BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Abraham

1877 - 1925

 

Giovanni Segantini.

Ein psychoanalytischer Versuch

 

1911

 

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II.

 

In der Autobiographie des Künstlers lesen wir sehr wenig über seinen Vater. Wir erfahren, daß dieser nach dem frühen Tode von Giovannis Mutter mit dem fünfjährigen Knaben seinen Wohnort Arco verließ. Er begab sich nach Mailand zu seinen erwachsenen Kindern, die einer früheren Ehe entstammten. Als er in Mailand nicht vorwärts kam, ging er kurz entschlossen mit einem der Söhne aus erster Ehe nach Amerika und ließ Giovanni bei seiner Stiefschwester zurück. Der Künstler hat von diesem Zeitpunkt ab nie wieder etwas von seinem Vater vernommen.

Es muß auffallen, wie Segantini, der seine beiden Eltern doch kurz nach einander verlor, von seiner Mutter ausführlich und mit hingebender Liebe berichtet, von seinem Vater aber nicht viel mehr mitteilt, als die oben wiedergegebenen nüchternen Daten. Und während er seine höchste Kunst aufbietet, um die Idee der Mütterlichkeit zu verherrlichen, während er in jedem seiner Werke von neuem der Mutter ein Denkmal setzt, sucht man vergeblich nach einem positiven Ausdruck derjenigen Gefühle, die ihn mit seinem Vater verbanden. Begegnet man auf einem Bilde einmal außer der Figur einer Mutter auch derjenigen eines Vaters, dann ist der letztere niemals allein in den Mittelpunkt des Bildes gerückt.

Es entsteht somit der Anschein, als sei der Vater ohne Einfluß auf des Sohnes Entwicklung und Werke geblieben, als habe dieser dem Vater gleichgültig gegenüber gestanden. Aber Segantinis Schweigen ist beredt; es beruht, wie sich sogleich zeigen wird, auf der Unterdrückung der heftigsten, gegen den Vater gerichteten Feindschaft.

Es liegt in der bisexuellen Anlage des Menschen, daß die erotischen Gefühle des Knaben beiden Eltern zustreben. Frühzeitig aber macht sich eine Bevorzugung der Mutter bemerkbar. Regungen der Eifersucht und Feindschaft gegenüber dem Vater sind die unmittelbare Folge. Als die Mutter starb, fiel der Grund der Eifersucht fort. Die ganze Liebe des Knaben hätte sich jetzt naturgemäß dem Vater zuwenden müssen. Allein gerade in diesem Augenblick tat der Vater das, was in dem Kinde alle Liebe zu ihm ertöten, die feindseligen Gefühle aber steigern mußte: er brachte den phantasiebegabten Knaben, dessen seelische Bedürfnisse er nicht bemerkte, aus dem Paradies am Gardasee in die Öde und das Elend der Großstadt, übergab ihn der Stiefschwester, die ihm nicht Zeit noch Liebe schenken konnte, und ließ ihn dann im Stich.

So wurden die Gefühle der Zuneigung zum Vater im Keime erstickt; wir vermissen daher bei dem jungen Segantini auch diejenigen Ersatzbildungen, die unter normalen Verhältnissen durch Sublimierung der Liebe zum Vater entstehen.

In der Pubertät findet normalerweise eine mehr oder weniger weitgehende Ablösung von der väterlichen Autorität statt; aber auch hernach ist deren Wirkung in den Äußerungen kindlicher Pietät und Liebe kenntlich. Die Sublimierung einer nachhaltigen, positiven Übertragung auf den Vater macht sich in der gesamten Lebensführung geltend: als Bedürfnis nach Anlehnung an einen Stärkeren, als Neigung zur Unterordnung des eigenen Willens, als unselbständiges Festhalten am Hergebrachten. Es kommt vor, daß der Sohn auch nach der Pubertät im völlig unveränderten Verhältnis kindlicher Abhängigkeit den Eltern gegenüber steht. Dann pflegt die konservative Tendenz besonders groß, die vorwärtsdrängende Aktivität besonders gering zu sein.

Segantini steht in schroffem Gegensatz zu diesem letzten Typus; er bildet sozusagen das andere Extrem. Der Geist der Unterordnung, der konservative Zug fehlt ihm gänzlich. Er schreibt einmal: «Jegliche Entwicklung, sei sie nun sozial, oder religiös oder sonstwie, hat als erstes Ziel die Verneinung des Alten, den Nihilismus, die Zerstörung.» Segantini spricht damit geradezu revolutionäre Tendenzen aus. Er nimmt Rache an der väterlichen Macht, gegen die er sich in frühester Kindheit aufgelehnt haben muß; Rache vor allem dafür, daß der Vater ihn nach dem Tode der Mutter im Elend allein gelassen hatte. Aber Segantini begnügt sich nicht mit dem Negieren des Bestehenden; durch Niederreissen des Alten will er dem vollkommeneren Neuen Bahn brechen. Er hat das nicht nur theoretisch gefordert, sondern er hat im Sinne dieser Anschauung gehandelt, lange ehe er sie in Worten verkündete.

Wir können also bei Segantini eine rein negative Bedeutung des Vaters feststellen. Und wie seine Liebe zur Mutter in sublimierter Form zur gesamten Natur überströmt, so geht auch sein Hass, der ursprünglich dem Vater galt, auf alles über, was seinen Willen hemmt. Freilich sind die aggressiven Impulse, die sich gegen das Leben des Gegners richten, durch Sublimierung gemildert. Sie liefern Segantini die Energie, mit der er sich allen Gewalten gegenüber behauptet und durchsetzt. Segantinis Leben ist von seiner Kindheit an ein lebendiger Protest gegen jede Autorität, die sich anmaßte, seiner Individualität nahe zu treten.

So sehr nun diese Energie sich gegen die väterliche Macht wendet, darf man doch nicht übersehen, daß Segantini sich gerade in ihr mit seinem Vater identifiziert. Denn für den Knaben ist der Vater das natürliche Vorbild durch seine überlegene Körpergröße und Kraft, durch Energie und Wissen. Die Rivalität mit dem Vater muß in besonderem Maße den Wunsch hervorrufen, ihm in allen jenen Eigenschaften gleich zu kommen. Sie gibt einen wichtigen Anstoß zu den Größenphantasien des Kindes.

Die Auflehnung gegen die väterliche Gewalt und das Verlangen, selbständig, unabhängig, groß zu werden, finden sich bei dem jungen Segantini in ungewöhnlicher Ausprägung. Diese Züge seines Charakters lassen uns seine Entwicklung als Mensch und seine Laufbahn als Künstler verstehen.

Erschütternd liest es sich in der Lebensbeschreibung des Künstlers, wie er, sechs Jahre alt, seine Tage in einem engen, kahlen Zimmer, einsam, vom Morgen bis zum Abend eingesperrt, verbringen muß. Eine Zeitlang erträgt er dieses Schicksal, solange eben die eintönige Umgebung seiner Neugier noch Reize und seiner Phantasie Anregung bietet. Dann heißt es: «Eines Morgens, als ich stumpfsinnig zum Fenster hinaus sah, ohne an irgend was zu denken, drang das Gegacker einiger Nachbarsweiber an mein Ohr: sie schwatzten von einem, der als junger Mann zu Fuß von Mailand weggegangen und nach Frankreich gekommen war, wo er große Taten vollbrachte... Für mich war das wie eine Offenbarung. Man konnte also diesen Treppenflur verlassen und konnte weit hinauswandern... Ich kannte die Straße – mein Vater hatte sie mir gezeigt, als wir auf dem Schloßplatze spazieren gingen. ‹Dort›, hatte er gesagt, ‹durch diesen Bogen sind die siegreichen französischen und piemontesischen Truppen eingezogen. Den Triumphbogen und die Straße ließ Napoleon I. anlegen; die Straße sollte mitten durch die Berge direkt nach Frankreich führen.› Und die Idee, auf dieser Straße nach Frankreich zu gelangen, wollte mich nicht mehr verlassen.»

Die Worte der Frauen erinnern den Knaben an eine eindrucksvolle Erzählung des Vaters, in der ebenfalls von Frankreich und den großen Taten eines Mannes die Rede war. Schon sind die kindlichen Größenwünsche erweckt; seine impulsive Energie aber verlangt sofortiges Handeln. Der Sechsjährige läuft davon, versieht sich mit einem Stück Brot, geht durch den Triumphbogen und schlägt die Straße des großen Napoleon ein.

Nicht gar lange vorher war auch sein Vater, ohne viel Worte zu machen, eines Tages aus Mailand davongegangen. Der Kleine tut es ihm nach. Aber er begnügt sich nicht mit der Phantasie aller Knaben, es dem Vater gleich zu tun – er will wie jener Mann werden, dessen Grösse sogar dem Vater Bewunderung abnötigte. 1)

Die weitere Kindheitsgeschichte des Künstlers, wie er sie selbst erzählt, ist reich an merkwürdigen Wechselfällen – so reich, daß Zweifel in uns aufkommen, ob denn alles das sich wirklich so zugetragen habe. Sollte hier nicht die überreiche Phantasie des Kindes und des Erwachsenen manches, wenn nicht erfunden, so doch umgestaltet haben, was die Kritik des gleichen Menschen hernach nicht mehr von wirklich Erlebtem sondern konnte?

Die Berechtigung zu einer solchen Vermutung ergibt sich aus der Kenntnis gewisser Phantasien, die in überraschend gleichförmiger Weise von so vielen Individuen produziert werden, daß wir in ihnen etwas Typisches, allgemein Menschliches erkennen. Die nämlichen Ideen finden sich in den Massenphantasien, d. h. in den Mythen der verschiedensten Völker und Zeiten. Ich habe früher in meiner Studie «Traum und Mythus» 2) den Nachweis erbracht, daß die Mythen in Form und Inhalt mit den Kindheitsphantasien des einzelnen Menschen die weitgehendste Übereinstimmung aufweisen. Rank 3) hat dann in einer speziellen Untersuchung den «Mythus von der Geburt des Helden» behandelt. Jedes Volk stattet in seinen Sagen die Geburt und die Kindheit seines Helden mit wunderbaren Vorkommnissen aus, die ganz mit den Phantasien des Einzelnen von seiner Kindheit übereinstimmen. Segantinis Kindheitsgeschichte, wie er sie selbst darstellt, erinnert nun in frappanter Weise an diese Heldensagen.

Die Sagen von Moses, Sargon, Cyrus, Romulus und Remus u.s.w. stimmen alle darin überein, daß der Sohn vornehmer Eltern aus irgend einem Grunde beseitigt werden soll. Er wird aber auf eine wunderbare Weise gerettet, etwa aus dem Wasser gezogen oder von fremden Menschen niederen Standes zufällig aufgefunden, wird als deren Sohn auferzogen und muß niedere Arbeit verrichten. Schon in der Jugend, etwa im Spiel mit seinen Altersgenossen, verrät er besondere Eigenschaften, die ihn von seiner Umgebung unterscheiden und ihn zu Höherem berufen erscheinen lassen. Herangewachsen erfährt er das Geheimnis seiner Herkunft, nimmt Rache an seinen Unterdrückern, verrichtet Heldentaten und gelangt schließlich zu den ihm gebührenden Ehren.

Hören wir nun Segantinis Bericht von seiner Kindheit weiter!

Der Knabe lief vorwärts auf der Landstraße, bis er bei Einbruch der Nacht vor Müdigkeit am Straßenrande niedersank und einschlief. Er merkte nicht, wie ein Regenschauer ihn durchnäßte. Er erwachte, als Landleute, die des Weges kamen, ihn aufrüttelten. Sie nahmen sich seiner an, hoben ihn auf ihren Wagen und fuhren ihn mit sich nach Hause. Auf der Fahrt schlief er wieder ein und erwachte erst im Hause seiner Retter. Als man ihn getrocknet und gewärmt hatte, begann man ihn nach seiner Geschichte auszufragen. Hier heißt es in der Autobiographie: «Ich erinnere mich, wie ich eine lange Geschichte mit vielen Einzelheiten erzählte, von einem Unfall, der mir einmal begegnet ist und der sich mir ganz besonders eingeprägt hat. Eines Tages nämlich – ich mochte drei oder vier Jahre zählen – überschritt ich ein schmales Holzbrückchen, das vom Hauptwege zu einer Färberei hinüberführte über einen eingedämmten Gebirgsstrom, der mit seiner Kraft viele Mühlen treibt.» Auf der Brücke, so erzählt Segantini weiter, war ihm ein größerer Knabe begegnet, der den Kleinen durch eine unvorsichtige Bewegung hinabstieß. Ein Soldat war ihm nachgesprungen und hatte ihn aus dem Wasser errettet, als er schon einer Mühle zutrieb.

Dann folgt der Schluß der Erzählung: Als die Bauersleute von dem kleinen Segantini hörten, daß er keinesfalls zu seiner Schwester zurückkehren wollte, sagten sie: «Wir werden dich bei uns behalten, armes Waisenkind; du hast Sonne nötig. Aber wir sind nicht reich; und drum, wenn du hierbleiben und dich eingewöhnen willst, mußt du dich irgendwie nützlich machen!».... «Tags darauf schnitt mir die Frau meine langen Haare ab, die mir reich und lockig auf die Schultern niederhingen. Eine andere Frau, die dabei stand, äußerte: ‹Von der Seite gesehen, gleicht er einem Sohne des Königs von Frankreich›...

An jenem Tage wurde ich Schweinehirt: ich zählte vielleicht noch keine sieben Jahre!»

Nur ein paar Wochen durfte der Knabe in seiner neuen Umgebung bleiben, in der ihm weit mehr Fürsorge zu teil wurde, als bei seiner Schwester in Mailand. Gerade diese kurze Episode schildert Segantini mit großer Genauigkeit und mit liebevollem Eingehen auf die Details. Wir finden in dieser Erzählung alle wichtigen Züge aus dem Mythus von der Geburt des Helden wieder! Da ist die Trennung vom Elternhause – die freilich hier in anderer Weise vor sich geht als in den Sagen; es folgt die wunderbare Rettung durch mitleidige Bauersleute, die den Knaben bei sich erziehen wollen. In die Erzählung von dieser Rettung schaltet Segantini eine zweite Rettungsgeschichte ein: er ist als dreijähriges Kind aus dem Wasser gezogen worden! Bei seinen Pflegeeltern muß er die niedere Arbeit des Schweinehütens verrichten, wie so viele Helden der Sage. Er, dessen Äußeres an einen königlichen Prinzen erinnert!

Es ist nicht möglich! in dieser Kindheitsgeschichte des Künstlers zwischen Dichtung und Wahrheit eine scharfe Grenze zu ziehen. Wer aber weiß, in welchem Grade die Erlebnisse der Kindheit der umgestaltenden Macht der Phantasie unterliegen, der wird die Spuren dieser Arbeit nicht verkennen. Ich verweise nur auf eine Stelle. Segantini erinnert sich, mit sechs Jahren die Bemerkung gehört zu haben, er gleiche einem Sohne des Königs von Frankreich. Es ist an sich nicht gerade wahrscheinlich, daß er den Wortlaut einer damals gefallenen Äußerung im Gedächtnis behalten habe. Der Inhalt aber ist identisch mit demjenigen der typischen Abkunftsphantasien des Knaben. Der Vater, als Vorbild aller Macht und Größe, wird von der Phantasie des Kindes gern zum König oder Kaiser erhoben; das wiederholt sich in den Träumen der Erwachsenen, in denen der Vater nicht selten als König auftritt. Feindselige Regungen gegen den Vater äußern sich beim Knaben darin, daß er in seiner Phantasie den Vater entthront, sich selbst zum Sohne eines imaginären Königs erhebt und seinem tatsächlichen Vater nur die Rolle eines Pflegevaters zuerteilt. Ein Prinz zu sein, gehört zu den gebräuchlichsten Größenphantasien des Kindesalters. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der kleine Segantini diese Phantasien mit der Kunde vom König von Frankreich zu einer Vorstellung verwoben hat, die dann vermöge ihres Wunschcharakters in seinem Gedächtnis die Geltung eines wirklichen Erlebnisses erlangte.

Die ganze ergreifende Kindheitsgeschichte Segantinis gleicht einem individuellen Mythus. Menschen mit stark ausgeprägtem Ehrgeiz pflegen ihre Kindheit mit solchen Mythenbildungen zu umgeben. Daß diese sich in unserem Falle so weitgehend mit den Sagen von der Geburt des Helden decken, läßt erkennen, wie Segantini aus der Tiefe der menschlichen Seele schöpft 4).

Wie schon angedeutet, mußte Segantini nach kurzer Zeit sein Asyl verlassen und zu seiner Schwester zurückkehren.

Aus den folgenden Jahren liegen spärliche Nachrichten vor. Wir wissen nur, daß Segantini bei seinen Stiefgeschwistern herumgestoßen wurde. Eine Weile war er bei einem Stiefbruder untergebracht, der im Val Sugana einen Wursthandel betrieb, dann wieder bei der Schwester, die inzwischen einen Schankwirt geheiratet hatte. In solcher Umgebung mußte der Knabe leben; mit seiner Phantasie freilich weilte er in fernen Welten und ein paarmal lief er auch wirklich davon, in der festen Zuversicht, daß ihm das Glück begegnen werde wie im Märchen. Als schließlich sich niemand zutraute, mit solch einem Ausreißer und Taugenichts fertig zu werden, entledigte man sich seiner und tat ihn in eine Korrigendenanstalt in Mailand. Dort wurde er mit Schuhflicken beschäftigt.

Auch die Disziplin dieser Anstalt vermochte den Willen des erst Zwölfjährigen nicht zu brechen. Und wie gegen jede andere, so sträubte er sich auch gegen die geistliche Autorität. Als er zum erstenmal zur Kommunion gehen sollte, weigerte er sich hartnäckig. Die darob über ihn verhängte Arreststrafe verbüßte er und – lief dann fort. Er wurde aufgegriffen und wieder eingeliefert und blieb nun in der Anstalt, bis er 15 Jahre alt war. Seine Vorgesetzten mußten sich bequemen, ihre Erziehungsmethode seinem Wesen anzupassen. Dadurch kamen sie besser mit ihm aus. Schließlich setzte er seinen lang gehegten Wunsch durch, daß er zu einem Malermeister in die Lehre gegeben wurde.

Der fünfzehnjährige Lehrling stand nun einem neuen Machthaber gegenüber, der als ein braver, aber auf seine geringe Kunst allzu eingebildeter Mann geschildert wird. Der brachte es ebensowenig wie seine Vorgänger fertig, dem selbstbewußten Zögling seine Meinungen aufzuzwingen.

So war hier für Segantini des Bleibens nicht allzu lange. Mit energischem Entschluß trennte er sich von seinem Meister, trat in die Kunstschule der Brera ein und versuchte, sich mit Mühe und Not seinen Unterhalt zu erwerben. Auf allerhand Art verschaffte er sich einen kärglichen Verdienst, der oft nicht reichte, seinen Hunger zu stillen.

Durch seine überlegene Begabung und seine ausgeprägte Persönlichkeit aber erwarb er sich rasch Ansehen bei seinen Kollegen. Denjenigen unter den Kunstschülern, die sich gegen Tradition und Schule auflehnten, wurde er bald zum Führer. Als solcher erregte er das Mißfallen der Lehrer. Nach einem ersten Erfolg des jungen Revolutionärs auf der Mailänder Ausstellung wies man das folgende Mal dem von ihm ausgestellten Bilde einen ganz ungünstigen Platz an. Da brach Segantinis ganze Impulsivität durch. Es kam zu einer Szene, von der Servaes (S. 34) berichtet: «Er ging hin, riß seine Arbeit herunter und zerstückelte sie. Und nicht genug damit; als er auf der Straße dem Professor begegnete, in dem er den Veranlasser des ihm widerfahrenen Unrechtes witterte, stellte er ihn heftig darüber zur Rede und so schwer fiel es ihm, sein Temperament zu bemeistern, daß er sich an einen Laternenpfahl anklammerte und diesen so lange mit Heftigkeit rüttelte, bis die Scheiben oben zerklirrten.»

Nun konnte Segantini auch hier nicht länger bleiben, und der Zwanzigjährige, der keine Macht über sich duldete, tat den kühnen Schritt zur Selbständigkeit. Beständig mit der äußersten materiellen Not kämpfend, verfolgte er seinen Weg mit unbeugsamer Energie. Er hat das Schicksal seiner Jugend mit beredten Worten zusammengefaßt 5): «Mit meinem Körper, in den das Schicksal meine Seele legte, hatte ich viel zu kämpfen. Er war verlassen und Waise mit sechs Jahren, so allein ohne Liebe, fern von allen wie ein toller Hund. In solchen Verhältnissen konnte ich nur verwildern und gegenüber den bestehenden Gesetzen war ich stets von Unruhe und Aufruhr erfüllt.»

Vielleicht den stärksten Ausdruck seines Widerwillens gegen jede Unterordnung hat der junge Segantini bald danach durch eine Handlung gegeben, die Servaes schonend mit Stillschweigen übergangen hat. Segantini, der österreichischer Staatsangehöriger war, entzog sich dem Militärdienst. Daß ihn die möglichen Folgen an diesem Schritt nicht zu hindern vermochten, zeigt, wie sehr ihn der Drang nach Unabhängigkeit beherrschte. Seine Strafe war, daß er den Boden seiner Heimat auf lange Zeit hinaus nicht betreten durfte. Er hat schwer unter dieser Strafe gelitten. Als er starb, stand er nahe vor der Erfüllung seines Herzenswunsches, die geliebte Heimat wiederzusehen.

Jene Handlung scheint unvereinbar mit dem Charakter eines ethisch so stark empfindenden Menschen wie Segantini. Sie wird uns aus der Analyse seines Unbewußten verständlich. Im heimatlichen Boden liebte er seine Mutter; aber in der Staatsgewalt seines Landes haßte er den Vater.

 

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1) Menschen, deren aggressive Triebregungen durch starke Verdrängung gehemmt sind, identifizieren sich in ihrer Phantasie auch heute noch gern mit Napoleon. Hier liegt die wichtigste unbewußte Quelle des Napoleonkultus.  

2) Traum und Mythus. Eine Studie zur Völkerpsychologie. Schriften zur angew. Seelenkunde, Heft 4. 

3) Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden. Schriften zur angew. Seelenkunde, Heft 5. 

4) Wir dürfen nicht annehmen, daß Segantini in seiner phantastischen Produktion durch die Kenntnis der Heldensagen beeinflußt worden sei; seine Bildung dürfte hiezu nicht ausgereicht haben.  

5) Seite 72 der Sammlung von Bianca Segantini.