschauen, dann —“
     „Aber liebe Seele“, wandte Sir Thomas ein, der doch das Feuerwerk und die Illumination St. Peters nicht versäumen wollte, worauf er mehr als auf alles begierig gewesen, als er nach Rom gekommen, „aber mein Schätzchen, können wir's denn nicht auf ein andermal verabreden?“
     „Nein“, rief Rosa, „nein Signor Tommaso, es ist unmöglich! Morgen um ein Uhr nach Ave Maria oder nie!“
     Damit eilte sie davon und ließ unsern Irländer in einem ungeheuern Seelenkampfe zurück.
     Rosa aber schlich sich noch zur Haustüre herab und flüsterte lange mit dem Liebsten zusammen. Als es endlich oben rauschte, sagte sie: „Nun gut, also um ein Uhr nach Ave Maria!“
     „Sei ruhig, wir kommen!“
     „Gute Nacht —!“ Und der Liebste ging. Armer, armer Thomas, du wirst morgen daran glauben müssen!

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