BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Grünberg

1891 - 1972

 

Brennende Ruhr.

Ein Roman aus dem Kapp-Putsch

 

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1. Kapitel

 

Die Bremsen knirschten und quietschten, der Zug hielt abermals auf freier Strecke.

Überall wurden die verquollenen Fenster aufgerissen. Zornige Gesichter spähten nach der Ursache der Feldstation. Schimpfereien prasselten die Zugfront entlang.

«Was ist denn da nun bloß wieder los?»

«Schweinerei!»

«Die dritte Feldstation seit Essen, und so etwas nennt sich Eilzug!»

Die Schaffner, die mißmutig durch den Schnee stampften, zuckten nur die Achseln. Der Zug mit der schweratmenden Maschine lag bald wieder wie tot in der nebligen Winterlandschaft. Neben dem taktmäßigen Röcheln des Dampfes hörte man nur das Schreien einer Krähe, die auf dem dickbereiften Telegraphenmast saß, und das aus den Abteilen dringende Trampeln frierender Füße. Denn die Heizung war schon seit Dortmund eingefroren.

Verspätungen auf Eisenbahnen bringen Menschen einander näher, die vorher sechs Stunden, ohne ein Wort zu wechseln, zusammen gereist sind. In einem Abteil dritter Klasse ging es besonders lebhaft zu.

«Jetzt ist es schon gleich vier Uhr, wo der Zug schon beinahe in Duisburg sein sollte, und dabei liegen wir noch immer vor Mülheim», machte ein gutgekleideter älterer Herr seinem gepreßten Herzen Luft.

«Jedenfalls muß da wieder eine kranke Lokomotive auf der Strecke liegen», antwortete seine Nachbarin, die ihren Kopf so weit in ihre Nerzpelzjacke eingezogen hatte, daß zwischen dem hochgeschlagenen Kragen und dem Barett nur ein paar blonde Löckchen, eine kecke Stupsnase und zwei tiefblaue, glänzende Augen zum Vorschein kamen.

«Feuerbuchse oder Siederohr, Bremse oder Radbruch, Weiche oder was weiß ich sonst, sooft ich fahre – und ich fahre ziemlich oft – etwas ist immer los. Pünktliche Züge wie früher sind jetzt ganz aus der Mode gekommen. Das ist die berühmte Neuzeit!»

Seinen graumelierten Hindenburg-Schnurrbart streichend, sah sich der Schimpfende Beifall heischend um. Aber nur seine hübsche Nachbarin lächelte zustimmend. Der junge, blasse Mensch in dem feldgrauen Paletot, der neben der Dame saß, räusperte sich verlegen, und aus der anderen Ecke, wo ständig dicke Tabakwolken aufstiegen, kam ein tiefes Knurren.

«Da sieht man wieder einmal, was diese Revolution für Unheil angerichtet hat. Ich möchte bloß wissen, wie lange sich noch der deutsche Michel diese Mißwirtschaft gefallen läßt. So geht es doch nicht weiter!» setzte der Schimpfende seine Herausforderung fort.

«So geht es wirklich nicht weiter», echote es aus dem Nerzpelz.

«Nein, wir halten ja noch immer auf freier Strecke», bemerkte ein gegenübersitzender Geschäftsreisender ironisch.

«Unsere Wirtschaft hält nicht nur, sie geht sogar ständig zurück», betonte der Hindenburg-Schnurrbart mit Nachdruck.

«Na, dann wollen wir nur schnell unseren lieben Wilhelm wiederholen. Wenn er Holz hackt, kann er vielleicht auch Lokomotiven reparieren», kam jetzt eine tiefe Stimme aus der Qualmwolke in der anderen Ecke.

In dem Tonfall lag eine drohende Herausforderung, auf die der andere offenbar nicht vorbereitet war. Während die übrigen Mitreisenden lachten, schnappte er vergeblich nach Worten, bis die junge Dame, den Pelzkragen zurückschlagend, in versöhnlichem Ton einzulenken versuchte.

«Monarchie oder Republik, davon ist ja hier keine Rede. Die Hauptsache ist, daß gearbeitet wird und Ruhe und Ordnung und Handel und Wandel herrscht, wie wir es früher hatten.»

«Ja, ja, die gute alte Zeit, wo die Butter 1,10 kostete», unkte der Zwischenrufer und rückte kampflustig heran, so daß seine Widerpartner ihn jetzt deutlich erkennen konnten. Die breiten, hängenden Schultern, der geduckte Kopf, die vielen schwarzen Kohlenpünktchen in dem gelblichfahlen Gesicht, die sehnigen, geschwärzten Hände waren untrügliche Zeugen schwerer Grubenfron. Bergarbeiter altern früh, dieser hier konnte ebenso gut vierzig wie sechzig Jahre alt sein.

Ein Kumpel im Sonntagsanzug, dachte der vornehme Herr verächtlich.

«Sagen Sie nichts gegen die alten Zeiten, da hatten wir doch wenigstens zu essen», antwortete statt seiner der Geschäftsreisende, der ständig im Kursbuch blätterte.

Der Arbeiter stopfte aus einem grauen Leinenbeutel bedächtig seine Stummelpfeife.

«Alte Zeiten? Angenommen, sie waren so golden, wie sie vielen Leuten aus der heutigen Kohldampfperspektive erscheinen. Wodurch sind wir denn so auf den Hund gekommen? Brotkarten, Kohlenkarten, Fettkarten, Bezugscheine, Papiergeld, Ersatzmittel, Ersatz – Ersatz – und was weiß ich noch. Wer hat uns denn diesen Segen beschert? Die Republik, die Ihnen so mächtig vor dem Magen steht?»

«Dafür war ja auch Krieg», rief die junge Dame, die Rauchwolken mit ihrem Spitzentüchlein abwehrend.

«Ja, das vergessen viele nur zu leicht», sagte der Bergarbeiter, seinem «Gasangriff» eine andere Richtung gebend.

«Vier Jahre Krieg! Da denken die Leute, man kann am 9. November dort wieder anfangen, wo man am 4. August aufgehört hat. Daß wir vier Jahre lang keine nützliche Arbeit verrichteten, den ‹Nationalwohlstand› durch die Kanonenschlünde jagten, davon will keiner was wissen. Sie wundern sich nur, daß wir arm, bettelarm geworden sind!»

«Da ist es immer am bequemsten, auf Revolution und Republik zu schimpfen», warf jetzt der junge Mann in dem umgearbeiteten Militärmantel ein.

«Die Eisenbahn!» fuhr der Bergmann unbeirrt fort. «Im Kriege nahm man die kupfernen Feuerbuchsen heraus, ersetzte sie durch stählerne, um Material für Granatringe zu bekommen. Fragen Sie nur die Eisenbahner, wie oft die Dinger durchbrennen und die Züge dadurch stehen bleiben!»

«Und dann hat auch wieder die Republik dran schuld», lachte der Republikaner.

«Aber wenigstens doch die Revolution! Wenn man unsere Front nicht erdolcht hätte, brauchten wir nicht diesen Diktatfrieden anzunehmen. Wissen Sie nicht, wieviel Lokomotiven wir abliefern mußten? Und die ganzen Reparationen! Allein an Kohlen monatlich eine Million sechshundertachtzigtausend Tonnen! Oh, die Herren Franzosen sind großmütig! Von den alten kaputtgefahrenen Lokomotiven wollen sie uns jetzt eintausendfünfhundert Stück verkaufen. Unsere eigenen Lokomotiven sollen wir zurückkaufen, meine Herrschaften! Das mutet man uns Deutschen zu! Und ich sehe schon, unsere Reichssattler werden auch diesen Riemen schlucken», giftete es zurück.

Der Bergarbeiter musterte seinen Widersacher vom Kopf bis zu den in einer Tigerdecke steckenden Füßen, ehe er antwortete:

«Ich habe das sogar schon vorher bedacht und riß darum auch 1914 meine Klappe nicht so weit auf, wie gewisse Leute es getan haben – Anwesende natürlich ausgenommen. Auch 1918, als beim Frieden von Brest-Litowsk die halbe Welt ‹befreit› werden sollte: Finnland, Polen, Litauen, Baltikum, Ukraine, da sagte ich mir: ‹Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu!› Den letzten beißen die Hunde – nun waren wir die letzten. – Ich weiß, ich weiß: weil sie uns von hinten piekten», wehrte er in seiner behaglichen Überlegenheit den Aufbrausenden ab. «Also, was das anbetrifft, da darf ich auch ein Wörtchen mitreden. Ich weiß, daß der Dolchstoß von hinten kam – nämlich aus der Etappe! Man hatte mich im letzten Jahr auch noch trotz meiner neunundvierzig Jahre als Schipper zur Front eingezogen. Weil wir wegen Hunger in den Streik getreten waren. In der Etappe, da verpraßten die Herren Offiziere mit ihren ‹Damen› das, was für die Front bestimmt war. Und in der Heimat wurde gewuchert und geschoben. Hier geht es ihnen genau so wie mit den Eisenbahnern: Sie wundern sich, daß die Karre stehen blieb – und machen andere dafür verantwortlich.»

Die Mitreisenden rückten näher an den Redner heran, der jetzt richtig in Fahrt gekommen zu sein schien. Dem «besseren Herrn» dagegen begann die Diskussion peinlich zu werden. Unruhig rutschte er auf seinem Fensterplatz hin und her.

«Es sind wohl», sagte er schließlich mit vor innerer Wut bebender Stimme, «viele Mißstände vorgekommen. Aber das darf man doch nicht so verallgemeinern. Um auf den Dolchstoß zurückzukommen: Sie sagten ja selbst, daß Sie während des Krieges streikten. Wissen Sie auch, was das war? – Vaterlandsverrat war das, mein lieber Mann, wobei Ihnen als mildernder Umstand nur zur Seite steht, daß Sie aufgehetzt waren! Sehen Sie», fuhr er triumphierend mit lauter Stimme fort, «diese Streiks brachen der Front das Rückgrat! Oder können Sie schießen, wenn Sie keine Munition haben?»

«Können Sie zwölf Stunden Kohlen picken, wenn Sie nur Marmelade zu fressen kriegen?» platzte der Bergarbeiter heraus. «Ja, sehen Sie, lieber Mann, diese Frage können Sie nicht beantworten, wobei Sie als mildernden Umstand nur zur Seite haben, daß Sie sich darin noch niemals versucht haben. Oder aber», fuhr er unerbittlich fort, «wenn Sie schon mal in der Grube gearbeitet haben, muß das schon sehr lange her sein. Auf jeden Fall sind Sie doch wohl ganz leidlich durch den Krieg gekommen!» Die rosigen Hängebacken und die wohlgepflegten Hände des Angegriffenen zeugten allerdings davon, daß ihr Besitzer schwere Körperarbeit nur vom Hörensagen kannte. Er schien auch jetzt einzusehen, daß er hier nichts mehr zu verlieren hatte, und wandte sich, die Anzapfungen überhörend, demonstrativ seiner Begleiterin zu. – Der Zug begann sich eben wieder langsam in Bewegung zu setzen.

,Endlich geht es weiter! Ich bin Ihnen zu Gefallen dritter Klasse mitgefahren, nun sehen Sie, was dabei herauskommt. Mit Ihren Ideen müssen Sie sich schon an die Angestellten und Beamten halten. Lassen Sie sich mit diesem Plebs ein, bekommen Sie nur unverschämte Antworten. Das sind doch alles Spartakisten, und da hilft nur...»

Er hatte seine Stimme zum Flüstern gedämpft, aber trotzdem wagte er den letzten Satz nicht zu Ende zu sprechen.

«Ich denke anders darüber, Herr Direktor! Wir müssen von unserer Warte herabsteigen, um die Seele des Arbeiters ringen. Ohnedem werden wir nie das Ziel erreichen», gab ihm das junge Mädchen zur Antwort, weitere Erörterungen durch energisches Herumrücken abschneidend.

Zwischen dem Feldgrauen und dem Bergarbeiter war eine heftige Diskussion entbrannt. Der junge Mann betonte energisch die Notwendigkeit des Wiederaufbauens. Dazu gehört vor allem Kohle, das Urbrot der Industrie. «Nur die Arbeit kann uns retten», rief er pathetisch aus. «Sehen Sie», fuhr er eifrig fort, als er das ironische Lächeln um den Mundwinkel des anderen bemerkte, «ich habe hier den ‹Vorwärts› vom 19. Februar 1920. Da beklagt sich ein Rittergutsbesitzer in einem Brief über den Kohlenmangel. Wollen die Herrschaften mal bitte zuhören:

Als Abonnent des ‹Vorwärts› lese ich soeben den Artikel von Erwin Barth: ‹Die Not im Erzgebirge›. Die geschilderten Zustände sind herzzerreißend. Im Namen der Deutschen Landwirte rufe ich Ihnen zu, und zwar in letzter Stunde: «Wenden Sie Ihren Einfluß, und zwar an maßgebender Stelle, auf, daß der Landwirtschaft Kohlen und nochmals Kohlen geliefert werden. Wir können nicht dreschen, das Getreide verfault in den Schobern und wird von den Mäusen gefressen. Getreide ist genug vorhanden. Der Not könnte gesteuert werden...»

Auf der zerfurchten Stirn des Arbeiters erschien eine dicke Zornesfalte.

«Hm, so...»

«Der Einsender schreibt noch, daß Landwirtschaft, Verkehr und Bergbau vor Streiks bewahrt bleiben müssen, weil das die Brotbeschaffung erschüttert.»

«Und der ‹Vorwärts› schreibt von sich aus kein Wort dazu?»

«Ja, was denn sonst noch? – Ich meine, das ist doch so klar wie nur irgendetwas.»

Der Kumpel beschäftigte sich, ungeachtet der teils fragend, teils höhnisch auf ihm ruhenden Blicke einiger Mitreisender, umständlich mit seiner Pfeife.

«Mir fällt nur auf, daß heute die Junker schon den ‹Vorwärts› abonnieren. Das ist aber vielleicht auch nur ein Zeichen der Zeit, das unsereins, der seit fünfundzwanzig Jahren in der Bewegung steht, nicht mehr begreift.»

«Da verstehe ich Sie nicht», verwunderte sich der junge Mann.

«Nun, ich denke, diese Junker haben während des Krieges gegen das arme Volk eine viel schlimmere Hungerblockade als die Engländer geführt.»

«Das ist eine grobe Lüge; die jüdischen Schieber und Spekulanten haben alles verschoben, das ist doch bekannt», konnte sich der Hängebackige nicht mehr enthalten, bedauerte aber schon im nächsten Moment, als er in die kalt-ironischen Augen des Sprechers blickte, sich einer erneuten Abfuhr ausgesetzt zu haben.

Dann sagen Sie bitte auch gefälligst, wo diese Schieber eigentlich die Lebensmittel herkriegten? Wo doch die Landwirte alles abzuliefern hatten? Oder war die Nichtablieferung von Lebensmitteln, die doch für den Krieg mindestens ebenso wichtig wie Granaten waren, nicht auch ein bißchen Landesverrat?»

«Ich sagte Ihnen ja, es hat keinen Zweck», raunte der Direktor achselzuckend seiner Begleiterin zu und begann ostentativ mit dem Studium der Eisblumen am Fenster.

Die junge Dame aber beugte sich noch weiter herüber, um kein Wort der Unterhaltung zu verlieren.

Der Bergarbeiter redete auf den kohlebeflissenen jungen Mann ein, dessen blasses Hungerleidergesicht sich vor Eifer zu röten begann.

«Die ganze Geschichte kommt nur auf eins heraus: Kumpels, schiebt fleißig Überschichten und haltet das Maul! Ich komme soeben von einer Betriebsrätekonferenz der Niederrheinischen Zechen in Essen. Da haben wir uns heute den halben Tag mit dem Überschichtenangebot der Regierung beschäftigt. Jede Woche sollen wir zweimal eine halbe Überschicht verfahren.»

«Und ist es angenommen worden?»

Der Betriebsrat lachte bitter: «Der Zechenverband hat natürlich sofort angenommen. Für diese Herren bedeutet das ja nur neue Profite.»

«Die Bergarbeiter verdienen dann aber doch auch und bekommen mehr Lebensmittel zugewiesen», warf die Dame ein.

«Hundert Prozent Überschichtenzuschlag, dazu 3125 Gramm Brot pro Woche und ein Pfund Speck. Mit Speck fängt man Mäuse!» Er lachte höhnisch, seine Pfeife unter der Bank ausklopfend.

«Nun, ich finde es ganz richtig, daß länger gearbeitet wird. Sieben Stunden bei dieser Kohlennot, das halte ich – entschuldigen Sie diesen Ausdruck – direkt für ein Verbrechen am Volke», rief der junge Mann voller Nachdruck.

Der Bergarbeiter straffte seinen zusammengeduckten Oberkörper.

«Junger Mann, arbeiten Sie erst mal ‹vor Ort›! Halbnackt, schweißbedeckt, wasserumspritzt, auf dem Bauche liegend, halbblind vor Kohlenstaub, bei 35 Grad, im blinzelnden Grubenlicht! Nur einmal einen Tag, und dann sollen Sie sagen, ob sieben Stunden zuviel oder zuwenig sind.»

«Jawohl, das werde ich auch tun», antwortete der andere mit gewissem Stolz. «Ich bin zwar kein Arbeiter von Beruf, bin Student, aber ich scheue mich vor keiner Arbeit. Und gerade die Bergarbeit will ich kennenlernen, da es an Bergleuten fehlt. Daß das kein Kinderspiel ist, weiß ich wohl. Im Hochsommer habe ich vier Wochen bei der Ernte geholfen. Das ist auch nicht leicht, von morgens um vier bis abends um acht auf den glühenden Feldern zu schaffen, das können Sie mir glauben!»

«Na, denn Glück auf, Herr Kollege!» sagte der andere spöttisch, die schmächtige Gestalt des Jungen musternd. «Wo soll es denn hingehen, wenn man fragen darf?» Der Student überhörte absichtlich die Ironie.

«Ich wollte bis Duisburg fahren, da herum sind ja wohl die meisten Gruben. Einen bestimmten Platz habe ich zwar noch nicht, aber wenn Sie Betriebsrat sind, – mein Name ist Sukrow, stud. ehem. – vielleicht können Sie mir mit Ihrer Erfahrung einen guten Rat...»

«Ruckers ...», erwiderte der Betriebsrat die Vorstellung, indem er im Sitzen so etwas wie eine Verbeugung machte. Dann sagte er nachdrücklich: «Mit gutem Rat ist das allemal so: Wer klug ist, braucht keinen, und wer dumm ist, befolgt ihn nicht. Ich könnte Ihnen nur eins raten, gehen Sie schnell wieder zu Ihren Büchern, meinethalben auch aufs Land, aber lassen Sie Bergarbeit Bergarbeit sein. Sie klemmen sich dabei nur die Finger.»

«Dann werde ich auch so meinen Weg finden», kam es gekränkt zurück. «Ich sage: Probieren ist besser als studieren.»

«Da haben Sie allerdings auch Recht», lenkte der Arbeiter ein, dem seine Schroffheit schon halb Leid tat. «Aber so einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist es doch nicht. Glauben Sie bloß nicht, daß man auf Sie wartet. Aber wenn Sie durchaus wollen ..., versuchen Sie es doch bei uns in Swertrup, da müssen Sie mit mir in Oberhausen aussteigen.»

Ernst Sukrows hoffnungsvolle Perspektive bekam plötzlich ein großes Loch. Er hatte so fest darauf gerechnet, sofort als Lehrhauer eingestellt zu werden, daß er einen Mißerfolg gar nicht für möglich hielt. Was nun, wenn der erfahrene Bergmann Recht hatte? Kleinlaut sagte er:

«Da stand doch groß und breit in der Presse von hunderttausend Bergleuten, die neu eingestellt werden sollen. Die Regierung hielt auch schon Besprechungen über ganze neue Arbeiterkolonien ab, die angelegt werden sollen. Das kann doch kein Schwindel sein.»

Ruckers zuckte die Achseln. «Papier ist ja geduldig. Wir haben noch nichts von Neueinstellungen gemerkt!»

Dann begann ihn aber doch dieser junge Mensch zu interessieren. Die sonst immer die Phrase: «Nur die Arbeit kann uns retten» brauchten, hatten sich persönlich meist zuerst vor der Arbeit gerettet, wie jener wohlgenährte Bourgeois da in der Fensterecke. Aber dieser hier meinte es offenbar aufrichtig. Er begann ihn vorsichtig auszufragen, und bald fand er auch seine Vermutungen bestätigt. Der da ihm gegenüber saß, gehorchte bei seinem Vorhaben mehr der Not als dem eigenen Triebe. Kriegsfreiwilliger, Offiziersaspirant – dann unorganisierter Novembersozialist und Hungerstudent, ein Schicksal, das viele Tausende durchkosten mußten. Hinter seiner republikanischen Begeisterung verbarg sich schlecht die Not seiner verarmten Kleinbürgerfamilie, der die Mittel zum Weiterstudium des Ältesten ausgegangen waren. Immerhin schien er einige Bücher über Sozialismus gelesen zu haben. Der Umstand, daß er im letzten Kriegsjahr wegen eines tätlichen Angriffs gegen einen arroganten Vorgesetzten degradiert und zu acht Jahren Festung mit Bewährungsfrist verurteilt worden war, schien ein übriges zu einem «Gesinnungsumschwung» beigetragen zu haben.

«Freie Bahn dem Tüchtigen in der neuen Volksrepublik», das war die Parole, die ihn begeisterte und schließlich veranlaßte, sich beim Freiwilligenaufgebot gegen Spartakus zur Verfügung zu stellen. «Wer in dieser Situation mit Quertreiberei und Eigenbrötelei begann, wie diese Liebknecht und Luxemburg, mußte eben mit Waffengewalt zur Raison gebracht werden.» – Angeekelt durch das wüste Treiben der Soldateska und den neu aufgezogenen Offiziersdünkel hatte er schließlich dem Freikorps den Rücken gekehrt. Hatte weiter studiert und gehungert, bis es nicht mehr ging.

Aber mit eiserner Energie packte er das Leben an: landwirtschaftlicher Helfer, Angestellter einer Kriegsgesellschaft – und jetzt «Bergarbeiterkandidat»!

Mit gewinnendem Freimut und einer Portion Galgenhumor, als handle es sich nur um ein persönliches Pech, hatte der junge Student seine Geschichte erzählt.

Die Dame, deren Begleiter in Mülheim ausgestiegen war, beschäftigte sich sehr interessiert mit dem Studenten: «Da haben Sie ja wirklich schon viel Schweres durchgemacht; solche Menschen imponieren mir. Sehen Sie: Ich habe in vielen Sachen eine ganz andere Einstellung als Sie. Schließlich können wir nicht alle eines Sinnes sein, aber das Wohl des Vaterlandes müßte der Mittelpunkt sein, wo wir immer wieder zusammenkommen.»

«Fragt sich nur, was man unter Vaterland versteht», warf der Bergmann – der an Konversation mit gebildeten Damen nicht gewohnt sein mochte – dazwischen.

Sie überhörte das absichtlich.

«Sehen Sie, auch ich fahre zur Arbeit ins Industriegebiet. Gewisse Leute sagen vielleicht, daß ich das nicht nötig hätte, weil mein Vater in Hannover eine Fabrik hat. Sie haben sicher schon von Zenks Hautcreme und Gesichtswasser gehört. Aber auch Vermögen verpflichtet. Wir arbeiten alle! Ich studiere auch Chemie und will meine Kenntnisse hier praktisch erweitern. Sie sehen also, daß auch die Angehörigen der so genannten kapitalistischen Klasse, die ja nach gewissen Theorien nur Drohnen der menschlichen Gesellschaft sind, arbeiten! Mein Vater arbeitet täglich zwölf bis sechzehn Stunden, da möchte wohl kein Arbeiter mit tauschen!»

Der Bergmann kräuselte seine Lippen verächtlich, beherrschte sich aber und paffte wieder ärger als zuvor.

Es war draußen mittlerweile völlig finster geworden. Im Abteil verbreitete ein Gaslämpchen müdes Licht, das so recht zu der an den Fenstern vorübergleitenden Landschaft paßte. Wohl wechselten die Namen der Stationen, aber das Bild blieb immer das gleiche. Häßliche, unsymmetrische Mietskasernenblocks wechselten mit ebenso trostlos und verräuchert erscheinenden Zechenkolonien. Hier und da rückten sie zu Straßenschluchten und Ortschaften zusammen, spärlich erhellt von glimmenden Gaslaternen. Im kalten Licht der Bogenlampen dampften Kokereien und Hüttenwerke, ragten Schachttürme und Abraumhalden, loderten die glutroten Fackeln der Hochöfen. Dazwischen in gewissen Abständen, gleich Fremdkörpern in dieser Umgebung, kreuzgekrönte Türme protziger Kirchen.

Ratternd schnitt der Zug abermals zahlreiche Weichen. Oberhausen war erreicht. Fräulein Zenk reichte dem jungen Studenten die Hand.

«Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Herr Sukrow. Also viel Glück auf Ihren neuen Wegen, vielleicht sehen wir uns hier mal wieder.»

Mit einem eigenartigen Gefühl in der Herzgrube blickte der junge Mann der anmutigen Gestalt nach. Ihren kleinen Handkoffer wie einen Schild vor sich hertragend, bahnte sie sich entschlossen durch die drängende Menge ihren Weg. Auch Ruckers blickte ihr nach; sein Gesicht hatte jetzt den Ausdruck tiefer Nachdenklichkeit angenommen. Erst als die Dame im Zwielicht des schlecht erleuchteten Bahnsteigs verschwunden war, stieß er seinen Begleiter in die Seite.

«Na, nun aber man tau, unsere Straßenbahn wartet nicht!»