BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Grünberg

1891 - 1972

 

Brennende Ruhr.

Ein Roman aus dem Kapp-Putsch

 

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9. Kapitel

 

Die Situation war völlig klar! Die militärischen Machthaber glaubten, mit Hilfe der Maschinengewehre nicht nur die ihnen verhaßte Regierung zu stürzen. Sie wollten auch die übrigen Revolutions-errungenschaften der Arbeiter beseitigen und die alte Zwingherrschaft von Militär und womöglich Monarchie wieder einführen. Da gab es nur eine Antwort:

«Alle Räder stehen still!»

Wenn außer Gewerkschaften und Parteien sogar die Regierungen zum Generalstreik aufrufen, machen auch die Lauen und Halblauen mit. Der Generalstreik war vollkommen!

Die Demonstration auf dem Hindenburgmarkt wurde der machtvollste proletarische Aufmarsch, den die Stadt je erlebte. In endlosen Scharen zogen sie heran, die Männer, die tief unter der Erde das Brot jeder Produktion, die Kohle, gruben; die Hochofen- und Hüttenarbeiter, die das Erz schmolzen und den widerspenstigen Stahl formten und gestalteten.

Die Eisenbahner, Straßenbahner und Postler, die neben den städtischen Angestellten als erste zur Stelle waren, hatten zuerst auf dem weiträumigen Platz etwas verloren herumgestanden. Ihre Haltung ließ erkennen, daß sie mit der ihnen meist noch unbekannten Rolle als «Streikende» noch nichts Rechtes anzufangen wußten. Aber ihre Uniformen mit den farbigen Aufschlägen und den blanken Knöpfen und Tressen brachten etwas Färbung in die Versammlung, die von den in losen Gruppen herbeiströmenden Frauen und Kindern noch unterstrichen wurde. Dieses Bild zerfloß und wurde im Nu weggeschwemmt, als die gewaltigen grauen Züge der Berg – und Hüttenarbeiter den Platz erreichten, ihn in ein einziges, mächtig brausendes Menschenmeer verwandelten. Es war ein Meer, erfüllt von jener heiligen Unruhe, die kurz vor Ausbruch des Sturmes bereits die aus den Tiefen kommenden Urkräfte ahnen läßt. Grauschwarz die Grundwogen, ihre Spitzen weißgichtig gekräuselt von Zehntausenden von Gesichtern, über denen nur hier und da noch verloren irgendein bunter Tupfen auf- und niedertauchte, etwa eine grüne oder blaue Tellermütze oder ein rotes Kopftuch.

Eben schlug man die rotumrandeten Streikaufrufe der Regierung an. Angstlich-verstohlen äugten die Spießbürger hinter den Fenstergardinen hervor. Das treudeutsche Herz, das noch vor wenigen Stunden wie Schwertgeklirr und Wogenprall gepocht, sank beim Anblick der Proletariermassen ruckweise nach unten. Solche einmütige und entschlossene Antwort hatte keiner vermutet. Aber dann kam wieder das hämische, aus Haß und Feigheit zusammengesetzte Grinsen in die Gesichter.

Was konnten denn die Proleten schon machen?

Streiken?

Nun, sollten sie nur immerhin. Gott sei Dank hatten sie ja keine Waffen! Die hatte das Militär ihnen vergangenes Jahr abgenommen! Die neue Regierung würde schon bald für Ordnung sorgen, das schlappe Regiment hatte jetzt ein Ende! Der erste Erlaß der neuen Regierung, den das Gesindel leider gleich wieder heruntergerissen hatte, stellte Streiken unter Todesstrafe. Augenblicklich konnte sie ja noch eine große Lippe riskieren. Die Sicherheitswehr war mit dem ersten Frühzug nach Essen abgefahren. Aber in wenigen Tagen würde Militär einrücken und geordnete Zustände wieder einführen. Bis dahin würde die Einwohnerwehr die wichtigsten Posten, wie Rathaus, Bahnhof, Post und Schlachthof, schon halten.

An drei verschiedenen Stellen des Platzes sprachen die Vertreter der sozialistischen Parteien: Reese, Ruckers und Kösfeld, zu den Massen. «Generalstreik bis zum endgültigen Sturz der Kappregierung! – Widerstand mit allen Mitteln! – Strenge Selbstdisziplin halten! – Nur den Weisungen des Aktionsausschusses folgen», das war der Inhalt ihrer Reden, wobei allerdings Ruckers und Kösfeld es nicht unterließen, darauf hinzuweisen, daß es logischerweise so kommen mußte. Aber auch Reese fand sehr radikale Worte.

«Jetzt ist das Maß der Geduld zum Überlaufen voll, Genossen! Jetzt muß endlich und endgültig Schluß mit der Politik der Nachgiebigkeit und des Entgegenkommens gemacht werden! Die Ereignisse sollen uns allen eine heilsame Lehre sein. Wir werden gegenüber dem monarchistischen Gesindel eine andere Taktik einschlagen: die Knie auf die Brust und den Daumen aufs Auge!» – Er hatte von allen Rednern den meisten Beifall. Großer Jubel erscholl, als der Vorsitzende der Unabhängigen, Lehrer und Stadtrat Jeitner, mitteilte, daß auch die Vorstände der Bergarbeiter-Union sowie die christlichen, polnischen und Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften an den provisorischen Aktionsausschuß zwecks Beteiligung herangetreten seien. Ihre zentralen Vorstände hatten den Kampfruf mit unterschrieben. Die Einigkeit des Proletariats im Kampf war da!

Gleich nach Schluß der Versammlung traten die Vertrauensleute der Betriebe, Gewerkschaften und Parteien im Volkshause zusammen. Über dem noch mit Karnevalsgirlanden grellbunt ausgeputztem Saal lag eine eigenartige Spannung. Jedermann fühlte, daß man am Vorabend bedeutsamer Ereignisse stand. Auf den harten, eckigen Arbeitergesichtern, von denen viele infolge der Eile noch nicht mal gewaschen waren, lag trotzige Entschlossenheit, wie sie nur überzeugtes Kraftbewußtsein hervorruft.

«Den Vorsitz in dieser Kundgebung lassen wir uns als größte Partei am Orte nicht nehmen», sagte Ruckers zu seinen Parteifreunden. Jeitner leitete die Versammlung ohne große Umschweife mit dem Hauptpunkt: «Wahl des Aktionsausschusses» ein. Man wählte durch Zuruf einundzwanzig Vertreter. Von den Sozialdemokraten Reese, Oversath, Frau Kabitzki, den Straßenbahner Schmidt und den Bergarbeiter zur Linden; von den Unabhängigen Jeitner, Ruckers, Lindemann, Hollkötter, Felgentreu, Pfeiler und Simoweid, von den Kommunisten Kösfeld, Grothe und Kassabeck. Die Union war durch Pontow und Rauchfuß, die Christlichen durch den Bergarbeiter Küpper, die Hirsch-Dunckerschen durch den Schlosser Stefan und die Polen durch den Maschinisten Borinski vertreten.

Jeitner schwenkte die Glocke:

«Genossen, der Aktionsausschuß wird sofort im kleinen Saal zusammentreten, die Vorsitzenden und die notwendigen Kommissionen wählen. Wir werden dann sehen, daß wir eine Art Bulletin herausbringen, um euch auch während der Zeit des Nichterscheinens der Presse über alles auf dem laufenden zu halten. Ich ersuche alle, euch nunmehr um eure Kollegen zu kümmern, daß sie beisammen bleiben und daß keinerlei Zusammenstöße mit der Einwohnerwehr erfolgen. Bürgermeister Livenkuhl hat zugesagt, daß die Einwohnerwehr nur die öffentlichen Gebäude beschützt und sich jeder Parteinahme enthalten wird. «

«Das ist ja Schwindel», unterbrach ein Arbeiter den Stadtrat, «wenn sie weiter nichts will, warum hat man unsere Genossen nicht zugezogen!»

«An der Post haben sie heute früh eine schwarz-weiß-rote Fahne aufgezogen», rief eine andere Stimme.

«Wir brauchen die Kadetten überhaupt nicht, für Ruhe und Ordnung sorgen wir selbst», schrie ein Dritter. «Gebt uns nur Waffen, dann werden wir schon Ordnung schaffen!»

Jeitner schüttelte lachend seine Ärmel aus. «Genossen, das ganze Gerede hat hier keinen Zweck. Überlaßt alles das dem Aktionsausschuß, der zu allen Fragen Stellung nehmen wird. Wir werden sehen, was sich ermöglichen läßt, um all eure berechtigten Forderungen – möglichst ohne Blutvergießen – zu erfüllen, denn Blut, das sagen wir uns, ist ein besonderer Saft.» «Waffen!» rief es von mehreren Seiten. «Wenn es möglich ist, auch Waffen, natürlich, Genossen, aber jetzt geht bitte und laßt uns arbeiten.»

Die Vorschläge für die Wahl des ersten Vorsitzenden konzentrierten sich auf Reese und Jeitner. Bei einer Abstimmung wäre unzweifelhaft Reese gewählt worden, wenn dieser nicht unerwarteterweise dem Unabhängigen den Vortritt gelassen hätte. Er selbst begnügte sich mit dem zweiten Vorsitzenden.

Dann bestimmte man die Vorsitzenden wichtiger Spezialkommissio-nen. Oversath bekam die Sicherstellung der Ernährung, Rauchfuß von den Syndikalisten die Überwachung der Notstandsarbeiten, Unter-haltung der Feuer an den Hochöfen, Bedienung der Schachtpumpen usw. Der Kommunist Kösfeld erhielt das Nachrichtenwesen.

Allein die Besetzung des Sicherheitsdienstes und die Vorbereitung etwaiger militärischer Abwehrmaßnahmen stieß auf Schwierigkeiten, da einer dem anderen mißtraute. Reeses Vorschlag, diese Frage noch offen zu lassen, da sie vorläufig noch nicht brennend sei, stieß auf entschiedenen Widerstand, sogar bei seinen eigenen Parteigenossen. So wurde denn dieses wichtige Ressort den Unabhängigen zugesprochen, von denen man wußte, daß sie bereits einen illegalen Ordnerdienst besaßen. Ruckers übernahm hier den Vorsitz. Die übrigen Mitglieder des Aktionsausschusses wurden dann auf die einzelnen Kommissionen aufgeteilt.

Ruckers zog sich mit zur Linden und Grothe in ein abgesondertes Zimmer zurück; beide Mitarbeiter brannten darauf, Näheres über den sagenhaften «Ordnerdienst» der «Unabhängigen» zu erfahren.

Ruckers machte eine geringschätzige Handbewegung. «Alles noch im Aufbau! Vor sechs Wochen haben wir angefangen, weil ja schließlich jeder sieht, daß – wenn es so weitergeht – wir was zur Verteidigung in der Hand haben müssen. Also das sieht so aus: Bei jedem Zahlabend gibt es einen illegalen Vertrauensmann, der eine Gruppe entschlossener Kerle um sich sammelt. Die Gruppenführer kennen nur ihren Zugführer, die Zugführer nur ihren Kompanieführer, und so geht das konspirativ weiter bis nach ganz oben.»

,Feine Sache», schmunzelte Grothe, «so kann niemals der ganze Laden hochgehen.»

,Wir haben» – fuhr Ruckers fort – «bisher nur die gedienten Leute genommen, nach ihrer Waffenausbildung registriert und eingeteilt. Schützenkompanien, Maschinengewehrzüge, einige Geschützbedie-nungen, versteht ihr?»

«Wieviel Kanonen habt ihr denn?» frozzelte zur Linden.

«Bist selber eine! Waffen? – Das ist noch nicht mal das Wichtigste. Die Hauptsache ist eine gute Organisation entschlossener Kerle. Aber die steht eben leider noch zum guten Teil auf dem Papier. Was die Arbeiter nicht freiwillig abgeliefert haben, das schmissen sie ins Wasser oder vergruben und versteckten es so, daß es unbrauchbar wurde. Wir haben vor vierzehn Tagen eine Aufnahme vorgenommen und dabei neun Gewehre, zweiunddreißig Revolver und Pistolen, sechs Handgranaten und nur wenige Munition festgestellt. – Habt ihr denn nichts?»

«Ich bin nicht genau im Bilde, aber mehr als das eurige ist es bestimmt nicht, von zwei durch Rost unbrauchbar gewordenen Maschinengewehren abgesehen», erklärte der junge Kommunist.

«Ja, dieser Einwohnerwehrbande müßte man die Waffen wegnehmen, aber wie? Wir holen uns da bei einem Angriff nur blutige Köpfe», meinte Ruckers.

Zur Linden zog eine mit Maschinenschrift gefertigte Liste aus der Tasche und begann zu zählen: «Dreiundzwanzig Gewehre von unseren Einwohnerwehrgenossen – die stehen natürlich zur Verfügung.»

Grothe sprang plötzlich auf.

«Die Liste da, Genosse Linden – das sind doch nicht nur eure Parteigenossen? – Was, die gesamte Liste? Und das sagst du Heupferd erst jetzt? Mensch, wo hast du die bloß her?»

«Ja, mein Lieber, Beziehungen! Meine Inge ist doch Stenotypistin bei dem Prokuristen der Schlackensteinfabrik, der Schriftführer bei der Einwohnerwehr ist!»

«Mensch, das ist ja unbezahlbar! Da werden wir heute abend in Swertrup Hausrevision abhalten», rief Grothe, sich vergnügt auf die Schenkel klopfend.

Während noch die Führer über die Beschaffung von Waffen berieten, hatten die ungeduldigen Massen das Problem schon von sich aus in Angriff genommen. Als ein von der Demonstration nach Könkern heimwärtsziehender, etwa dreihundert Mann starker Zug am Bahnhof vorbeikam, stießen sie auf die dort postierten Einwohnerwehrleute mit weißer Armbinde, Stahlhelm und geschultertem Gewehr.

Da war er schon wieder, dieser verdammte Stahlhelm, das Symbol des Noske-Regiments, und da war auch wieder jenes eingefrorene Hohnlächeln auf den Gesichtern der bewaffneten Bürger. Laute Schimpf- und Schmährufe erschollen. Man drängte näher an den Bahnhof heran.

Ängstlich zogen sich die behäbigen Spießbürger und halbwüchsigen Gymnasiasten zurück.

Als sie die große Eingangstür schließen wollten, steckte ein Kriegsbe-schädigter seinen Stock zwischen die Angelspalte.

«Nehmen Sie den Stock da weg!»

Lautes Lachen antwortete.

«Sie sollen den Stock da wegnehmen, sonst...» Wütend rüttelte der Einwohnerwehrmann an der festgeklemmten Tür.

«Hahah! – Was denn sonst, du Möpp? – Willst du uns drohen?»

In diesem Augenblick klirrte irgendwo ein Fenster. Wie man später erfuhr, hatte ein Wehrmann aus Versehen mit der ungewohnten Waffe eine Scheibe eingestoßen.

Dieses Geräusch hatte ähnliche Wirkung wie sonst der berühmte erste Schuß, bloß mit dem Unterschied, daß den Wehrleuten das tapfere Herz nun gänzlich in die schon feuchten Hosen zu rutschen schien. Dem Klirren des Glases folgte das Klirren der hingeworfenen Gewehre, während gleichzeitig die Arbeiter durch Türen und Fenster eindrangen. Innerhalb weniger Minuten war der ganze Bahnhof in den Händen der Arbeiter, ohne daß ein Schuß gefallen war. Fünfundzwanzig Gewehre, ebenso viele Stahlhelme, fünftausend Schuß Infanteriemunition, zwei Kisten Handgranaten sowie einige Kisten Zwieback und Fleischkonserven waren die Beute. Die Einwohnerwehr flüchtete in panischem Schrecken zur Stadt hinaus. Jetzt dachte keiner der Arbeiter mehr ans Nachhausegehen. Sofort wählte man sich Führer, verbarrikadierte die Eingänge und stellte Posten aus, alles für den Fall, daß von der Stadt her ein Rückeroberungsversuch erfolgen sollte.

Aber in Swertrup blieb alles ruhig. Als die Dämmerung einbrach, erlebten die Bewohner zum ersten Male seit Menschengedenken eine fast völlige Dunkelheit. Keine Straßenlaterne brannte, kein hellerleuchtetes Geschäfts- oder Vergnügungslokal warf seine überflüssigen Lichtfluten auf die Straße. Wo noch Kramläden oder Gastwirtschaften geöffnet waren, brannte ein armseliges Stearinlicht.

Auch die sonst fast taghell erleuchteten Zechenplätze und Glashallen hüllten sich in unheimlich finsteres Schweigen. Kein Knarren der Fördertürme, kein Hämmern, Dröhnen und Kreischen aus den Werkstätten erscholl. Die Kamine hatten die ewigen Rauchfahnen eingezogen, wuchsen kalt und starr in den von schweren Wolken verhangenen Märzhimmel.

Das Industriegebiet hielt seinen Atem an.

Mit Einbruch der Dunkelheit setzte ein böiger Nordwestwind ein, der das jeden beschleichende unheimliche Gefühl noch verstärkte.

Ernst Sukrow war in der achten Abendstunde müde vom Umherlaufen nach Hause gekommen. Der machtvoll einsetzende Generalstreik, der grandiose Aufmarsch der Proletariermassen hatte auf ihn einen ebenso gewaltigen Eindruck gemacht wie das Begräbnis der verunglückten Kumpels am Nachmittag. Lange schon waren die mitwirkenden Geistlichen fortgegangen, aber immer wieder neue Arbeiter traten an das offene Grab, sprachen harte Worte der Anklage gegen das Bergkapital, gelobten, daß diese Opfer nicht umsonst gefallen sein sollten. Und als man sich dann unter Vorantritt der schwarz uniformierten Bergarbeiterkapelle zum Rückmarsch in die Stadt anstellte, erscholl statt des sonst üblichen «Ich hatt' einen Kameraden» der russische Rotgardisten-Marsch.

Gern hätte Sukrow von Grothe oder Ruckers Näheres über die Lage erfahren. Sie standen ja mittendrin in der Bewegung, mußten besser Bescheid wissen als er, der nur so nebenbei hintrabte. Ob er mal nach Hasdrubal hinausging? – Aber schnell verwarf er den Gedanken wieder. Er scheute sich, diesen Menschen gegenüberzutreten, die er noch vor wenigen Stunden preiszugeben gewillt war.

Absichtlich nahm er seinen Weg durch die Speisewirtschaft, vielleicht, daß er dort etwas Neues erfahren würde. In dem großen Raum verbreiteten zwei Kriegslichter einen trübseligen Schein, und ebenso war die Stimmung des Schapullaschen Ehepaares.

Die Kostgäste waren nach dem Abendbrot noch in irgendwelche Streikversammlungen gegangen, so daß die würdigen Wirtsleute Zeit und Muße hatten, die Folgen des Generalstreiks für ihr Geschäft zu überschlagen. Wenn am nächsten Zahltag noch gestreikt wurde, dann gab es keinen Lohn. Dann blieben die Leute auch das Kostgeld schuldig, das war so sicher wie das Amen in St. Rochus. Aus diesem Anlaß wünschten Schapullas die Kappisten zu allen Teufeln.

Vor einer halben Stunde hatte ein Junge einen Brief «an Herrn Schapulla persönlich» abgegeben, eine Aufforderung von der Einwohnerwehr, am Abend aufs Rathaus zur Wacheeinteilung zu kommen.

Schapulla lachte hämisch. Die kamen ihm jetzt gerade recht! Sich die Nacht um die Ohren schlagen, womöglich noch die Knochen Kaputtschiessen lassen, sich mit seinen Mietern verfeinden? – Die Herren vom Wehrvorstand konnten ihn gern haben. Mochten sie, die den Mund so voll nationaler Phrasen nahmen, selber ausfressen, was sie einbrocken halfen. Er, Martin Schapulla, hielt sich neutral.

Das Erscheinen seines möblierten Herrn gab ihm Gelegenheit, sein Herz auszuschütten. Seine Frau setzte sich hinzu, hielt sie doch die Stunde für günstig, jetzt mit ihren Plänen betreffs ihres Stammhalters herauszurücken. Kaum aber hatte sie mit ihren Klagen über die geschlossenen Schulen begonnen, als die Tür etwas unsanft aufgerissen wurde und eine Taschenlampe die im Halbdunkel Sitzenden blendete.

«Laßt doch die dumme Lampe weg», rief Frau Schapulla unwillig, in der Meinung, ihre Gäste seien nach Hause gekommen.

«Jesus, Maria und Joseph!»...

Im Zimmer standen vier fremde Männer, von denen der eine in seiner Rechten einen blanken Revolver hielt.

«Bleiben Sie ruhig, wir kommen nur wegen der Waffen», sagte eine raue Stimme. «Im Namen des Sicherheitsausschusses: Geben Sie sofort das Gewehr ‹Danzig 42II› und die fünfzig Patronen heraus, sonst müssen wir Haussuchung halten. Und machen Sie keine Fisimatenten, die Ausgänge sind alle besetzt!»

Schapulla starrte die Fremden blaß und mit offenem Munde an. Der Führer mochte das als Weigerung auffassen, denn er gab seinen Leuten einen Wink.

«Los denn also, Zimmer für Zimmer nachgesehen, und wo euch kein Einlaß gegeben wird, die Türen aufgebrochen!»

Jetzt bekam Frau Schapulla die Sprache wieder. Was, sie sollte die fremden Kerle in ihrem Hause 'rumsuchen lassen, bloß wegen des dämlichen Schießeisens, das ihnen gar nicht mal gehörte? Wer ersetzte ihnen den Schaden, wenn dabei auch noch andere Sachen Beine bekamen?

«Warten Sie nur einen Augenblick, meine Herren, ich hole Ihnen gleich das Ding. Und den Browning von meinem Mann können Sie auch gleich mitnehmen. Wir brauchen keine Waffen. Wir sind auch nur arme Leute, uns nimmt keiner nichts weg! – Martin, sitz doch nicht so dösig da, hole den Herren ein paar Flaschen ‹Dortmunder›. Wir haben zwar auch nichts übrig, aber ein paar Flaschen Bier für die Herren vom Ausschuß sind immer noch da! Für das Soziale sind wir schon immer gewesen – bei uns wohnen alles nur soziale Arbeiter!»

Während Frau Schapulla in Begleitung zweier Arbeiter die Waffen holen ging, tranken die anderen ihre Bierflaschen aus. Dabei ließ der Sprecher seinen Revolver nicht aus der Hand, während der andere, in dem Sukrow einen Schmelzer des Stahlwerks erkannte, die rechte Faust drohend in der Jackentasche hielt.

«Kannst ruhig die Hand vom Revolver lassen, hier tut euch keiner was», sagte er, ihm auf die Schulter klopfend.

Der Arbeiter zeigte seine blanke Faust: «Das hier sind unsere Waffen, und damit haben wir bis jetzt siebenunddreißig Gewehre, achtzehn Pistolen, drei Revolver, sieben Jagdflinten und eine ganze Menge Seitengewehre und Degen eingekauft. Ja, Ackermann, da staunste! Hier ist unsere letzte Station, darum kann ich's ja sagen.»

«Alle Wetter! Aber euer Führer hat doch einen Revolver», sagte der junge Mann. – Der andere grinste. «Den schenk' ich dir, der hat keinen Hahn!»

Frau Schapulla schloß hinter den unheimlichen Gästen schnell alle Türen ab. «Gott sei Dank, daß die Schießeisen aus dem Hause sind. Solange ich lebe, kommt mir so was nicht wieder über die Schwelle», sagte sie aufatmend zu ihrem kleinlauten Heldengatten.

Sukrow konnte an diesem Abend keinen Schlaf finden. Zu viele Ereignisse wirbelten in seinem Kopf durcheinander. Auch auf der sonst um diese Zeit stillen Straße herrschte noch eine ungewöhnliche Bewegung: Schritte, Stimmengemurmel und unverständliche Zurufe. Beunruhigt kleidete er sich schließlich wieder an. Auf dem Hausflur stieß er mit Frau Schapulla zusammen, die bereits in Unterrock und Nachtjacke war. «Jesses, sind das Zeiten! Von meinen ganzen Leuten ist noch keiner nach Hause gekommen. Jetzt wollen sie die ‹Lindenburg› stürmen und die Verbrecher freilassen», jammerte die Wirtin.

Sukrow wurde, kaum daß er die Haustür hinter sich zugeklinkt hatte, von den in losen Gruppen vorbeiströmenden Leuten mit fortgerissen. «Jetzt holen wir unseren Köbes heraus, und wenn er hinter zehn Türen sitzt», hörte er sagen.

Vor dem Gefängnisportal am Ende der Flingerstraße stauten sich die Massen. In der Dunkelheit sah man drohende Fäuste und Gewehrläufe. Gebieterische Rufe erschallten, dazu dumpfes Dröhnen an die geschlossenen Torflügel. Plötzlich lautes Jubelgeschrei! Irgendwo im Dunkel eine Ansprache, deren Sinn der Wind verwehte. Dann brausendes Hoch! Hoch! Hoch! – Mehrere Männer wurden im Triumph davongetragen. Jacob Meiring, der beliebte Führer der Bergarbeiter-Union, hatte die Freiheit zurück. –