BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Gudrun Eger

* 1940

 

Hat Malthus doch recht gehabt?

 

1985

 

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Mittwoch, 27. Februar 1985, Nr. 49  Seite 9

 

 

Hat Malthus doch recht gehabt?

 

Der bekannteste Gesellschaftstheoretiker nach Marx

ist immer noch aktuell. Von Dr. Gudrun Eger

 

Unlängst waren es 150 Jahre her, seit Thomas Robert Malthus im Alter von 68 Jahren in einem kleinen Ort in England gestorben ist. Er war – zumindest in Europa – der erste Inhaber eines Lehrstuhls für «Politische Ökonomie» und im 19. Jahrhundert wohl der bekannteste Gesellschafts­theoretiker nach Marx. Aufgrund seiner Beiträge zur Produktions- und Geldtheorie wird er zu den «Klassikern» der Volkswirtschaftslehre gezählt. und bis heute ist er der bekannteste Bevölkerungstheoretiker der Welt. Aber es gibt da noch andere Charakterisierungen: Er galt als der «am meisten gehaßte Mann seiner Epoche», und nach 1974 riefen Gegner verstärkter bevölkerungspolitischer Maßnahmen in den Entwicklungsländern dazu auf, «einen Pfahl in das Herz des alten Malthus zu treiben». Was hatte er getan, was war seine Schuld, daß noch im 20. Jahrhundert und 140 Jahre nach seinem Tod ein Aufruf zu seinem Pfählen ergehen konnte?

Im Jahr 1798 erschien in London ein Buch von fast 400 Seiten, dessen Titel in Deutsch folgendermaßen lauten würde: «Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, wie es die zukünftige Verbesserung der Gesellschaft beeinflußt, mit Bemerkungen über die Spekulationen von Herrn Godwin, Herrn Condorcet und anderen Autoren.» Der Verfasser hüllte sich in Anonymität. Innerhalb kurzer Zeit «war die Auflage vergriffen. Schon in den folgenden fünf Jahren gab es dazu aber mehr als 20 Gegenschriften.

1803 erschien ein Buch, dessen Titel mit den gleichen Worten beginnt «Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz», dessen Untertitel nun aber auf die politische Praxis verweist. Er lautet: «Ein Überblick über die früheren und gegenwärtigen Auswirkungen auf das menschliche Glück, mit einer Untersuchung unserer Perspektiven hinsichtlich einer zukünftigen Aufhebung . oder Milderung der Übel, die es verursacht.» Es handelte sich um eine veränderte und um mehr als das Doppelte erweiterte Fassung der anonymen Schrift, und der Name des Verfassers wurde nun nicht länger verschwiegen: Es war Thomas Robert Malthus, zu der Zeit als Dozent an einem College in Cambridge und als Hilfsgeistlicher tätig.

Das Werk entfachte eine heftige Diskussion, die «Bevölkerungs-» oder «Malthus-Debatte», die bis zum Ersten Weltkrieg geführt und nach dem Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang mit den Bevölkerungs­problemen der Entwicklungsländer wieder aufgegriffen wurde. Die Auseinandersetzungen beschränkten sich aber vorwiegend auf zwei Ausschnitte aus seinem Werk, nämlich die unmittelbaren Ausführungen zum «Bevölkerungsgesetz» und seine Kritik an den Armengesetzen der Zeit.

Die Ausführungen zum «Bevölkerungsgesetz» beginnt Malthus mit der folgenden Grundlegung: «Ich glaube, zwei Annahmen machen zu können: Erstens, daß Nahrungsmittel für die menschliche Existenz unerläßlich sind, und zweitens, daß die Anziehung zwischen den Geschlechtern notwendig ist und in ihrem jetzigen Umfang fortdauern wird. Wenn das stimmt, so folgt daraus, daß die Fortpflanzungs­fähigkeit der menschlichen Bevölkerung viel größer ist als die Möglichkeit des Bodens, genügend Unterhaltsmittel für die Menschen hervorzubringen.» Die Bevölkerung hat also die Tendenz, sich rascher zu vermehren, als die Produktion von Nahrungsmitteln gesteigert werden kann. Daraus folgt wiederum die Tendenz zu einem ständigen Druck gegen die Grenzen des Nahrungsspielraums. Es gibt aber eine Anzahl von Hemmnissen (checks), die verhindern, daß diese Grenze überschritten wird. Unter Umständen wird sie nicht einmal erreicht:

– Ein Faktor ist das Elend, also Seuchen, Hungersnöte und hohe Kindersterblichkeit, wobei in der Regel die «unteren Klassen» besonders betroffen sind.

– Ein zweiter Faktor umfaßt, was Malthus «Laster» nannte, das heißt vornehmlich «sexuelle Ausschweifungen», aber auch den Krieg.

– Neben diesen repressiven Faktoren nennt er aber auch eine prä­ventive Möglichkeit, nämlich «sittliche Enthaltsamkeit»: Die Eheschlies­sung soll so lange hinausgeschoben werden, bis der Unterhalt einer Familie gesichert werden kann – bei gleichzeitigem Verzicht auf anderweitige Befriedigungen des Geschlechtstriebes, die Malthus im Einklang mit den damals herrschenden Wertvorstellungen als lasterhaft und unerwünscht betrachtete.

Diese präventive Möglichkeit wird unter den unmittelbaren Aus­führungen zum «Bevölkerungsgesetz» erst in der Veröffentlichung von 1803 ausdrücklich erwähnt. In der ersten Fassung der «Abhandlung» ist sie allerdings schon umschrieben, das heißt «am Beispiel Englands überprüft». Hier legt Malthus dar, daß dieses Hemmnis in einem gewissen Ausmaß schon «auf allen gesellschaftlichen Rangstufen Englands wirksam zu sein» scheint.

Auf dem Hintergrund dieser Erkenntnisse hat er sich dann auch gegen die Armengesetze seiner Zeit gewandt. Diese sahen vor, den Arbeitern und Armen Unterstützung nach der Kinderzahl zu gewähren. Das führte dazu, daß die Fabrikherren Familienväter häufig besonders niedrig entlohnten, weil sie von der Armenfürsorge Gebrauch machen konnten. Mit der Ausbreitung der Industrialisierung waren dann mehr und mehr Menschen auf diese angewiesen. Malthus warnte, daß mit diesen Regelungen die Armut nur vermehrt und zum Teil sogar erst geschaffen würde, denn niemand habe es dann mehr nötig, bei Eheschließung und Kinderzahl seinen wirtschaftlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Außerdem wäre mit den Geldzahlungen zumin­dest kurzfristig keine entsprechende Erhöhung der Nahrungsmittel­produktion gewährleistet, so daß es zu Preissteigerungen der Unterhaltsmittel kommen könne, von denen die Armen am stärksten betroffen wären.

Malthus' Anliegen war, schon das Entstehen von Armut zu verhin­dern und die Menschen vor den unwürdigen Abhängigkeiten der damaligen Armenfürsorge zu bewahren. Unmittelbar sah er dazu nur den Weg der «sittlichen Enthaltsamkeit». Er räumte zwar ein, daß diese angesichts der Stärke des Geschlechtstriebes manchen Menschen Schwierigkeiten bereiten könne. Dennoch meinte er, daß die Mehrheit – wie er es sah – sicher so viel «Vernunft» aufbringen würde, eine spätere Familiengründung einer früheren vorzuziehen, wenn die unterschied­lichen Folgen der Verhaltensweisen genügend deutlich gemacht würden: nämlich einmal hinreichender Unterhalt und vielleicht sogar gesellschaftlicher Aufstieg und zum anderen Armut und Abstieg.

Im übrigen hat er durchaus gesehen, daß Unwissenheit und extreme Armut der Entwicklung des von ihm geforderten umsichtigen und vorausschauenden Verhaltens entgegenstehen können. Im Gegensatz zu anderen Gesellschaftstheoretikern seiner Zeit hat er sich daher für eine Schulbildung auch der «unteren Klassen» ausgesprochen. Und in seinem 1820 veröffentlichten Buch «Grundsätze der politischen Ökono­mie» hat er auch eine Erhöhung des Lebensstandards dieser Klassen als Mittel zur Förderung eines vorausschauenden Handelns begrüßt.

Er selbst hat nach den von ihm für erstrebenswert erachteten Grundsätzen gelebt. Erst nachdem er eine feste Einkommensquelle in der englischen Hochkirche erhalten hatte und 1804 auf den Lehrstuhl für Politische Ökonomie berufen worden war, heiratete er – im Alter von 38 Jahren – und hatte dann drei Kinder. Sein Vater dagegen hatte mit 22 Jahren geheiratet und sieben Kinder gehabt, wobei Malthus junior das sechste und der jüngere von zwei Söhnen war.

Anstoß für die «Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz» waren die Fortschrittstheorien von Condorcet sowie insbesondere des Engländers Godwin. Beide glaubten an eine Vervollkommnungs­fähigkeit von Mensch und Gesellschaft im Laufe der Geschichte, und zwar auf der Basis der Vernunft. Godwin vertrat die Auffassung, daß eine Gesellschaft von allseitiger sozialer Harmonie möglich wäre, wenn Institutionen wie die Ehe, die Religion und der Staat autgehoben und ein System des Gemeineigentums eingeführt würde. Es gäbe dann keinen Anlaß mehr zum Streit. Und «Der Geist würde von seiner steten Sorge um das leibliche Wohl erlöst und frei werden, um sich in den ihm gemäßen Gefilden der Gedanken zu ergehen». Auch würden die Leidenschaften zwischen den Geschlechtern verschwinden, wenn man das gesellschaftliche «Beiwerk» ihrer Beziehungen wegnähme.

Malthus entgegnete: «Das System der Gleichheit, das Mr. Godwin vorschlägt, Ist zweifelsohne das bei weitem herrlichste und anziehendste, das bisher präsentiert worden … Aber ach, jener Augenblick wird niemals kommen! Das Ganze ist nicht viel mehr als ein Traum!» Denn selbst wenn ein derartiges System jemals eingeführt würde, müßte es noch innerhalb einer Generation scheitern: Nach der bisherigen Erfahrung ist nämlich nicht «mit einem Erlöschen der Leidenschaft zwischen den Geschlechtern» zu rechnen. Und wenn dann alle gleich mit Unterhaltsmitteln versorgt würden und die Liebe zwischen den Geschlechtern nicht mehr an eine Eheschließung gebunden wäre, gäbe es keinen Grund für die geringste Beschränkung bei der Zahl der Kinder. Das Bevölkerungswachstum würde Höchstwerte erreichen; denen die Nahrungsmittelproduktion nicht mehr folgen könne. Eine baldige Verelendung wäre unvermeidbar, so daß auch die soziale Harmonie und das ganze System nicht mehr aufrechterhalten werden könnten.

Außerdem wandte sich Malthus gegen das Bild des reinen Vernunftmenschen. Zwar setzte er hinsichtlich der Vermeidung eines zu hohen Bevölkerungswachtums seit der Ausgabe von 1803 seine Hof­fnung auf die «Vernunft» bei der Entscheidung zur Familiengründung, aber insgesamt betrachtete er den Menschen als «zusammengesetztes Wesen», in dem bei den Entscheidungen des Verstandes auch stets – wie er es nannte – die Leidenschaften als störende Kräfte mitwirken, und zwar mit individuellen Unterschieden «einer stärkeren Leidenschaft oder einer schwächeren Urteilsfähigkeit».

Allein die unmittelbaren Ausführungen zu den Theorien von Condorcet und Godwin umfassen mehr als ein Drittel der Schrift von 1798. Seit der Ausgabe von 1803 sind sie aber stark in den Hintergrund getreten. Statt dessen beschäftigt er sich nun ausführlich mit den Hemmungsfaktoren eines maximalen Bevölkerungswachstums in verschiedenen Ländern und Kulturen der Welt. In einer Zeit, in der in England Fortschritts- und Harmonietheorien weithin das Denken, der gebildeten Kreise bestimmten, äußerte Malthus große Skepsis.. So einfach und fast automatisch konnte er sich eine Aufhebung des Elends und sonstiger gesellschaftlicher Mißstände nicht vorstellen. Anlaß zu Vorsicht boten schließlich auch die Auswüchse der Französischen Revolution, jenes «leuchtenden Kometen», der sich zumindest in den Augen vieler Engländer zur Hölle entwickelt hatte und Angst verbreitete.

Die «Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz» gab den Anstoß zu zahlreichen Auseinandersetzungen, die in wissenschaftlichen Abhand­lungen, in Zeitschriften, in Briefwechseln und sogar in Parlaments­debatten geführt wurden. Sie reichten von nüchternen statistischen Analysen bis zu begeisterter Zustimmung und Stürmen der Entrüstung. Bis in die Mitte unseres Jahrhunderts beschränkten sich die Ausein­andersetzungen jedoch weithin auf die unmittelbaren Ausführungen zum Bevölkerungsgesetz und der Armenfürsorge, und dies häufig nur anhand der erheblich kürzeren ersten Fassung. Die Gegner von Malthus haben das Werk zum Teil offensichtlich nie in der Hand gehabt, und es gibt in der Neuzeit wohl keinen zweiten Gesellschaftstheoretiker, dessen Aussagen so verkürzt, einseitig und verfälscht dargestellt worden sind. Es kam also zu tiefgreifenden Mißverständnissen, wozu Malthus allerdings auch selbst beigetragen hat; denn in Einzelheiten hat er sich bisweilen widersprüchlich geäußert.

Viele machten sich an einem Vergleich von zwei Entwicklungsreihen fest, den der studierte Mathematiker eher zur Illustration seines Bevöl­kerungsgesetzes verwendet hatte und der auch schon von früheren Theoretikern gebracht worden war: Danach würde die Bevölkerung – wenn keine Hemmnisse auftreten – gemäß einer geometrischen Reihe wachsen, das heißt von 1 auf 2, dann auf 4, auf 8, auf 16 und so weiter, jeweils mit Verdoppelungen in einem größeren Zeitraum. In der gleichen Zeit könne die Produktion von Nahrungsmitteln aber jeweils nur nach dem Muster einer arithmetischen Reihe zunehmen, also von 1 auf 2, dann auf 3, auf 4 und so weiter mit immer gleichbleibenden Differenzen. Dabei wurde im allgemeinen jedoch nicht einmal die Einschränkung «Wenn keine Hemmnisse auftreten» berücksichtigt und schon gar nicht seine Ausführungen zu derartigen Hemmnissen in verschiedenen Ländern und Kulturen, die mehrere hundert Seiten umfassen.

Besonders heftige Reaktionen rief Malthus' Kritik an den Armen­gesetzen hervor. Marx, Engels und die Sozialisten haßten und verhöhnten ihn, weil er nach ihrer Auffassung den Armen die Schuld an ihrem Schicksal gegeben und dann noch persönliche Einschränkungen von ihnen verlangt hatte. Auch hatte Malthus das Privateigentum als eine Einrichtung zum Ansporn für den einzelnen und für die gesellschaftliche Entwicklung begrüßt, das nach Marx und Engels ja die Wurzel allen Übels war und aufgehoben werden sollte.

Engels bezeichnete 1845 die Malthussche Bevölkerungstheorie als die «offenste Kriegserklärung der Bourgeoisie gegen das Proletariat». Und Marx warf ihm vor, daß die Schrift von 1798 «nicht einen einzigen, selbstgedachten Satz» enthalte. Daß Malthus die künstliche Verlän­gerung von Krisen durch Absprachen zwischen den Unternehmern angeprangert hat, daß er ein hohes Maß an Freiheit und Gleichheit befürwortet und eine kürzere Arbeitszeit und mehr Rechte für die Arbeiter gefordert hat, spielte für beide keine Rolle. Das gleiche gilt für die eindringlichen Hinweise von Malthus, «daß die Geschichte der Menschheit, soweit wir über sie Bescheid wissen, nur die Geschichte der oberen Klassen ist». Und weiter: «Wir besitzen recht wenige zuverlässige Berichte über die Sitten und Bräuche jenes Teils der Menschheit, der... dem Auf und Ab der Welt in... rückläufigen und fortschreitenden Bewegungen in erster Linie ausgeliefert ist... Gerade diese Erforschung wäre jedoch von äußerster Wichtigkeit.» Immerhin hat Marx jedoch anerkannt, daß Malthus – im Gegensatz zu anderen Autoren der Zeit – «nicht das Interesse (hatte), die Widersprüche der bürgerlichen Produktion zu verhüllen; (sondern) umgekehrt, sie hervorzuheben».

Auch die weitere Perspektive von Malthus wurde kaum zur Kenntnis genommen. Diese wird etwa aus den folgenden Zitaten deutlich, die noch immer von aktueller Bedeutung sind: «Es ist ohne Zweifel unsere Pflicht und von jedem Gesichtspunkt aus höchst wünschenswert, Städte und Fabrikarbeit für die Lebensdauer des Menschen so wenig schädlich als möglich zu gestalten.»

«Es mag im Interesse der Herrschenden und der Reichen eines Staates richtig erscheinen, die Bevölkerungsvermehrung zu beschleu­nigen, um auf diesem Weg den Arbeitslohn zu drücken... Jede Bestrebung dieser Art sollte aber von den Freunden der Armen sorgfältig beobachtet und energisch bekämpft werden, vor allem, wenn sie im trügerischen Mantel der Wohltätigkeit daherkommt.»

Zum Teil wurde Malthus auch stark kritisiert, weil er sich gegen Empfängnisverhütung ausgesprochen hatte, die er als «Laster» betrachtete. Die Verbreitung diesbezüglicher Kenntnisse wurde in England erstmals in einem 1822 veröffentlichten Buch gefordert, dessen Verfasser damit den Ursachen der «überflüssigen und elenden Bevölkerung» entgegentreten wollte. Zwar hatte Malthus mehrfach betont, daß «nächst dem Verlangen nach Nahrung der allgemeinste unserer Triebe die Geschlechtsliebe im weiteren Sinne» ist und daß nur «wenige leugnen werden, daß sie einen der Hauptbestandteile des menschlichen Glücks bildet». Auch vertrat er die Auffassung, daß es «kein sittliches oder politisches Recht – außer dem der dringendsten Notwendigkeit – gibt..., die Liebe von Menschen im Vollgenuß ihrer Freuden gegen eine gleiche Zahl hilfloser Säuglinge einzutauschen». Aber er blieb bei seinem Konzept der «sittlichen Enthaltsamkeit», die er gerade angesichts der Stärke des Geschlechtstriebes und des Wunsches nach einem «geliebten Wesen» für wichtig und sogar unerläßlich hielt – um den sonst eher «trägen» Menschen zu Anstrengung, Fleiß und Sparsamkeit. anzuspornen und auf deren Basis unzulängliche wirtschaftliche Verhältnisse zu überwinden.

Mit seiner Ablehnung einer Empfängnisverhütung hatte Malthus zunächst die Kirche und konservative Kreise auf seiner Seite. Sodann vertraten aber auch Engels und viele Sozialisten der Jahrhundertwende die gleiche Auffassung. Engels hatte 1845 noch die «Zügellosigkeit des geschlechtlichen Verkehrs» als eine «Hauptuntugend vieler englischer Arbeiter» beklagt. In den achtziger Jahren erkannte er zwar an, daß eine Empfängnisverhütung «in bürgerlichen Familien sehr praktisch sein kann, um die Zahl der Kinder mit dem Einkommen im Verhältnis zu halten», wünschte und meinte aber, «daß unsere Proletarier... nach wie vor durch zahlreiche proles (Nachkommenschaft) ihrem Namen Ehre machen werden». Und Lenin hielt die Geburtenregelung für eine individualistische, kleinbürgerliche Ideologie, die nur die wahren Ursachen von Armut verschleiern solle.

Die Kenntnis und Praktizierung von Empfängnisverhütung verbreitete sich jedoch immer mehr. Wie Engels richtig gesehen hatte, waren es die besser gestellten Schichten, die begannen, damit ihre Kinderzahlen in der Ehe zu beschränken, um den Lebensstandard und die gesellschaftliche Position der Familie zu bewahren und zu verbessern. Aber im 20. Jahrhundert haben auch die Arbeiter in den Industriegesellschaften dieses Verhaltensmuster übernommen.

Einzelne Autoren haben schon früh deutlich gemacht, daß Malthus nicht das «asoziale Monster» war, als das ihn sein Gegner so gerne hingestellt haben. Die ganze Reichweite seines Werkes ist aber erst in der Mitte unseres Jahrhunderts erkannt worden – vielleicht weil man jetzt genügend Abstand hatte. Dies gilt insbesondere für seine gesellschaftspolitische Perspektive und deren Hintergründe. Es gilt aber auch für den bevölkerungssoziologischen Gehalt seiner Ausführungen über die Hemmnisse eines maximalen Bevölkerungswachstums in verschiedenen europäischen. Ländern seiner Zeit und der Antike sowie in China und Japan, bei den amerikanischen Indianern, auf den Südseeinseln und «in verschiedenen Gegenden Afrikas».

«Malthus ist tot», haben seine Gegner so oft behauptet. Aber seine Theorie ist erst in jüngster Zeit wieder diskutiert worden, und leider ist sie weiterhin aktuell. 1979 wurden zwei umfangreiche Arbeiten zu seinem Leben und Werk – allerdings in Englisch – veröffentlicht. Und 1983 folgten mehrere Beiträge in internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften sowie ein Berichtsband von einem großen Malthus-Kongreß, den Bevölkerungswissenschaftler in Zusammenarbeit mit der Unesco 1980 in Paris veranstalteten.

Heute wird weithin anerkannt, daß es das Hauptbestreben von Malthus war, schon die Entstehung von Armut nach Möglichkeit zu verhindern oder wenigstens zu ihrer Milderung beizutragen. Hinter­grund seiner Folgerungen waren einmal seine religiösen Wert­vorstellungen – die im übrigen in manchem nicht mit der Lehre der anglikanischen Kirche übereinstimmten – und zum anderen der Geist des Liberalismus seiner Zeit. Abweichend von dessen Harmonie­vorstellungen und Fortschrittsgläubigkeit war Malthus' Denken jedoch geprägt von Skepsis – oder war es Realitätsbewußtsein? – hinsichtlich der Möglichkeiten des Menschen, das heißt seiner eigenen und der ihn umgebenden Natur.

Im Gegensatz zu der optimistischen Perspektive von Marx, der im 19. Jahrhundert die unumstößliche gesetzmäßige Entwicklung zur Aufhebung des Kapitalismus und zum Übergang vom «Reich der Notwendigkeit» zum «Reich der Freiheit» – für die baldige Zukunft – prognostizierte, sehen wir heute in weiten Teilen der Welt noch immer Armut, Hunger und Kriege – wie sie Malthus als letztes Mittel der Anpassung der Bevölkerung an den Nahrungsspielraum beschrieben hatte. Die Bevölkerungszuwachsraten liegen in den meisten Ent­wicklungsländern erheblich über den Werten, die die westeuro­päischen Länder zu den Zeiten ihres «Bevölkerungsbooms» während der Industrialisierung jemals gehabt haben, und in mehreren Ländern liegen sie über der Zuwachsrate der Nahrungsmittelproduktion. Insgesamt ist in den Entwicklungsländern viel geschehen, aber mit dem hohen Bevölkerungszuwachs nehmen die absoluten Zahlen der Analphabeten, der Unterernährten und – zumindest zur Zeit – der Hungertoten zu.

Dabei ist klar, daß das Bevölkerungswachstum nicht die einzige Ursache für die Fortdauer von Hunger und Elend ist, wie es denn auch große Unterschiede zwischen den Entwicklungsländern gibt. Malthus hatte «Tyrannei» und Unterdrückung durch die Regierung ange­prangert sowie die damit zusammenhängende Vernachlässigung der Landwirtschaft und «Furcht unter den Menschen» und hatte «ein größeres Maß an Freiheit und Gleichheit» für notwendig gehalten – damit die Bevölkerung im jeweils wünschenswerten Maße, aber ohne Hunger und Elend, wachsen könne. Seine Maxime war: «Das Übel gibt es in der Welt, nicht um Verzweiflung hervorzurufen, sondern Tätigkeit. Wir brauchen uns ihm nicht geduldig zu unterwerfen, sondern wir müssen uns anstrengen, es zu verhindern.»