BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Abraham

1877 - 1925

 

Giovanni Segantini.

Ein psychoanalytischer Versuch

 

1911

 

____________________________________________________________

 

 

 

I.

 

Als Segantini am 28. September 1899 starb, raffte der Tod ihn aus vollem Schaffen hinweg. Er hatte zehn Tage zuvor den Schafberg bei Pontresina erstiegen, um dort oben das Mittelbild seines «Triptychon der Alpenwelt» zu vollenden.

Ihm war sein groß angelegtes, letztes Werk mehr als eine verherrlichende Darstellung des Hochgebirges. Denn nach seiner Auffassung erschöpfte die Aufgabe der Malerei sich nicht darin, ein getreues Abbild der Wirklichkeit zu geben: sie sollte den Ideen und Gefühlen Ausdruck verleihen, die das Innerste des Künstlers erfüllen. Darum malte er die gütig spendende Natur, die Mutter mit dem Kinde an der Brust und neben der menschlichen die Mutter aus dem Tierreich. Er malte das Erwachen des Tages, das Erwachen der Natur und den Werdegang des Menschen, malte alles Lebende auf der Höhe des Daseins, und endlich den sinkenden Tag, die erstarrende Natur und des Menschen Ende. So wies er in seinem letzten Werk eindringlicher denn je auf aller Geschöpfe gemeinsames Verhältnis zur Natur, auf ihr gemeinsames Schicksal hin.

Alle die genannten Motive hatte Segantini zuvor – einzeln und in mannigfachen Verbindungen – in immer neuen Variationen zur Darstellung gebracht. So waren seine unvergänglichen Meisterwerke entstanden: «Die Mütter», «Frühling in den Alpen», «Das Pflügen im Engadin», «Die Rückkehr in die Heimat» und viele andere. Doch es trieb ihn weiter dem Werke zu, das sein letztes sein sollte. In dieser Symphonie des Lebens sollte alles das vereinten Ausdruck finden, was ihm der tiefste Sinn und Wert des Lebens schien.

Diese Absicht des Künstlers braucht man nicht erst aus seinem Werk zu erraten. Er hat sie auch mit Worten deutlich verkündet. Wiederholt hat er den Pinsel mit der Feder vertauscht, um seine Auffassung vom Wesen der Kunst gegenüber anderen Meinungen zu vertreten. Ein Jahr vor seinem Tode verfaßte er eine Antwort auf Tolstois Frage: «Was ist die Kunst?» In dieser Antwort betont er nachdrücklich die Bedeutung der ethischen Grundidee des Kunstwerks. Die Ausübung der Kunst ist ihm ein Kultus; dieser soll die Arbeit, die Liebe, die Mütterlichkeit und den Tod verherrlichen und verklären. Hier nennt Segantini selbst die Quellen, aus denen seine künstlerische Phantasie immer von Neuem gespeist wurde.

Wohl haben aus ihnen auch andere Künstler geschöpft. Für Segantinis Individualität aber ist es charakteristisch, wie alle diese Quellen zu einem Strome zusammenfließen, wie die scheinbar getrennten Ideenkreise für ihn unlösbar verbunden sind.

Ein Blick in Segantinis Leben zeigt, daß dieses von den gleichen Mächten beherrscht wurde, wie seine Kunst. Woher – fragen wir uns – hat sein Schaffen, hat seine Lebensführung diese Richtung erhalten? Vorbild und Erziehung – soviel können wir mit Sicherheit sagen – haben daran keinen positiven Anteil gehabt. Denn schon als fünfjähriger Knabe hatte Segantini seine Eltern verloren. Die Umgebung, in der er seine Jugend verlebte, konnte weder seine geistige noch seine ethische Entwicklung fördern. Denn er wuchs ohne rechte Schulbildung, fast als Analphabet heran, und weder die Jahre, in denen er bei seinen Stiefgeschwistern herumgestoßen wurde, noch diejenigen, welche er in der Korrigendenanstalt verbrachte, konnten veredelnd auf ihn wirken. Seine Jugend, arm an Lichtblicken, war ein fortgesetzter Kampf gegen feindselige Mächte. Er mußte seine künstlerischen Ideale, seinen Charakter, seine Weltanschauung fast allein aus Eigenem schaffen.

Den Rätseln dieses Entwicklungsganges vermag nur die psychoanalytische Forschungsmethode gerecht zu werden, weil sie das Triebleben der Kindheit zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen nimmt. Und wenn ich nunmehr diese Bahn betrete, so kann ich mich auf keine geringere Autorität als Segantini selbst berufen.

«Sie fragen mich», so schreibt er einmal in einem Briefe, 1) «wie sich in meinem fast wilden Leben inmitten der Natur Denken und Kunst entwickelt habe. Darauf wüßte ich Ihnen wirklich nicht zu antworten; vielleicht müßte man zur Erklärung bis zu den Wurzeln hinabsteigen, um alle Empfindung der Seele bis zu ihren ersten, auch den entferntesten Bewegungen derKindheit zu studieren und zu analysieren. »

Diesem Hinweis des Künstlers folgend, wende ich mich seiner Kindheit zu.

 

*

 

Das folgenschwerste Ereignis in Segantinis Kindheit war der frühe Tod seiner Mutter. Er zählte kaum 5 Jahre, als er diesen Verlust erlitt.

Wohl selten hat ein Sohn das Andenken seiner Mutter mit solcher Liebe gepflegt wie Segantini. Und diese Liebe nahm mit den Jahren immer mehr zu; die Mutter wurde allmählich zur Idealgestalt, zur Göttin; ihrem Kultus galt die Kunst des Sohnes.

Der so früh Verwaiste mußte durch seine ganze Jugend jeder liebevollen Fürsorge entraten. War es diese Entbehrung, die ihn zum Maler der Mütterlichkeit werden ließ? Erhob er in seiner Kunst zum Ideal, was die Wirklichkeit ihm vorenthalten hatte? So nahe diese Erklärung liegt, so muß sich ihre Unzulänglichkeit doch bald herausstellen.

Gar manches Kind wird im zarten Alter von dem gleichen Unglück betroffen wie unser Künstler. Es versteht kaum die Tragweite des Verlustes, ist bald getröstet und gedenkt der Verstorbenen nur mehr, wenn Erwachsene die Erinnerung in ihm wachrufen. Hie und da mag die Erinnerung, mögen die kindlichen Gefühle sich weniger leicht verwischen. Anders bei Segantini! In ihm erlischt das Bild der Mutter nicht; nein – seine Phantasie gestaltet es weiter aus und läßt es in den Mittelpunkt seiner Gedankenwelt treten.

Ein negatives Moment – die Entbehrung der mütterlichen Fürsorge – kann allein eine solche beherrschende Macht des Mutterideals nicht erklären. Segantini selbst hat den deutlichen Hinweis gegeben, wo wir die Wurzeln dieser Macht zu suchen haben. Wir lesen im Anfang seiner Autobiographie:

«Ich trage sie im Gedächtnis, meine Mutter; und wenn es möglich wäre, daß sie jetzt, in diesem Moment, vor meinen Augen erschiene, so würde ich sie nach einunddreißig Jahren noch recht wohl erkennen. Ich sehe sie wieder mit dem Auge des Geistes, diese hohe Gestalt, wie sie müde einherschritt. Sie war schön; nicht wie die Morgenröte oder der Mittag, aber wie ein Sonnenuntergang im Frühling. Als sie starb, war sie noch nicht neunundzwanzig Jahre alt.»

Diese Worte des gereiften Mannes tun der fürsorgenden Mutterliebe überhaupt keine Erwährung! Und lesen wir seine Schilderung der traurigen Zeit, die für ihn mit dem Tode der Mutter anbrach, so warten wir vergebens darauf, daß er einen Vergleich ziehen möchte, wie er es bei der Mutter so gut und später so schlecht gehabt habe. Wir finden kein derartiges Wort.

Von ganz anderen Dingen spricht Segantini: von der Schönheit, von der Gestalt, der Bewegung und Haltung, von der Jugendlichkeit seiner Mutter, deren Bild er stets vor Augen trage!

Man denke sich, aus dem obigen Zitat seien zwei Worte – «meine Mutter» – entfernt und man solle nun den Sinn jener Zeilen zusammenfassen. Die Erklärung könnte nur lauten: so spricht ein Liebender von der Geliebten, die er verloren hat. Nur mit dieser Auffassung deckt sich der Gefühlston, der den Worten anhaftet.

In den Worten des Erwachsenen klingt die Erotik des Kindes nach. Die psychoanalytische Wissenschaft hat uns mit der Anschauung vertraut gemacht, daß die ersten Äußerungen der Erotik beim Knaben sich der Mutter zuzuwenden pflegen. Diese Liebesgefühle, deren Charakter in der frühen Kindheit, das ist etwa bis ins fünfte Lebensjahr, für den unvoreingenommenen Beobachter klar zu Tage tritt, verändern im weiteren Verlauf der Kindheit allmählich ihre Erscheinungsform. Die primitive Erotik des Kindes ist rein egoistisch. Sie richtet sich auf den uneingeschränkten Besitz ihres Objektes; sie mißgönnt es anderen, ebenfalls Lust aus dem Zusammensein mit der geliebten Person zu ziehen. Sie zeitigt ebensowohl Äußerungen des Hasses wie der Liebe. In jener Zeit der noch ungebändigten Affekte und Triebe verbindet sich mit der Liebe des Knaben ein aggressiver, ja ein grausamer Zug.

Das Studium der neurotischen Psyche hat ergeben, daß bei gewissen Menschen alle diese Regungen von abnormer Stärke sind. Das Extrem in diese Beziehung bilden in ihrer Kindheit diejenigen Personen, die im späteren Leben an sogenannter «Zwangsneurose» erkranken; ihr Triebleben ist dadurch ausgezeichnet, daß Gefühle der Liebe und des Hasses beständig einander durchkreuzen und zu schweren seelischen Konflikten Anlaß geben. Bei ihnen findet man regelmäßig die Zeichen einer überschwenglichen Liebe zu den Eltern in raschem Wechsel mit Äußerungen des Hasses, welche in Todeswünschen gipfeln. 2)

In der folgenden Kindheitsperiode erfolgt sowohl beim gesunden Menschen als beim Neurotiker eine Eindämmung der Triebe durch den Prozeß der Verdrängung und Sublimierung. Damit werden die sozial wichtigen Hemmungen gebildet, welche die Triebe quantitativ einschränken oder ihre Betätigung in bestimmten Fällen ganz ausschließen, oder sie auf andere, nämlich altruistische Ziele lenken. Je nach der geistigen Anlage eines Menschen setzt sich ein Teil der sublimierten Sexualenergie in geistige, etwa wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung um. Je größer die ursprüngliche Stärke der Triebe war, einer um so intensiveren und umfassenderen Sublimierung bedarf es, wenn das Individuum sich den Forderungen der herrschenden Kultur soll fügen können.

Die primitiven Gefühle gegenüber den Eltern entspringen, wie wir im Gegensatz zu der hergebrachten Lehre annehmen, aus der Sexualität des Kindes, ganz wie andere Äußerungen der Liebe oder des Hasses. Das Individuum muß sich der Kulturforderung fügen, Vater und Mutter zu « ehren». Man beachte: das Gebot befiehlt nicht, die Eltern zu lieben; denn damit wären nur die Regungen des Hasses untersagt. Das Gebot wendet sich gleichermaßen gegen Liebe und Hass, da beide ihrem ursprünglichen Wesen nach Erscheinungen des Sexualtriebes sind. Beide verstoßen gegen das Inzestverbot; aus ihrer gemeinsamen Sublimierung entstehen die Gefühle der Verehrung, die frei von sexueller Betonung sind.

Sollte die Verehrung der Mutter, deren höchste Vergeistigung den Werken Segantinis gerade das charakteristische Gepräge verleiht, tatsächlich auf einem sexuellen Untergrunde ruhen?

Die Erfahrungen der Psychoanalyse lassen uns diese Frage mit Entschiedenheit bejahen. Diese Erfahrungen wurden freilich, wie schon erwähnt, größtenteils an den sogenannten Neurotikern gewonnen, sodaß es einer kurzen Rechtfertigung bedarf, wenn wir sie auf die Individualität Segantinis anwenden wollen. Künstler und Neurotiker haben in ihrer psychischen Veranlagung viel Übereinstimmendes. Beider Triebleben ist von ursprünglich abnormer Stärke, hat aber durch besonders umfangreiche Verdrängung und Sublimierung eine ausgiebige Umwandlung erfahren. Künstler und Neurotiker stehen mit einem Fuße außerhalb der Wirklichkeit, in einer Welt der Phantasie. Verdrängte Phantasien werden beim Neurotiker zu den Symptomen seiner Krankheit verarbeitet. Beim Künstler finden sie ihren Ausdruck in seinen Werken; aber nicht in diesen allein. Denn der Künstler weist stets neurotische Züge auf. Die Sublimierung seiner verdrängten Triebe gelingt ihm nicht gänzlich; zu einem Teil formen sie sich zu nervösen Erscheinungen um. Das trifft auch auf Segantini zu.

Wie die Psychoanalyse der Neurotiker lehrt, führt der Verdrängungsprozeß eine folgenschwere Verschiebung in den Gefühlen des Knaben herbei. In seinem Bewußtsein tritt die dankbare, verehrende Liebe zur fürsorgenden Mutter an die Stelle der überstarken erotischen Zuneigung. Während der Inzestwunsch mit Macht verdrängt wird, erfährt die Mütterlichkeit eine entsprechende Überbetonung. 3)

Die kompensatorische Überbetonung der Mütterlichkeit ist bei Segantini ganz ungewöhnlich ausgeprägt, ähnlich wie es beim Neurotiker vorkommt. Aus dieser und anderen später zu erwähnenden Erscheinungen geht der Schluß hervor, die kindliche Libido habe sich bei Segantini in Gestalt übermächtiger Regungen der Liebe und des Hasses seiner Mutter zugewandt, habe dann aber eine äußerst energische Sublimierung erfahren. Sie wurde – so nehme ich an – vergeistigt zum Kultus der Mütterlichkeit, zur innigen Verehrung der mütterlichen Natur, zur selbstlosen, altruistischen Liebe, die zu allen Geschöpfen überströmt.

Ganz wie beim Neurotiker, so kommen auch bei Segantini einzelne Durchbrüche der verdrängten Triebe vor. Die ursprüngliche Erotik des Kindes hat sich nicht restlos sublimieren lassen; sie tritt gelegentlich, freilich sehr gemildert, wieder in die Erscheinung. Die Schilderung, die Segantini von seiner Mutter gegeben hat, läßt uns das erotische Element nicht verkennen, wenngleich es eine außerordentliche Verfeinerung erfahren hat. Die Kunst mußte ihm dazu dienen, die Gestalt der Mutter über alle irdischen Gefühle zu vergeistigen. Eine Reihe der schönsten Werke Segantinis zeigt uns eine Mutter in zärtliche Betrachtung ihres Säuglings versunken. Jedes Mal entzückt uns wieder jene schlanke, jugendliche Frauengestalt mit der leicht gebeugten Haltung und den zarten, lieblichen Zügen.

Diese Bilder entstanden um das dreißigste Lebensjahr des Künstlers, als er in Savognin im Kanton Graubünden lebte. Er schuf damals verschiedene Werke ganz aus seiner Phantasie heraus. Zwei davon haben eine eigentümliche Entstehungsgeschichte, die für uns das höchste Interesse bietet.

Wie Segantini selbst erzählt, rief der Anblick einer Rose bei ihm eine sinnliche Empfindung hervor, die ihn nicht verlassen wollte. Beim Entblättern der Blume drängte sich ihm die Vision eines rosigen, jugendlichen Gesichtes auf. Diese Vision veranlaßte ihn, ein älteres Bild, das eine sterbende Schwindsüchtige darstellte, zu übermalen, sodaß ein rosiges, junges Weib daraus wurde.

Der geschilderte Vorfall wird verständlicher durch einen zweiten ähnlichen, dessen Beschreibung ich der Servaesschen Biographie entnehme.

«Als Segantini eines Tages» – so erzählte er selbst – «den äußersten Grat einer hochgelegenen Alpe zu erklimmen im Begriffe war, da sah er, während ihm nur noch wenige Schritte bis zum Gipfel fehlten, eine große Blume sich klar und rein vom strahlend blauen Himmel abheben und deutlich dawider abzeichnen. Es war eine Blume von hoher Schönheit und von einer Leuchtkraft, wie er sie nie gesehen zu haben vermeinte. Auf dem Bauche am Abhang liegend, betrachtete er das holde Wunder, wie es ganz allein und im vollen Licht vor dem Himmel dastand. Und da geschah es, daß die Blume gleichsam vor seinen Augen ins Riesige emporwuchs und daß sie in seiner Einbildung reizvolle menschliche Formen bekam. Der große Stengel wurde zu einem gebogenen Ast und darauf stützte sich voller Anmut die sitzende Gestalt eines blonden und rosigen jungen Weibes, das ein nacktes Kind auf dem Schoße trug; und das Kind hielt in den Händen einen dunkelroten Apfel, wie er dem kräftigen Stempel, der aus der Blume emporstieg, entsprach. Diese Vision hat dann Segantini gemalt und nannte sie: «Von einer Alpenblume». Später gab er dem Bilde den Namen: «Die Frucht der Liebe».

 

Il frutto dell'amore

 

An die Schönheit einer Blume assoziiert der Künstler sogleich die Schönheit der längst verstorbenen Mutter! Blume und Mutter sind ihm in diesem Augenblick identisch. Die Blume verwandelt sich vor seinen Augen zum Madonnenbilde.

Der erotische Untergrund dieser Phantasie wird demjenigen beson­ders klar werden, der die Bedeutung gewisser hier vorkommender, in allen menschlichen Phantasiegebilden wiederkehrender Symbole nicht übersieht.

Servaes bemerkt mit Recht, die Gestalt des Kindes auf dem Bilde «Frucht der Liebe» falle durch kraftstrotzende Gesundheit auf gegenüber der zarten Mutter. Es ist nun von hohem Interesse, auch diesen Zug des merkwürdigen Bildes zu erklären.

Sollte der Künstler in diesem lebensprühenden Kinde sich selbst neben der Mutter dargestellt haben? Dagegen scheint die Tatsache zu sprechen, daß Segantini so schwach zur Welt kam, daß er die Nottaufe erhalten mußte. Und doch berechtigt uns ein anderer Umstand, unsere Annahme aufrecht zu erhalten. Es heißt in der Autobiographie: «Ich verursachte durch meine Geburt meiner Mutter eine Schwäche, durch die sie fünf Jahre später dahingerafft wurde. Um sich von dieser Schwäche zu erholen, begab sie sich im vierten Jahre nach Trient, aber die Kuren schlugen nicht an.» Die junge Frau erholte sich also nicht wieder und siechte dahin, während das Kind, das ihr die Kraft entzogen hatte, sich entwickelte und sie überlebte!

Die zitierten Worte verdienen aber noch aus einem anderen Grunde Beachtung. Der Gedanke, den Tod einer geliebten Person verschuldet zu haben, begegnet uns bei den Neurotikern mit großer Häufigkeit.

Wie schon erwähnt, ist die kindliche Libido des Neurotikers durch starke Regungen des Hasses ausgezeichnet. Sie äußern sich in Phantasien vom Tode der geliebten Person, oder, wenn letztere wirklich stirbt, in Gefühlen der Genugtuung, ja in einer grausamen Lust. Entfaltet später die Verdrängung ihre[r] Macht, so treten Gefühle der Verschuldung auf, deren der Neurotiker sich nicht zu erwehren vermag, obwohl er in seiner bewußten Erinnerung keinen Grund zu solchen Selbstvorwürfen findet. Er wirft sich vor, am Tode des Vaters oder der Mutter schuld zu sein, wenngleich das Vergehen seiner Kindheit nur in unerlaubten Phantasien und Affekten bestanden hat. Hieran schließen sich Versuche, das begangene Unrecht nachträglich gut zu machen; besonders in der Zwangsneurose nehmen sie einen breiten Raum ein. Das Andenken der geliebten Person wird nun mit überschwenglicher Liebe gepflegt, mit einem Glorienschein umgeben. Oder es wird der Versuch gemacht, die Tatsache des Todes aus dem Bewußtsein zu verdrängen, den Toten in der Phantasie wieder zum Leben zu erwecken.

Daß auch für Segantini der Kultus der Mutter ein Gegengewicht darstellte, durch das er feindliche oder grausame Regungen seiner Kindheit kompensierte, dafür spricht mit eindringlicher Deutlichkeit ein Ereignis aus seiner Kind[h]eit, von dem er selbst erzählt.  4)

«Das erste Mal, als ich einen Bleistift zur Hand nahm, um zu zeichnen, war es, weil ich eine Frau zu ihren Nachbarinnen schluchzend sagen hörte: ‹Ach, wenn ich doch wenigstens ihr Bild hätte, sie war so schön!› Bei diesen Worten erblickte ich bewegt das schöne Gesicht einer jungen, verzweifelten Mutter. Eine der anwesenden Frauen zeigte auf mich und sprach: ‹Laßt das Bild von diesem Knaben machen, er ist sehr geschickt.› Die schönen, tränenvollen Augen der jungen Mutter wandten sich zu mir. Sie sprach nichts, ging in die Kammer und ich folgte ihr. In einer Wiege lag die kleine Leiche eines Mädchens, das nicht viel über ein Jahr zählen konnte; die Mutter gab mir Papier und Bleistift und ich begann. Ich arbeitete mehrere Stunden, die Mutter wollte, daß ich das Kind lebend darstelle. Ich weiß nicht, ob die Arbeit künstlerisch ausfiel, aber ich erinnere mich, die Frau einen Augenblick so glücklich gesehen zu haben, daß sie ihren Schmerz zu vergessen schien. Doch der Bleistift blieb im Hause der armen Mutter und ich nahm das Zeichnen erst viele Jahre später wieder auf. Dennoch war das vielleicht der Keim, aus dem sich der Gedanke entwickelte, daß ich durch dieses Mittel Gefühlen Ausdruck verleihen könne.»

Es wäre nun gar einfach, die erste zeichnerische Leistung des Knaben von einer edelmütigen, mitleidigen Regung herzuleiten, zumal da man weiß, daß Segantini als Erwachsener solchen Regungen in hervorragendem Maße zugänglich war. Man übersähe aber dann das eigentlich Bemerkenswerte an dem Vorgang.

Segantini war zu jener Zeit höchstens zwölf Jahre alt; da erscheint es mir erstaunlich, daß der Knabe stundenlang allein bei einer Leiche verweilte, ohne Angst und Grauen zu empfinden. Die seelischen Reaktionen der Angst, des Grauens, des Mitgefühls entstehen erst im Laufe der Kindheit allmählich durch Sublimierung der Grausamkeitskomponente. War diese von außergewöhnlicher Stärke, so erfolgt ein Umschlag zu besonders ausgeprägtem Mitgefühl für die Leiden anderer und zu angstvollem Grauen vor dem Tode. Diese beiden Züge waren bei Segantini im späteren Leben in seltenem Grade ausgesprochen. Zu der Zeit, als er das tote Kind zeichnete, war der Sublimierungsprozeß nach dieser Richtung noch auffallend wenig vorgeschritten, woraus sich die Folgerung ergibt, daß sich eine sehr starke Grausamkeitskomponente über das zwölfte Lebensjahr hinaus der völligen Sublimierung mit Erfolg widersetzte.

In der geschilderten Szene ist es die Grausamkeitskomponente, die im Betrachten der Leiche des Kindes und im Anblick des Schmerzes der Mutter Befriedigung findet. Den Mitleidsregungen aber geschieht genüge, indem er das Bild der schönen jungen Mutter zu Liebe zeichnet, um ihren Schmerz zu lindern.

Zweimal erwähnt Segantini in der Erzählung jenes Vorganges die Schönheit der jungen Frau, ganz ähnlich wie in der Schilderung seiner eigenen Mutter. Die da vor ihm steht, nimmt in seiner Phantasie sogleich durch «Übertragung» 5) die Stelle seiner eigenen Mutter ein und erweckt in ihm die Künstlerschaft! Einer Mutter zu Liebe wird er Künstler. Ahnen wir nunmehr schon, daß unser Künstler – dem Neurotiker gleich – an der fremden Mutter gut zu machen versucht, was er gegenüber der eigenen durch Todeswünsche verfehlt hat, so wird es uns aus einer anderen Stelle der Erzählung zur Gewißheit. Das stundenlange Verweilen bei der Leiche motiviert Segantini damit, daß er nach dem Wunsche der trauernden Frau das tote Kind lebend darstellen sollte. Es gab also eine Kunst, mit der man die Toten gleichsam zum Leben zurückrufen konnte! Später hat er zu vielen Malen mit Hilfe seiner Kunst das Andenken der Mutter zum Leben erweckt. Darin lag, wie nun verständlich wird, ein Akt der Buße, den der Erwachsene sich für die Sünden seiner Kindheit auferlegte. Dieses Verhalten erinnert außerordentlich an das der Zwangsneurotiker, die – freilich in anderer Form – sich vielfach Bußhandlungen auferlegen.

Nach diesem ersten tastenden Versuch vergingen Jahre, in denen Segantini, unter dem Druck trostloser Verhältnisse, dem Zeichnen entsagen mußte. Endlich gelang es ihm, Zutritt zur Akademie der Brera in Mailand zu erhalten. Die ersten Bilder, die er jetzt aus eigener Phantasie vollendete, knüpfen an den frühesten kindlichen Zeichenversuch so unmittelbar an, als wäre seitdem kaum ein einziger Tag vergangen. Was er zur Darstellnng brachte, war entweder der Tod oder die Mütterlichheit!

Die Bilder vom Tode sollen später ihre gesonderte Besprechung finden. Hier sei zunächst desjenigen Bildes gedacht, welches Segantini als Akademieschüler zuerst vollendete und ausstellte. Es war ein Niobekopf. Er soll den Schmerz der Mutter um den Tod ihrer Kinder ergreifend dargestellt haben, sodaß das Bild Aufsehen machte.

Segantini stand um diese Zeit im Alter der körperlichen und geistigen Entwicklung. Wir wissen, daß dieses Alter im Menschen alles das wieder in Aufruhr bringt, was in der zweiten Periode der Kindheit durch Verdrängung und Sublimierung zur Ruhe gekommen war. Für den heranwachsenden Menschen heißt es nun endgültig Stellung nehmen zu den Personen, auf die er seine ersten Liebesneigungen gerichtet hat. Er muß sich entscheiden, ob er jenen mit den ursprünglichen Gefühlen anhangen will oder ob er sich von ihnen ablöst, um seine Gefühle auf neue Objekte übertragen zu können. Und weiter kommt es in jener Zeit zur Entscheidung, in welchem Grade er seine Triebe verdrängen und verwandeln wird.

Bei Segantini zeigte sich die Übertragung seiner Liebesgefühle auf die Mutter – die doch längst nicht mehr am Leben war – nun erst in ihrer vollen Stärke! Eine derartige Fixierung der Libido mußte zu einer gewaltigen Sexualverdrängung führen, deren Wirken wir denn auch in Segantinis Leben und Werken überall erkennen.

Aus den Berichten über diese Zeit seines Lebens erfahren wir nichts von Liebesbeziehungen, wie die landläufige Meinung sie gerade bei einem jungen Künstler erwartet. Im Gegenteil: er war dem weiblichen Geschlechte gegenüber zurückhaltend und schüchtern. Von seinen Altersgenossen unterschied er sich durch großes Feingefühl, durch Vermeiden jedes anstößigen Wortes im Gespräch.

Wir ersehen daraus, daß Segantinis Triebleben gebunden war und können diese Tatsache nicht anders erklären als durch die Fixierung seiner Libido an seine Mutter.

Erst als er etwa 22 Jahre alt war, erlebte er das, was man als die «erste Liebe» zu bezeichnen pflegt. Von der frühesten Kindheit bis zu diesem Alter hatte ihn die wirkliche erste Liebe – zur Mutter – gänzlich beherrscht. Auch jetzt zeigte sich noch ihre Macht. Wir finden bei Segantini eine ungewöhnliche Einschränkung in bezug auf die sexuelle Objektwahl. Es gelang ihm nicht, wie es bei anderen jungen Leuten gewöhnlich ist, Beziehungen anzuknüpfen und wieder zu lösen, sondern die einmal getroffene Wahl war für ihn die endgültige. Dieser monogamische Zug, den wir auch beim Neurotiker kennen, 6) äußert sich bei Segantini in bemerkenswerter Weise.

In seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahre (1881) malte Segantini das erste Bild erotischen Inhalts, das – wenn wir von einigen Szenen aus dem Hirtenleben absehen, die in den folgenden Jahren entstanden – das einzige seiner Art blieb! Segantini ließ durch seinen Freund Carlo Bugatti dessen Schwester Beatrice bitten, sich von ihm malen zu lassen. Er malte sie im Kostüm einer mittelalterlichen Edeldame; auf ihrer linken Hand sitzt ein Falke, den sie mit der rechten füttert. «La Falconiera» heißt das Bild. Servaes hebt mit Recht hervor, daß es die Verliebtheit des Malenden auf den ersten Blick verrät. Und wirklich verliebte sich Segantini und kurz danach heiratete er sein schönes Modell.

 

La falconiera

 

Seine Liebe zu Beatrice – Bice hieß sie im Familienkreise – war inbrünstig und unwandelbar wie die Liebe zur Mutter. Seine Ehe entsprach nicht im geringsten dem Begriff, den man sich von einer Künstlerehe gebildet hat. Damit soll mehr gesagt sein, als daß Segantini ein guter Hausvater war. Er hing bis zu seinem Tode mit leidenschaftlicher Verliebtheit an seiner Gefährtin. Davon legen die Briefe Zeugnis ab, die er ihr schrieb, wenn sie gelegentlich von einander getrennt waren. Sie muten an wie die Liebesergüsse eines Jünglings. Im Gefühlston erinnern sie an die Stellen der Autobiographie, die von der Mutter des Künstlers handeln.

Wir stehen bei Segantini vor der nicht gewöhnlichen Erscheinung, daß sein gesamtes Liebesleben sich in seiner früh geschlossenen Ehe abspielte. Es ist aber klar, daß die übermächtigen Triebe des Künstlers eine solche Einschränkung nur dann ertragen konnten, wenn sie in sublimierter Form einer ganz unbeschränkten Zahl von Wesen zuströmen durften. Streng monogamisch in seinem Liebesleben, mußte Segantini seine vergeistigte Liebe der gesamten Menschheit, der gesamten Natur zuwenden.

Wir müssen hier einhalten. Wir stehen im Begriff, das Wirken dieser Mächte in der Kunst und im Leben des herangereiften Mannes der Analyse zu unterwerfen. Allein wir dürfen seine Jugendzeit nicht verlassen, so lange wir nur die Bedeutung der Mutter, nicht jedoch die des Vaters gewürdigt haben.

 

――――――――

 

1) Seite 82 der Sammlung von Bianca Segantini. 

2) Vergl. Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, Bd. I, 1909, besonders S. 413 f. 

3) Andere mit diesem Vorgang zusammenhängende Folgen werden später zur Sprache kommen.  

4) In einem Brief an die Dichterin Neera; Sammlung von Bianca Segantini. S. 84. 

5) Aus der Neurosen-Psychologie ist uns der Vorgang geläufig, daß die auf das ursprünglichste Sexualobjekt bezüglichen Gefühle auf eine neue Person übergehen können, indem diese letztere in der Phantasie mit ihrer Vorgängerin identifiziert wird. 

6) Vergl. hierzu meinen Aufsatz: «Die Stellung der Verwandtenehe in der Psychologie der Neurosen». Jahrbuch für psychoanalyt. Forschungen, Bd. I, 1909.