BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rudolf Diesel

1858 - 1913

 

Solidarismus:

Natürliche wirtschaftliche

Erlösung des Menschen

 

Erstes Buch.

Wesen, Organisation und Wirkungen

des Solidarismus.

 

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Kapitel 7.

Wirkungen des Solidarismus.

 

Brüder! Der Zweck der Arbeit, gleichgültig ob körperlich oder geistig, ist, mit geringstem Aufwand und kleinster Anstrengung die volle Befriedigung aller physischen, intellektuellen und moralischen Existenzbedürfnisse der Arbeitenden und ihrer noch nicht oder nicht mehr arbeitsfähigen Angehörigen sowie deren Schutz gegen die Folgen der natürlichen Ungleichheiten und der sozialen Schädlichkeiten von der Geburt an bis zum Tode.

Diesen Zweck könnt ihr, auf euch selbst angewiesen, nicht erreichen; ihr erreicht ihn aber im Solidarismus dadurch, daß die Gesamtheit für jeden einzelnen eintritt, unter der Bedingung, daß jeder einzelne einen bestimmten Teil seiner Arbeit durch freiwillig übernommene Verpflichtung der Gesamtheit widmet.

Eine gesunde Volkswirtschaft hat durch eine richtige Organisation der Arbeit die zweifache Aufgabe zu lösen:

Erstens: Daß der oben umschriebene Zweck der Arbeit für jedes einzelne ihrer Mitglieder im vollem Umfange erreicht werde. [44]

Zweitens: Daß durch diese Wahrung der Interessen der einzelnen das große Interesse der Gesamtheit ihrer Mitglieder nicht leide.

Daß der Solidarismus diese zweifache Aufgabe für seine Angehörigen vollständig löst, ist in folgendem erwiesen.

 

 

Wirkungen des Solidarismus auf das Wohl der einzelnen.

 

Materielles Wohl der Brüder.

 

Wenn ihr Bienen seid, so sorgt der Bienenstock durch das garantierte Normaleinkommen für alle eure unmittelbaren Lebensbedürfnisse in ausreichender Weise; durch das Ergänzungseinkommen seid ihr in der Lage, auch darüber hinaus an den Genüssen des Lebens und den Segnungen der Kultur reichlich teilzunehmen. Gleichzeitig mit der Erhöhung eurer Einnahmen gibt euch der Bienenstock bedeutende Verminderung eurer Ausgaben durch seine Tauschlager und seine sozialen Einrichtungen. Die Krankheits- und Unfallszuschüsse, die Krankenhäuser und Ärzte sorgen für euch bei Krankheiten und Unfällen; die Bestimmung, daß ihr nur bei eigener Pflichtverletzung entlassen werden könnt, gibt euch Sicherheit gegen Arbeitslosigkeit; der Invalidenanteil sichert euch gegen die Folgen der Arbeitsunfähigkeit, der Seniorenanteil gewährt euch in noch genußfähigem Alter Freiheit von Arbeit bei ungeschmälertem Normaleinkommen; die Witwen- und Waisenanteile und die Erziehung der Doppelwaisen sorgen für eure Hinterbliebenen im Falle eures Todes. Indem der Bienenstock euch und die Euren ein für allemal von allen materiellen Sorgen des Lebens befreit, macht er euch zu unabhängigen Menschen.

Aber auch ihr Brüder, die ihr noch nicht das Glück habt, Mitglieder von Bienenstöcken zu sein, kommt durch eure bloße Zugehörigkeit zur Volkskasse zu Vorteilen, die ihr auf keinem andern Weg erlangen könnt: sie ermöglicht euch bessere, billigere, mühelosere Lebenshaltung durch den Bezug eurer sämtlichen Lebensbedürfnisse zu Bienenpreisen, und durch die Mitbenutzung aller sozialen Einrichtungen der Bienenstöcke zu denselben Bedingungen wie die Bienen selbst: die Krankenpflege in den Krankenhäusern, die hygienischen Einrichtungen, die Erziehung und Versorgung eurer Kinder im zartesten Alter, der Unterricht und die Fortbildung auch nach dem schulpflichtigen Alter, die gesunde Kost, die hygienischen Wohnungen usw. Alle diese Einrichtungen vermindern und vereinfachen euch die Sorge für Küche, Haus und Erziehung und heben euer materielles Wohl.

Brüder! Vergegenwärtigt euch doch die Wirkung all dieser Einrichtungen auf euer Familienleben! Wenn eure Kinder in bestgeleiteten Anstalten und Schulen untergebracht, mit liebevoller Pflege umgeben sind, euer Weib sich nicht mehr mit Einholen, Kochen und Zutragen der Nahrungsmittel, mit Krankenpflege zu befassen hat, welche Ruhe wird da in euer Heim einziehen, wieviel schöner, gemütlicher sich dasselbe gestalten, wieviel Zeit könnt ihr auf Erholung und Unterhaltung, [45] auf Fortbildung, nach der ihr doch alle lechzt, auf edlen Lebensgenuß im Familien- oder Freundeskreis verwenden! Eure Frau kann sich, wenn sie es wünscht, ohne Familienpflichten zu verletzen, einem Beruf hingeben und so das stolze Bewußtsein bekommen, auch ihrerseits zum materiellen Wohlstand des Hauses beizutragen.

Freilich werdet ihr Bienen diese gemeinnützigen Einrichtungen, diese Schulen, Krankenhäuser, Speisehallen selbst zu bezahlen haben, da ja euer Bienenstock dieselben unterhält und daher diese Kosten vom Erträgnis desselben abgehen; aber, wenn dieselben nicht vorhanden wären, hätte jeder einzelne von euch doch die Ausgaben dafür zu bestreiten, welche im Leben doch nicht zu umgehen sind, und dann tritt von selbst die Frage auf:

Ist es denn nicht billiger und besser, die Nahrungsmittel nur an einer einzigen Stelle im Großen einzukaufen, statt an hundert oder tausend Plätzen in einzelnen, minimalen Mengen, sie an einer Stelle, auf einem Feuer zu kochen, statt auf hundert oder tausend zerstreuten Herden, eure Kinder an einer Stelle zu erziehen, in schönen, gesunden Räumen, mit allen notwendigen Mitteln, statt in Tausenden von engen Wohnungen, mit unzulänglichen Mitteln, nur zu oft verwahrlost, unbewacht, sich selbst überlassen?

Alles was besser und billiger gemeinsam vollbracht wird, soll der Mensch nicht einzeln ausführen. – Alles, was von allen benutzt wird und allen zugute kommt, wie die sozialen Einrichtungen, soll auf gemeinsame Kosten gehen. – Alles was nur von einzelnen oder von jedem verschieden beansprucht wird, wie Nahrung, Kleidung, soll der einzelne selbst bezahlen, aber zum Bienenpreise. Diese Grundsätze führt der Solidarismus für alle Bedürfnisse der Brüder, welcher Art sie auch seien, folgerichtig durch.

Diese solidaristische Interessengemeinschaft bringt unberechenbare Ersparnis an Zeit, Kraft, Geld, Aufregung und Mühe, und das Endergebnis ist eine gewaltige Verbesserung für jede Einzelwirtschaft.

 

Körperliches Wohl der Brüder.

 

Auf der Gesundheit beruht die geistige und körperliche Produktionskraft des einzelnen und des ganzen Volkes, mit der Kraft und Gesundheit steigt und fällt seine Leistung. Deshalb nimmt der Solidarismus euch schon im zartesten Alter im Säuglingsheim unter seine Fittiche, versorgt euch dann in Kinderhorten, überwacht eure Gesundheit durch die Bienenstockärzte auch im schulpflichtigen Alter und während eurer Lehrzeit, gibt euch gesunde Aufenthaltsräume, Spiel- und Sportplätze und verfolgt auf Schritt und Tritt euer Wohlbefinden. Und diese Sorge hört nicht auf, wenn ihr erwachsen seid; jederzeit steht euch der Rat erfahrener, eurem Wohl ergebener, ja an eurem Wohl direkt interessierter Ärzte zur Seite; Bäder und hygienische Einrichtungen aller Art, gesunde Wohnungen, gesunde Kost stehen euch zur Verfügung; ein jährlicher Urlaub gestattet euch Erholung von der Anstrengung der Arbeit. Eure Betriebe und die Hygiene eurer Wohnungen werden [46] ständig überwacht, um Krankheiten und Unfälle nach menschlich möglichen Kräften zu vermeiden und um euer höchstes Gut, die Gesundheit, vor Gefahren zu schützen; wenn euch trotzdem etwas zustößt, so stehen euch die besteingerichteten Krankenhäuser, die sorgfältigste ärztliche Pflege, zu Gebote; und das alles kostenlos für euch und die Euren, am Orte eurer Tätigkeit mühelos erreichbar, nur anzunehmen und zu benutzen ohne umständliche Formen, Kontrollen und Schreibereien.

Und schafft denn nicht die völlige Befreiung von materiellen Sorgen – die erste Bedingung für das körperliche Gedeihen – für die gute Wirkung all dieser Maßnahmen die notwendige Unterlage, und werden dieselben nicht gefördert durch Wegschaffung zahlloser unnützer Arbeiten und Anstrengungen aus eurem Leben?

 

Geistig-sittliches Wohl der Brüder.

 

Der Solidarismus sorgt nicht nur für euer materielles und körperliches Wohl sondern auch in vollstem Umfange für eure geistigen und sittlichen Bedürfnisse.

In den Kinderschulen der Bienenstöcke wird in eure Kinder schon beim ersten Erwachen ihres Geistes und vor der Schulpflicht die Aufnahmefähigkeit für geistige Entwicklung und der Keim zu sittlichen Grundsätzen und Gewohnheiten gelegt, und dies wird fortgesetzt durch die sorgfältige Überwachung und Bewahrung vor sittlichen Schäden und Verwahrlosung während der Schulzeit. Nach dieser Zeit nimmt der Bienenstock eure Söhne wieder ganz unter seine Führung durch Fachunterricht in seinen Lehrwerkstätten unter gleichzeitiger Weiterbildung in Fortbildungsschulen; eure Töchter werden in den Anstalten der Bienenstöcke zu praktischen, sparsamen Hausfrauen erzogen, fähig, auch ihre Kinder auf eine geistig und sittlich höhere Stufe zu bringen und ihre Ehemänner an das Haus zu fesseln.

Der Solidarismus übernimmt auf diese Weise die soziale Erziehung und bildet nach und nach Menschen heran, denen das soziale Gewissen, die Vertragstreue, die unerschütterliche Ehrenhaftigkeit und die Solidarität aller Menschen, aber auch die Sparsamkeit und Vorsorge, die Wahrheit und Natürlichkeit, die Mäßigkeit, die respektvollen Beziehungen der Geschlechter, selbstverständliche Dinge sind, und welche von Generation zu Generation festere Stützen des Solidarismus werden, da sie von Hause aus für diesen erzogen sind und das Leben ohne denselben nicht kennen und nicht verstehen.

Diese günstige Beeinflußung hört auch in eurem späteren Leben nicht mehr auf; durch die obligatorischen Rücklagen zu dem Anteilfonds der Volkskasse wird auch im reifen Alter der Sinn für Sparsamkeit und Vorsorge wach erhalten; für die Befriedigung eures Wissensdurstes und Bildungsdranges, das Höchste was in euch ist, sorgt der Solidarismus durch die im Bienenstock veranstalteten Vortragszyklen über nützliche und bildende Stoffe, durch die euch zur Verfügung stehenden Bücher und Zeitschriften und all die Einrichtungen, welche euch das Wissen und die Kunst näher zu bringen bestimmt sind. Euer Stipendienfonds sorgt dafür, [47] die von der Natur Begabten höheren Studien zuzuführen und euch Ausstellungen und ähnliche Veranstaltungen zugänglich zu machen, deren Resultate wieder eurem Bienenstock, eurer Gesamtheit zugute kommen. Auch für die so notwendige und nützliche Erholung und Geselligkeit, für euer Anschlußbedürfnis im Kreise eurer Kollegen und Freunde unter Zuziehung eurer Familien ist gesorgt, und auch in dieser Richtung wird eure Lust und Freude am Leben erhöht.

 

Ethische Wirkungen des Solidarismus.

 

Brüder! Ein jeder von euch strebt nicht nur nach Selbsterhaltung sondern auch nach Glück auf Erden; ein jeder sucht sein Leben so reich und wertvoll als möglich zu gestalten; das ist euer unveräußerliches Recht. Daß jeder dabei bestrebt ist, den höchsten Gewinn, die höchste Leistung mit geringstem Aufwande und geringster Anstrengung zu erreichen, ist im innersten Wesen des Menschen begründet, ist das Naturgesetz seines Lebens, das Grundprinzip aller menschlichen Tätigkeit, der Schlüssel zu jedem Fortschritt. Dieses Weltgesetz des kleinsten Kraftaufwandes, das auch die körperliche Welt regiert, und dessen universelles Wirken die Wissenschaft zu erkennen beginnt, muß auch das natürliche Gesetz der menschlichen Wirtschaft sein, aber nicht zugunsten einiger weniger, sondern allein zugunsten der Gesamtheit. In diesem Sinne aufgefaßt, wird das Gesetz des höchsten Gewinns mit geringster Anstrengung zum höchsten und moralischesten Gesetz menschlicher Tätigkeit und menschlichen Fortschritts, zur hauptsächlichsten, ja einzigen Triebkraft einer ganz von selbst spielenden Wirtschaftsorganisation. Die logische Anwendung dieses Gesetzes führt von selbst, ohne Zwang, zum Ersatz des wilden Interessengegensatzes durch Interessengemeinschaft, des Klassenkampfes durch Klassenversöhnung, des Kampfes aller gegen alle durch das Eintreten aller für alle, zum

 

Solidarismus!

 

Der Solidarismus fordert erst das Wirken des einzelnen für die Gesamtheit, dann erst das Eintreten der Gesamtheit für den einzelnen. Erst Pflicht, dann Recht!

Der Solidarismus fordert schon von jedem Bruder zuerst und ständig die Abgabe eines geringen Teils seiner Einkünfte an die Gesamtheit, die Volkskasse, aber erst im Bienenstock kommt diese Pflichterfüllung gegen die Gesamtheit zu ihrer vollen Entfaltung: für die Gesamtheit der Brüder unterhaltet ihr die Speisehallen, die hygienischen Einrichtungen, die Krankenhäuser, die Ärzte; der Gesamtheit der Brüder widmet ihr die Kinderhorte, die Schulen, die Unterrichts- und Fortbildungsanstalten, die Bibliotheken, die Einrichtungen für Geselligkeit und Erholung; für die Gesamtheit sind die Tauschlager zu Bienenpreisen bestimmt; der Gesamtheit der Bienen gehört derjenige Teil der Erträgnisse, welcher im Anteilfonds der Volkskasse deponiert wird. [48] Erst wenn ihr diese Arbeit für die Gesamtheit geleistet habt, dürft ihr euer Ergänzungseinkommen beziehen, dieses aber, wie das Normaleinkommen, wie alle Bezüge überhaupt, sowie die Bezüge eurer Witwen und Waisen, proportional eure Leistung für die Gesamtheit.

Was du für die Gesamtheit tust, das tust du für dich, denn du bist ein Teil der Gesamtheit; niemals dienst du den Zwecken anderer; jede nützliche Handlung, jede Anstrengung, jede Verbesserung für die Allgemeinheit, übt sofort für dich selbst und deine Familie das ganze Leben hindurch und darüber hinaus für deine Nachkommen ihre Wirkung aus. Der Solidarismus gewährt keine Almosen, keine Unterstützung, keine Wohltat; er beseitigt deren Notwendigkeit; alles, was der Solidarismus dir und den deinen gibt, ist dein wohlverdientes Recht, erworben durch deine Arbeit für die Gesamtheit. Der Grundsatz: der höchsten Leistung für die Gesamtheit die höchste Entlohnung durch die Gesamtheit verwirklicht den in jedes Menschen Brust wohnenden Gerechtigkeitsbegriff.

Und das alles geschieht in Frieden und Liebe! Denn, da ihr alle Beteiligte am gemeinsamen Werke seid, so sind keine Gegensätze zu schlichten, sondern nur gemeinsame Interessen zu beraten; es gibt also bei den manchmal doch auftretenden Differenzen keine Kläger und Beklagte, sondern nur Meinungsverschiedenheiten, die meist durch Vermittlung, ausnahmsweise durch Schiedsspruch erledigt werden, gesprochen von euren eigenen Vertrauensmännern in voller Menschenliebe und mit dem Bewußtsein, daß niemand ein Strafrecht über seinesgleichen hat, sondern ein jeder die Pflicht, auszuhelfen, zu stützen, keine brauchbare Kraft verloren gehen zu lassen.

Auch eure Freiheit wahrt der Solidarismus; denn euer Beitritt zur Volkskasse und euer Austritt aus derselben sind freiwillig; der Arbeitsvertrag der Bienenstöcke ist ein freiwilliger und freier, mit gleichen Rechten für alle; kein Gesetz zwingt euch, ihm beizutreten; auch die sozialen Einrichtungen der Bienenstöcke könnt ihr benutzen oder nicht; ihr seid freie Menschen! Nur die Überzeugung von dem Nutzen der solidaristischen Einrichtungen soll euch zu deren Benutzung veranlassen, nur das natürliche Spiel derselben soll euch zu ihnen ziehen, euch an dieselben fesseln.

Ihr seht, Brüder, daß der Solidarismus alle sozialen Tugenden in euch erweckt und entwickelt! Euer Streben nach eigenem Glück wird zugleich das wunderbarste, segensreichste Prinzip tätiger Nächstenliebe, da alles, was ihr als Brüder und Bienen tut, für alle geschieht, im Namen des Solidarismus. Euer gemeinsames Arbeiten im Selbstbetriebe hebt das Gefühl der Selbstzucht und Disziplin, der Verantwortlichkeit und der Pflicht, der Toleranz und wahrhaften Gerechtigkeit gegen andere, stärkt den Charakter und den Willen. Das Gesetz: „höchster Lohn der höchsten Leistung für die Gesamtheit“ zeitigt die höchste Entfaltung der Persönlichkeit; die Sparkassen und sozialen Einrichtungen erwecken die Vorsorge ohne Egoismus und Genußsucht. Eure völlig freie Betätigung und Selbstbestimmung, der Vollbesitz des Erträgnisses eures Arbeitsprodukts, die Tatsache, daß jeder den Erfolg sich selbst verdankt, erhöhen das Gefühl eurer menschlichen Würde, geben euch die Energie eines ernsten [49] und hohen Wollens zur Selbstbetätigung und Selbstvervollkommnung; sie geben euch die Gabe, die Würde und Hoheit der Arbeit anzuerkennen, die Wertschätzung des Menschen nicht nach Äußerlichkeiten, sondern nach seiner Leistung und seinem Verdienst für die Gesamtheit zu beurteilen, denn nicht die Arbeit allein adelt, sondern nur die Arbeit für die Gesamtheit! Diese allein ist der Ursprung alles Guten und Edlen auf Erden, die Quelle von Freude und Glück.

Und auch für die äußere Anerkennung, welche der Mensch für seine Tätigkeit nicht entbehren kann, sorgt der Solidarismus dadurch, daß sowohl in der Volkskasse als in Bienenstöcken die Verwaltung durch freie Wahl der Besten stattfindet, daß die höchsten Ehrenstellen denen zufallen, welche das Höchste für die Gesamtheit leisteten.

 

 

Wirkungen des Solidarismus auf das Wohl der Gesamtheit.

 

Die geschilderten Wirkungen des Solidarismus auf den einzelnen gehören eigentlich auch hierher, denn die Grundidee des Solidarismus ist die Gleichstellung des Einzelwohls mit dem Gesamtwohl: wenn für alle einzelnen gesorgt ist, so ist auch für die Gesamtheit gesorgt, denn die Summe der einzelnen ist die Gesamtheit. Gleichwohl ist die Einteilung in Einzelwohl und Gesamtwohl beibehalten, um zu beweisen, daß diese zwei Dinge nicht sich ausschließen, sondern im Gegenteil im Solidarismus tatsächlich identisch sind.

Der Solidarismus befriedigt, wie ihr gesehen habt, die Existenzbedürfnisse jedes einzelnen von seiner Geburt bis zu seinem Tode; ist er richtig aufgebaut, so muß er nunmehr die Probe darauf bestehen, daß er auch jederzeit das Interesse der Gesamtheit wahrt und niemals das eine dem andern opfert.

Aus der Definition des Zwecks der Arbeit, welche an den Kopf dieses Kapitels gestellt wurde, ergibt sich ohne weiteres der Wert des Arbeitsprodukts: der Erlös aus demselben muß so groß sein, daß der geschilderte Zweck erreicht wird; nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Euer Bienenstock bestimmt demnach den Wert seiner Arbeitsprodukte so, daß er durch seine Erträgnisse allen seinen vertragsmäßigen Verpflichtungen in bezug auf Einkommen seiner Bienen, soziale Einrichtungen, Anteile etc. nachkommen kann, nachdem er alle seine Geschäftsunkosten, einschließlich der Rückzahlung und Verzinsung seines Kapitals in Abzug gebracht hat. Zu dem so bestimmten wirklichen Selbstkostenpreise oder natürlichen Preise, welcher Bienenpreis genannt wird, ist er zur Lieferung an alle Bienenstöcke und Brüder verpflichtet; darüber hinaus darf er nichts fordern, da dies über den Zweck der Arbeit hinausginge und zu überflüssiger Anhäufung von Geld, für welches keine vertragsmäßige Verwendung besteht, führen müßte. Eine gewisse Beweglichkeit der Preisbestimmung liegt nur in dem Resterträgnis des Bienenstocks; dieses gehört aber zur Hälfte der Gesamtheit, die andere Hälfte, das Ergänzungseinkommen, dient als wohlverdiente Entlohnung besonderer Anstrengungen und Leistungen, um die ebenfalls im Arbeitszwecke liegende Forderung des geringsten Aufwandes herbeizuführen; je größer [50] eure Leistung, je geringer gleichzeitig euer Aufwand, desto größer euer Ergänzungseinkommen. Daß dieses nicht mißbraucht werde, um die Preise unnatürlich in die Höhe zu schrauben, dafür sorgt die Gegenseitigkeit eurer Bienenstöcke; sind doch im Solidarismus Produzent und Konsument vereinigt; jeder Bienenstock liefert seine Waren nicht nur an die andern, sondern auch an seine eigenen Bienen zum gleichen Preise; ihr habt kein Interesse an künstlicher Preiserhöhung, die ihr auch selbst bezahlen müßtet, und welche die andern Bienenstöcke euch ebenfalls durch höhere Preise entgelten lassen würden. Die Vereinigung von Produzent und Konsument in Bienenstöcken führt daher niemals eine Verteuerung, sondern nur eine möglichste Verbilligung aller Waren zugunsten aller bis zu ihrer natürlichen unteren Grenze herbei. Eine obere Grenze ist den Bienenpreisen an und für sich schon gesteckt; sie dürfen keinesfalls höher sein als die Fabrikpreise der heutigen Unternehmungen, da ja, wenn sie höher wären, den Brüdern aus der Verpflichtung des Bezugs ihrer Bedürfnisse aus den Bienenstöcken Nachteile statt Vorteile entstehen würden.

Eine der wichtigsten volkswirtschaftlichen Wirkungen des Solidarismus ist demnach die Preisbestimmung der Arbeitsprodukte außer durch die darauf verwendeten Geschäftsspesen lediglich durch den Wert der auf deren Herstellung und Verteilung verwendeten Arbeit, unabhängig von äußern zufälligen Einflüssen, wie Nachfrage und Angebot, Konjunktur etc., oder von erzwungenen und künstlichen Einflüssen. Diese natürliche Preisbestimmung ist die einzig gerechte, denn Produktionsfaktor ist nur Arbeit, und zwar geistige wie körperliche, welche getrennt undenkbar sind; Wertmesser der Arbeitsprodukte kann daher neben den allgemeinen Geschäftsauslagen, zu welchen ein für allemal Verzinsung und Rückzahlung des Kapitals gehören, nur die darauf verwendete Arbeit im allgemeinen Sinne sein; Arbeit allein verleiht Wert und ist Wert; ein Naturprodukt ohne Arbeit, eine ganze Fabrik ohne Arbeit sind wertlos. Wenn somit durch die solidaristischen Verträge der Wert des Arbeitsprodukts für die Brüder fest bestimmt ist, so wird damit die Schwankung des Marktpreises beseitigt.

Da ferner eure Bienenstöcke sich gegenseitig ihre Waren liefern, so haben sie einen ganz bestimmten, bekannten Konsumentenkreis; ihr werdet demnach nicht aufs Geratewohl produzieren, sondern nur entsprechend dem euch stets bekannten Konsum; ein Überschuß würde ja liegen bleiben oder die Arbeit eures Bienenstocks auf einige Zeit lahmlegen; jeder Bienenstock hat demnach sein bestimmtes Arbeitspensum, nach welchem er sein Personal und seinen Betrieb einrichtet; damit ist die Notwendigkeit des Verkaufs zu Schleuderpreisen bei Überproduktion, die pressante Nachfrage mit Preissteigerung zu andern Zeiten vermieden. Durch diesen natürlichen Warenaustausch der Bienenstöcke zu Bienenpreisen ist somit innerhalb der solidaristischen Organisation das vielleicht größte und schwierigste Problem moderner Volkswirtschaft gelöst: die Beseitigung der zügellosen, anarchistischen Produktion, die natürliche Regelung der Produktion nach der Nachfrage, die Vermeidung der periodischen Krisen, welche alle Völker so schwer heimsuchen.

[51]

Die Konkurrenz verschwindet mit ihren die Kräfte nutzlos aufreibenden, alle Schwächeren brutal vernichtenden Kämpfen; der Solidarismus beseitigt im Gegenteil die größere oder geringere Geschicklichkeit, überhaupt die Ungleichheit der Kontrahenten, und stützt den Schwächeren durch den Überschuß des Stärkeren; er beseitigt die lediglich aus der Konkurrenz entstehende Herstellung vieler überflüssiger und schädlicher Dinge. Der Solidarismus beseitigt auch das Hauptübel der Konkurrenz: die Preisunterbietung auf Kosten der Qualität und ersetzt es durch einen gewaltigen Vorteil, das Überbieten in der Qualität bei gleichem Preise, denn aus den Tauschlagern der Bienenstöcke werden selbstverständlich – da der Preis feststeht – immer die besten Waren vorgezogen, die geringeren nicht nachverlangt.

Auch das Risiko ist durch die solidaristische Organisation der Arbeit und der Warenverteilung beseitigt, denn dasselbe ist nicht mehr vorhanden, sobald die Produktion sich nach der Nachfrage regelt; außerdem haftet die Volkskasse für Kapital und Zins der Bienenstöcke, für Normaleinkommen usw. der Bienen; was also allenfalls an Risiko dennoch verbleiben könnte, wird von Millionen von Schultern getragen, d. h. es wird gleich null.

Auch die volkswirtschaftlich eminent wichtige Forderung, daß der Zweck der Arbeit mit geringstem Aufwande erreicht werde, ist im Solidarismus befriedigt durch das Gesetz der höchsten Entlohnung für die höchste Leistung und dadurch, daß ihr im Bienenstock Geschäftsteilhaber seid, wodurch ihr von selbst danach strebt, möglichst viel zu leisten und dafür möglichst wenig Kraft, Material und Geld auszugeben.

Dadurch, daß der Bienenstock sein eigener Konsument ist, sind Fälschungen von Waren von selbst ausgeschlossen; hierdurch sowie durch die unbedingte Haftung der Volkskasse für Kapital und Zins, welche den allgemeinen Kredit befestigt, entsteht unbedingtes Vertrauen in Handel und Wandel. Dieses wird noch dadurch erhöht, daß die Schuldscheine der Bienenstöcke jederzeit ohne Vorauskündigung zum Nennwert einlösbar, daher jeder Spekulation unzugänglich sind; in den Kapitalmarkt kommt hierdurch Ruhe und Ordnung, dessen verderbliche Schwankungen sind beseitigt. Der Solidarismus bekämpft nicht das Kapital, er benutzt es, aber in festen und geregelten Bahnen.

Durch die billige Lebenshaltung unter gleichzeitiger Erhöhung des Einkommens, welche der Solidarismus herbeiführt, wird die Konsumfähigkeit der Massen und damit die gesamte nationale Volkswirtschaft enorm gekräftigt, denn für diese ist die Kaufkraft der großen Masse ausschlaggebend. 1) Wie der Solidarismus das Leben des einzelnen verbessert und erhöht, so verbessert und erhöht er auch das Leben der Gesamtheit, der Nation, welche die Summe der einzelnen ist.

Der Solidarismus regelt auch von selbst die Frage der Arbeitszeit, welche nur eine Frage des Eigeninteresses ist, beinahe unabhängig vom Willen; keiner von euch wird auch nur eine Minute länger arbeiten, [52] als zur Bewältigung des vorgeschriebenen Pensums erforderlich ist; wolltet ihr es tun, so könntet ihr es nicht, da über das Pensum hinaus nicht produziert wird; es wird sich bald von selbst herausstellen, ob bei geringerer Arbeitszeit die Intensität der Arbeit und eure Gesamtleistung zunimmt, wie dies durch Statistiker und Beobachter bewiesen zu sein scheint; ihr werdet bei derjenigen Arbeitszeit stehen bleiben, welche die höchste Gesamtleistung bietet und dabei eurem Bienenstock noch Ersparnisse an allgemeinen Unkosten, wie Heizung, Beleuchtung, Betriebskraft u. dgl., bringt.

Bei schwankendem Bedarf wird – der Arbeitsvertrag der Bienenstöcke sieht das vor – die Arbeitszeit dem Bedarf angepaßt. Da der Bienenstock euch nicht aus allgemeinen Gründen entlassen darf, so wird er sich hüten, zu viele Bienen anzustellen, falls einmal eine vorübergehende Mehrleistung erforderlich ist; diese Anpassung der Arbeitsleistung an den Arbeitsbedarf beseitigt die Arbeitslosigkeit; sie ist eine notwendige Folge der Anpassung der Produktion an die Nachfrage.

Auch die Frage der Akkordarbeit löst der Solidarismus von selbst; wenn ihr durch Akkordarbeit euer Normaleinkommen und damit proportional alle andern Einkünfte erhöhen könnt, so werdet ihr selbst danach verlangen, und die Bienenstockverwaltung wird es gewähren, da die Gesamtheit den Nutzen davon hat, nach dem Prinzip des Solidarismus: der höchsten Leistung für die Gesamtheit die höchste Entlohnung durch die Gesamtheit.

Die Hausindustrie, dieser Krebsschaden aller Volkswirtschaft, wird durch den Solidarismus ganz beseitigt, da Bienenstöcke nur Bienen beschäftigen dürfen, also nur solche Mitglieder, welche voll und ganz an dem Arbeitsvertrag der Bienenstöcke und dessen Wirkungen beteiligt sind.

Ganz in derselben selbstverständlichen Weise löst der Solidarismus die Frage nach der Altersgrenze, dem Seniorenalter der Bienen; auch das sieht euer Arbeitsvertrag vor, indem er folgendes bestimmt: „Weist der Anteilfonds der Volkskasse dauernde und beträchtliche Überschüsse auf, so sollen dieselben verwendet werden zur langsamen, gleichmäßigen Herabsetzung des Seniorenalters.“ Zeigt sich also im Laufe der Jahrzehnte, daß der Anteilfonds sich ständig vermehrt, so folgt daraus, daß für die Befriedigung aller Bedürfnisse zu viel gearbeitet wurde, und daß die Altersgrenze für alle Bienen, welche anfangs auf 65 Jahre angenommen war, auf 64, 63 Jahre herabgesetzt werden kann, ohne der Gesamtheit zu schaden; weitsehende Volkswirte haben schon oft ausgesprochen, daß bei richtiger Einteilung der Arbeit die Menschen mit 50, ja mit 40 Jahren aufhören könnten zu arbeiten, und daß 20 bis 25 Jahre richtig geleiteter, zielbewußter Arbeit aller Menschen zur Befriedigung ihrer gesamten Bedürfnisse ausreichen müßten. Die Herabsetzung der Arbeitsjahre ist eines der Hauptziele der Menschheit; das Gesetz: kleinster Aufwand für größte Leistung gilt nicht nur für den einzelnen sondern auch für die Gesamtheit; die Bedürfnisse der Gesamtheit sind nicht unbeschränkt, unendlich, im Gegenteil, deren Summe ist beschränkt, und es handelt sich darum, diese beschränkte Summe von Bedürfnissen mit geringstem Aufwand, namentlich an menschlicher Arbeit [53] zu befriedigen; es sollen möglichst viele Menschen möglichst früh das Seniorenalter erreichen. In dieser solidaristischen Auffassung der Verminderung des Arbeitspensums der Gesamtheit sind die Maschinen, die technischen Fortschritte überhaupt, die gewaltigsten und nützlichsten Faktoren und nicht mehr die Instrumente der Sklaverei, als welche sie heute oft angesehen werden.

Der Solidarismus beseitigt innerhalb seines Wirkungskreises die Streiks und ähnliche Lohnkämpfe; denn euer Bienenstock ist Selbstbetrieb, wird von euch selbst verwaltet; euch gehört das gesamte Erträgnis. Ein Streik wäre daher ein Auflehnen gegen euch selbst, eure eigenen Maßnahmen, ein Schneiden ins eigene Fleisch, eine sinnlose Handlung, welche ihr nicht begehen werdet, da sie dem gesunden Menschenverstand widerspricht, und weil ihr zur Erreichung eurer Wünsche das Wahlrecht in die Verwaltung habt.

Der Solidarismus macht die einzelnen nationalen Produktionszweige solidarisch, anstatt gegnerisch; es gibt keine Interessengegensätze zwischen denselben, da die Bienenstöcke ihre Produkte in gemeinsamen Tauschlagern an sich selbst liefern, sondern nur noch Interessengemeinschaft, da jede Last, die ein Produktionszweig dem andern auferlegen will, ihn als Abnehmer selbst trifft.

Und welche Fortschritte für die öffentliche Gesundheit bedeuten die zahlreichen, über das ganze Land verteilten kleineren besteingerichteten und überwachten Krankenhäuser gegenüber der hygienisch so verwerflichen Konzentration aller möglichen Kranken in den meist überfüllten Spitälern der Städte einerseits und dem gänzlichen Mangel derartiger Anstalten auf dem flachen Lande anderseits.

Die völlige Unabhängigkeit jedes Bienenstocks in bezug auf seine Lage beseitigt die materiellen und moralischen Nachteile der Anhäufung der Massen in den Großstädten und ermöglicht das Ideal der Volkswirtschaft, die Dezentralisation.

Von welch wohltätiger Wirkung ist endlich die Hebung des geistigen und moralischen Niveaus der Gesamtbevölkerung, nicht nur durch all die Einrichtungen, welche speziell in dieser Richtung wirken, sondern auch durch den ethischen Einfluß der solidaristischen Anschauung an sich.

 

 

Schlußwort zu diesem Kapitel.

 

Brüder! Der Solidarismus hat also seine Probe bestanden! Alle Wirkungen, welche dem einzelnen nützen, nützen auch der Gesamtheit; nirgends hat sich gezeigt, daß das Einzelwohl dem Gesamtwohl im Wege stände; von welcher Seite man es auch anfassen mag, stets zeigen sich die beiden identisch.

Der Solidarismus ist in seiner Grundidee, der Gleichstellung des Gesamtwohls mit dem Einzelwohl, von elementarer Einfachheit und doch so mächtig, daß er berufen ist, zum Träger eines der größten Fortschritte der Menschheit zu werden.

Der Solidarismus bringt in das scheinbar unlösbare Chaos des gegenwärtigen Wirtschaftslebens und dessen wilde Kämpfe plötzlich Licht, [54] Ordnung, Ruhe, Frieden, Harmonie, Gerechtigkeit, Vernunft, Liebe; er faßt all die Einzelbestrebungen zusammen, welche unter dem führenden Gedanken der Solidarität im Laufe und namentlich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts entstanden in Form von genossenschaftlichen Organisationen für Produktion und Konsum, wirtschaftlichen Systemen, sozialen Gesetzen, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Wohlfahrtseinrichtungen aller Art, Erziehungsbestrebungen der Massen; er faßt sie zusammen in eine einzige, einheitliche, scharf definierte, in Form bestimmter Verträge gefaßte Bewegung, deren Räderwerk so klar und verständlich vor euch liegt, daß der einfachste Verstand es fassen kann.

 

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1) Siehe Anhang 6, Seite 78.