BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Gundolf

1880 - 1931

 

Jahrbuch für die geistige Bewegung

 

Jahrbuch 1910

 

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[128]

Richtlinien

von Friedrich Wolters

 

I

Die Kräfte

 

Wir scheiden in der absicht, einige werte der zeit an ihnen abzumessen, das geistige Ich des menschen in seine beiden wesentlichen kräfte: in die Schaffende Kraft und die Ordnende Kraft. Wir sind uns dabei bewusst, dass jeder versuch, sich anders als im geschlossenen werk oder im lebendigen anhauch von mund zu mund mitzuteilen, das opfer der einheit erfordert, aber wir hoffen von der aufnehmenden seele, dass sie nicht so sehr die teile und notwendigen scheidungen, als das ganze bewegende gefühl in sich wieder schwingen lasse, wie man unter den lauten das wort und unter den worten das innere bild hört.

Die Schaffende Kraft ist sinnlich und beruht auf dem unbegreifbaren Gottgrunde als dem leben verströmenden, leben formenden quell, aus dem ihre auswirkungen, unmittelbar und im Ursprünge von ihrem menschlichen Schöpfer selbst nicht begriffen, in das sichtbare dasein treten. Sie ist nicht die körperliche summe sondern die geistige einheit der sinne im menschen: Wie jeder einzelne sinn sich seine dingliche welt erschafft und nach bestimmten, ihm eigenen gesetzenals farbe, ton oder reiz ohne rücksicht auf den verwendeten stoff um sich aufbaut, so erzeugt die innere einheit der sinne, die Schaffende Kraft, nach dem ihr eigenen gesamtgesetz eine seelische welt, deren farbe, töne und reize die wesensgleiche sinnenhafte erscheinungsform wie die der teilorgane haben, deren bilder ebenso ohne rücksicht auf den verwendeten stoff – d. h. ohne zerlegende einsieht – entstehen wie bei diesen und deren Wirkungen, da sie geschaut, gehört und gefühlt werden, keine anderen, sondern nur stärkere weil zentralere sind als die der teilorgane.

Die Schaffende Kraft hat drei betätigungsarten, in denen sie die vielfältigkeit des seins formend erfasst, den zustand der dinge [129] bewegt und ständig-zeugende gewalten auslöst: nämlich das Handeln, das Gestalten und das Schauen.

Das mittel des Handelns ist die Tat. Mag der Handelnde als junger held vor tier oder ungeheuer, als lenker und eroberer vor könige und völker, als heros vor götter treten, immer greift er durch die unmittelbare tat ein bestehendes körperliches leiblich und sachlich an und sezt sich durch den natürlichen widerstoss des angegriffenen selbst der gefahr des leibes und des erbeuteten gutes aus. Aber widerstand, sieg oder untergang ist nur ein zufälliges der tat: sie selbst wird bedingungslos aus der inneren gewalt hervorgestossen und muss an jeder leere und jedem gegensatze ihre lebensflamme versuchen.

Das mittel des Gestaltens ist das werk. Der Gestaltende stellt ein neues körperliches, einen vom verursacher losgelösten organismus ins dasein, der auf der unlöslichen vereinigung eines inneren gesichtes mit einem stoffmittel beruht, der nach der natur seines stoffmittels beweglich oder unbeweglich, mehr zeitlich oder mehr räumlich bedingt sein kann, aber unaufhörlich von schlagenden pulsen durchströmt ist, und die von ihm berührten menschlichen sinne mit dem rhythmus seiner pulse durchdringt, und mit dem samen seines lebens schwängert.

Das mittel des Schauens ist die Verkündigung. Dem Schauenden ist die tat ebenso fremd wie das werk: er ist von der glut eines einzigen strahles so erfüllt, dass alle äusserungen seines daseins nur wie ein scheinen dieses feuers sind und ob er in worten von ihm aussagt oder nur leuchtend als ein sichtbares vorbild durch die tage geht, so verkündet er laut oder stumm die botschaft seines gottes, die über allen zeiten und über allen räumen das heil in sich begreifen will. Um des heiles des Ganzen willen muss er priester und opfer seiner selber werden und indem er selbst zum bilde seiner verkündigung wird, die ganze seelische welt nach seinem leben formen.

Wir haben damit die drei betätigungsarten der Schaffenden Kraft nur in ihren stärksten erscheinungsformen, wie sie sich durch die heldische tat, durch das künstlerische werk und durch [130] die verkündigung der gottes-sohnschaft bezeugen, aufgezeigt: denn je stärker eine von ihnen erscheint, um so reiner wird ihre besondere art sichtbar und um so mehr zeigt ihre einseitigkeit zugleich das ganze wesen der Schaffenden Kraft, während die schwächeren grade gemischt erscheinen und den blick zum kerne trüben. Aber wo auch immer aus sinn und seele eine neue bildung entsteht, sind diese schaffenden gewalten die wirkenden ursachen und aus ihnen muss entquellen was zwischen grösster tat und bescheidenster handlung, zwischen höchstem werke und leichtester zier, zwischen tiefster schau und lindester andacht lebendig heissen will.

Die Ordnende Kraft ist logisch und besteht in der steten zerlegung der peripherie der daseinskugel in begriffene summen und ihrer ordnung nach vorgestellten einheiten, die in der sinnlichen schöpfung nicht erscheinen. Sie ist also unsinnlich und schafft keine seelischen werte, sondern als die fähigkeit des geistes aus gleichheiten und ähnlichkeiten die näheren und ferneren ursachen zu erschliessen, sichtet sie die stoffe, stellt ihr verhalten zueinander fest und sucht sie nach den erkannten gesetzen zu lösen und zu binden.

An der Ordnenden Kraft lassen sich danach ebenfalls drei grosse betätigungsarten unterscheiden: nämlich das Forschen, das Anwenden und das Wissen.

Das mittel des Forschens ist die Methode. Der Forschende nimmt irgendeinen stoff der welt, mag er dem räumlichen oder dem zeitlichen angehören, als ein zuständliches an, das in seiner wesenheit unveränderlich ist, deshalb in seine teile zerlegt, in seinen wirkungsmöglichkeiten erkannt und dann als eine neue besonderheit dem schon bekannten eingereiht werden kann. Um eine fest umgrenzte summe dieses neuen darstellen zu können, scheidet der Forschende das zuständliche als ein in sich ruhendes aus den fliessenden weltbewegungen ab, zwingt es durch eine folge erprobter oder erst versuchter bewirkungen seine besonderen bedingtheiten auszulösen und gliedert die ergebnisse in das netz der begriffe ein, dessen bestimmungen so lange als der wirkliche inhalt des erforschten gelten, als nicht bessere methodische mittel eine andere summe ergeben. [131]

Das mittel des Anwendens ist die Technik. Der Anwendende gebraucht die bekannten beziehungen der stoffe – mögen andere oder er selbst sie erforscht haben – und wendet sie vom schnitzen eines löffels bis zur herstellung der verwickelsten schiffsmaschine, von der behandlung eines kranken bis zur verwaltung eines grossen staatskörpers mit der bestimmten absicht an, eine vorausberechnete wirkung zu erzielen, die einen bestimmten nutzzweck erfüllen soll. Die vertrauteste praxis und die erfindung immer neuer stoffverbindungen sind für den Anwender nur die weitesten grenzen der technik. Die aus not erlangte fertigkeit übt er leicht weiter ohne not, und wenn er die fertigung als gebrauchswert erschöpft hat, ordnet er manchmal ohne bedürfnis immer neue technische spielformen.

Das mittel des Wissens ist das System. Der Wissende sucht die vollkommene logische einheit der welt: was seine zeit an erfahrungswerten erforscht und gesammelt hat, will er als eine im ganzen All bedingte ordnung darstellen und ob er dabei als lezten träger des seins ein rein-geistiges oder ein rein-stoffliches annimmt, ist zwar für seine besondere ausdrucksform aber nicht für das wesen der in ihm wirkenden Ordnenden Kraft von irgendwelcher bedeutung. Ihn treibt es die vielheit der erscheinungen, die zwiespältigkeit der erforschten ursachen, das ungeheure aller möglichkeiten in eine lezte begriffene summe zusammenzufassen, in der alle teile enthalten sein und bleiben müssen; denn der einheitliche logische auf bau des Wissenden, das system, müsste in dem augenblicke zerfallen, wo es ein ausser-ihm-stehendes nicht umfassen, nicht als teil seiner summe »erklären« kann.

Damit berühren wir ein wesentliches des ganzen gebietes der Ordnenden Kraft: alle ihre bildungen sind an und für sich leblos und zerfallen nach dem verbrauch ihres nutzwertes oder der auflösung ihrer logischen wahrheit, ohne andere als belastende oder zersetzende wirkungen auf die menschliche seele ausgeübt zu haben. Die alleinige wirksamkeit der Ordnenden Kraft in einer – fast undenkbaren – zeit wäre also nicht ein zeugen, sondern eine selbstbefleckung des geistes: alle gewalten würden nur nutzlos am chaos wirken und alle aufgetürmten ordnungen [132] sinnlos erscheinen, wie die rein logische verschränkung von linien und flächen, die rein praktische anhäufung von kästen und gefächern zwar eine kubische schichtung von zugänglichen und bewohnbaren räumen, aber kein menschliches haus bedeutet.

Das leben kommt nicht aus der ordnung, sondern aus der schöpfung und wenn die Schaffende und die Ordnende die beiden wesentlichen kräfte des menschen sind, so bedingen sie einander im sinne der ewigen wechselbewegung und wie die erste leben verströmend so ist die zweite leben verbrauchend. Wo aber der schenkende sinnengrund versagt, da verdichten sich die stoffmassen, wo die Schaffende Kraft die gefässe nicht mehr füllt, kann auch von der Ordnenden Kraft kein leben mehr verbraucht werden: aber sie versucht sich dann gern an der toten kruste und gliedert sie nach erstarrten formeln unaufhörlich weiter, bis sich die sprachen verwirren und das babylonische gefüge von selbst zusammenstürzt. Wenn, mit anderen worten das Forschen, Anwenden und Wissen nicht mehr mit den sinnenhaften gründen des Handelns, Gestaltens und Schauens in verbindung steht, so wird die Ordnende Kraft notwendig rein objektiv d. h. sie drückt nur noch das abhängigkeitsverhältnis des menschlichen Ichs von seinen ausser ihm liegenden bedingtheiten aus und muss in dieser vereinzelung seine vernichtung bewirken: sie scheidet dann nur noch elemente, ohne dass organe gebildet werden. Denn die begriffliche vielheit kann so wenig der träger eines lebendigen sein, wie die welle ein sockel der pfeiler. Eine neue welt baut sich nicht auf, wenn das wort zahl wird, sondern wenn es fleisch wird. Nur die Schaffende Kraft formt das antlitz der zeit, nur ihr wille hebt staaten und völker vom boden auf, bricht als sturm aus einem grossen herzen, der die erde sauber fegt und keimwolken in die aufgebrochene scholle von tausend herzen wirft, oder hebt leise wie ein unhörbares licht an und entzündet feuer um feuer des neuen lebens. [133]

 

 

II

Zeitwerte

 

Wir betrachten nun einige wertbegriffe der zeit, indem wir sie unter die betätigungsarten der kräfte ordnen, ohne dass sich die inhalte der einen oder andern ganz zu decken brauchten.

Gemeinwohl und Tatfrage. Die gegenwart erwartet alles so sehr von der gemeinschaft, dass sich das gefühl für die persönliche tat fast völlig aus ihrem leben verloren hat. Unter der form einer ökonomischen menschheitsbeglückung verstrickt man den einzelnen immer tiefer in ein netz sozialer bindungen, so dass ihm die freie bewegung seiner eigenkräfte langsam als unnötig erscheinen muss und die inneren spannungen des tatwillens erlahmen. Von den wirtschaftlichen träumen einer gedrückten klasse haben die herrschenden klassen sich selber zu dem kindlichen glauben verführen lassen, dass das unglück der welt aus wirtschaftlichen nöten stamme, dass das glück zu steigern sei, indem man den überfluss sorglicher verteile und die entwicklung selber durch klugheit so leite, dass der kampf vermieden und der zufrieden­heitszustand immer mehr erreicht werde. Eine kluge ausdeutung des vergangenen soll die leitung in die zukunft ermöglichen und ein rückblick in die analogien der menschheitsgeschichte die voraussicht sicherer machen. So sieht man auch in der vergangenheit nur wirksam, was man in der gegenwart allein wirksam wünscht: man sieht die geschichte nur als bewegung von kollektiv-körpen, aus deren summen sich immer genügende vergleichspunkte entdecken lassen, um aus den einzelfällen ein scheinbar-allgemeingültiges abzuziehen, und nennt den grossen einzelnen im besten falle einen »typus der zeit«, der in sich eine etwas grössere summe von erbe und umgebung darstelle als seine zeitgenossen. Aber die tat ist die mutter der zeit und nicht ihre tochter, sie bedingt das kommende, weil sie in ihrem wesentlichen kerne unbedingt ist; denn eben dieses unbedingte ist das schöpferische des täters und die einzig mögliche betrachtung der [134] geschichte ist die, welche heute wenigstens von einem gelehrt wird: vor dem hintergrunde der verknüpften kollektiv-summen d. h. vor der gesetzmässigkeit der bedingten die genien der Schaffenden Kraft als bedingende aber unbegreifbare, im begrifflichen rahmen der Ordnenden Kraft nicht erklärbare gewalten bildhaft aufzustellen. Was aber für die genien gilt, gilt für jeden einzelnen in seinem maasse: er ist schöpferisch, wenn er sich nicht der erstarrten ordnung bequemt, sondern sein eigenstes handeln zum quell neuer geschehnisse macht: nicht die beste ordnung der gemeinschaft tut für ihn not, sondern seine stärkste tat. Je stärker sie ist, um so besser erfüllt sie ihren zweck, und je besser sie ihren zweck erfüllt, um so besser dient sie dem Lebendigen. Das ganze ziel wage zu überschauen wer mag! Gewiss ist, dass der blick vom punkte der wirtschaftlichen beglückung nicht allzu weit hineinreicht: denn statt blut- und geist-verbände entstehen aus ihr nur Programmgenos­senschaften, welche die durchsetzung ihrer »punkte« als notwendig für das »wohl des ganzen« verschreien, statt ehrlich und brutal um ihre wünsche zu kämpfen. Durch sie wird der einzelne immer mehr einer lahmen vorsehung von konventionen, beschlüssen, vorschriften, statuten und gewohnheitsregeln unterworfen, die ihm zulezt das handeln unterbinden, weil er zu genau »weiss was er zu tun hat«. Durch die möglichste beschränkung des kampfes – die sich heute bis zum popanz des weltfriedens versteigt – erschlafft die tatkraft und an die stelle des mutes tritt die »erfüllung der verpflichtungen«. Eine heilung dieser lähmung kann aber nicht durch die sorge um das gemeinwohl oder durch die hebung der massen erfolgen, sondern durch eine erlösung der verschütteten eigenkräfte in den jungen herzen, durch eine erziehung zum freiesten gebrauch der leiblichen und geistigen energien, der leiblichen, indem man das spiel – dieses wunder der hellenischen welt und Pindarischer oden – wieder aus seinen nützlichen und wirtschaftlichen verstrickungen im sport befreit und zur schule eines schönen körperlichen adels, eines reinen gegnertums erhebt, der geistigen, indem man die innere freiheit des kraftaustausches wieder weckt, die tat nicht um des logischen zweckes, sondern um [135] ihrer selbst willen lehrt und das einsetzen der person für sich oder andere ohne rücksicht auf leib und gut, stand oder stellung fordert.

Natur. Seit man den naturbegriff der Stoa missdeutet und die ganze sinnliche welt als ein ausser und nicht ein mit dem menschen seiendes verstanden hat, ist die »Natur« zwischen äusserster verachtung und höchster lobpreisung hin und her geworfen worden, ihr nachzuleben galt bald als grösste sünde bald als reinste sitte, sie nachzuahmen hiess bald der einzige weg und bald der sicherste absturz der künste. Aber solange die Schaffende Kraft gebärden und werke in zeiten und völkern formte, war der inhalt des begriffes wesen- und wirkungslos, da sich das schöpferische trotz ihm oder mit ihm entfaltete und seine formen aus der unberührbaren einheit nahm; aber sobald sie erlahmte, trat der begriff die herrschaft an und die gebärde wurde »natürlich«, die kunst »naturalistisch«. Man betrachtete die teilerscheinungen der einzelsinne als das Ewiggegenständliche und forderte von der jeweils dem einzelsinne zugehörigen kunst dessen vollkommenste nachahmung, was aber, da die anwendung dieses problems überhaupt nur auf einige bildende künste – wie malerei und plastik und auch hier nur scheinbar – zutraf, bei den übrigen – der dichtung, architektur und musik – zur offenbaren narrheit des rein inhaltlichen naturalismus führte; denn das inhaltliche berührt das wesen der kunst überhaupt nicht, wenn es nicht von der Gestaltung berührt ist, und ist es gestaltet, so ist es nicht träger sondern organische funktion eines neugeschaffenen werkes. Aber wir können die verkennung noch tiefer verfolgen, wenn wir uns erinnern, dass nur die geistige Einheit der Sinne ein werk zu schaffen vermag, dass also nicht die getreue wiedergabe eines wahrgenommenen – oder historisch-entlehnten, was nur eine klägliche abart des naturalismus ist – sondern die sinnliche Geburt im Geiste das wesentliche erfordernis für ein kunstwerk ist, dass, wie Goethe sagt, »Kunst eben darum kunst heisst, weil sie nicht natur ist«, d. h. weil sie ihre Gestaltungsformen nicht vom teilzustand ausser der sinneneinheit nehmen, sondern sie in dieser schaffen muss. Das innere gesicht des werkes wird zugleich im sinnlichen gestaltungsmittel [136] gesehen, gehört und gefühlt – das Eine kennt nur Eine kunst – und durch das besondere handwerkliche einer kunst dargestellt; die handwerkliche schulung – d. h. im grunde nur wieder die strengste und sorgsamste erziehung der sinne – ist daher eine höchste notwendigkeit für jede kunst und wie es von jeher ein merkmal der grössten meister war, dass sie die gestaltungsmittel am vollsten und freiesten zu beherrschen suchten, so ist es schon das kennzeichen einer schaffensarmen zeit, wenn ihr künstlerisches handwerk brachliegt oder gar als »unnatürlich« missachtet wird. »Was uns darin zu strengen forderungen, zu entschiedenen gesetzen am meisten berechtigt, ist: dass gerade das genie, das angeborne talent sie am ersten begreift, ihnen den willigsten gehorsam leistet. Nur das halbvermögen wünschte gern seine beschränkte besonderheit an stelle des unbedingten ganzen zu setzen und seine falschen griffe unter vorwand einer unbezwinglichen originalität und selbständigkeit zu beschönigen« (Goethe). Der künstlerischen gestaltung hilft also kein programm und keine noch so photographische treue, sondern ein schaffender genius, der in strengster arbeit sein werk nach seinem inneren bilde formt.

Der entthronte Mensch. Ein innerster kreislauf ist in dieser zeit gestört: während ehmals die menschen sich als söhne des Gottes betrachteten und mit der demut des einzelnen vor dem schöpfer den stolz der menschheit als der höchsten form der schöpfung vor der welt in sich vereinten und durch diesen messenden umlauf von hingabe und erhebung sich stetig am ewigen zu stärken und zu läutern, stetig ein irdisches schön und gross zu wirken vermochten, betrachten sich heute die menschen als kinder des Nichts, als zufällige schlussglieder einer entwicklung oder sonst eines begriffes, und weil sie darin niemals ein gefühl der gemeinsamkeit, des eingeborenseins erlangen können, vereinsamen sie immer mehr und stehen vor dem »erkannten« göttlichen mit dem kleinen dünkel des besser-belehrten, während sie vor der Schöpfung den sturz des menschen von seinem beherrschenden throne in fruchtloser selbstbeknirschung bejammern oder in satanischer selbstvernichtung berühmen. Man glaubt, dass vor allem das Kopernikanische Weltsystem mit der erde auch den menschen aus [137] seinem kosmischen zentrum geschleudert habe, aber grosse indische und griechische gemeinschaften wussten die erde auch als winzigen teilkörper des ganzen – dem gegenüber die sinnlich-zentrale stellung wenig bedeutete – und verloren nicht die menschmitte, sondern schufen sie in immer neuen schauungen bis zu der höchsten: dass ihre bejahung eben das göttliche sei. Nicht die Kopernikanische neuordnung der gestirne und die aus ihr erst in langsamen jahrhunderten folgenden und anschiessenden schlüsse der wissenschaft haben den menschen »entthront«, sondern weil die schauenden kräfte unserer völkergruppen erschlafften, blieben ihren religionsgemeinschaften nur noch die um sozialer bindungen willen geschaffenen ordnungsprinzipien, gegen die nun alle ordnungsprinzipien der losgebundenen geister den kampf aufnahmen, ohne dass bis heute eines von ihnen gesiegt und das chaos wieder gebunden hätte. Was auf beiden seiten von schaffenden kräften in den kampf geworfen wird, genügt nicht um das ganze zu formen, weil die einzelnen hier wie dort zersplittert kämpfen und wohl tausend ziele aufstellen, aber nicht den kern füllen. Es ist aber weder das religiöse durch die wissenschaft abgetan, noch der glaube durch das heliozentrische system vernichtet, sondern wenn eine schauende gewalt aus der geistigen sinneneinheit aufbricht und wieder eine runde welt aufbaut, dem inneren auge den star löst, dass es das wesen sieht, so wird das heliozentrische wie das geozentrische mühelos einbezogen und die seele wieder in ein anthropozentrisches, in die menschmitte gerückt, wo sie sich als das unbedingte maass nicht allein des erfassten sondern alles erfassbaren fühlt. Denn der mensch ist der mittelgrund der in ihm schaffenden göttlichen kraft – ein anderes gibt es nicht für ihn – er fühlt diese kraft als unendlich und unerschöpflich, daher ist das erfasste immer unendlich gering im verhältnis zum erfassbaren; wenn jenes ihn allein bedingt, ist er klein und sich selbst verächtlich, wenn er aber den quellenden zustrom fühlt, wenn er weiss, dass er unaufhörlich eine neue weltschau aus dem ewigen reissen kann, so »gelangt er zum höchsten, was er zu erreichen fähig ist, dass er sich für das beste halten darf, was Gott und Natur hervorgebracht haben, ja dass er auf dieser höhe verweilen [138] kann, ohne durch dunkel und selbstheit wieder ins gemeine gezogen zu werden«. Weder in der kirche noch im staat noch in der wissenschaft ist heute der wille zu dieser höhe zu suchen; denn da die erste sich meist mit der frommen nutzniessung alter und geheiligter ordnungen begnügt, der zweite sich um opfer und dienst nicht anders mehr bekümmert, als um das beste mittel die massen zu behandeln, die dritte den »wahn« bekämpft oder das religiöse »als einkleidung der wissenschaftlichen errungenschaften in geheiligte symbole« betrachtet, so können sie die flamme nicht nähren, von deren sein sie nicht einmal wissen; aber in ihnen oder neben ihnen glühen die feuerherde auf, von denen neue strahlen ausgehen. Es sind von jeher die gemeinschaften von begeisterten gewesen, die eine neue weltschau auffangen und weiterschaffen. Das edelste ist zart, offenbart sich der menge nur im gleichnis und sucht sein geheimstes im kreis der mitschaffenden zu bewahren, solange es kann. Es schafft durch sein wesen selbst notwendig ein esoterisches und ein exoterisches, und eine zeit die für alles die »breiteste öffentlichkeit« verlangt besagt, dass sie kein edles zu hüten hat. Ein esoterisches wird durch eine summe gleicher erlebnisse der schauenden gewalt und einen daraus bedingten bleibenden gefühlszustand gebildet, der die werke, handlungen und gebärde einer gruppe von menschen als aus dem gleichen kerne des seins genährt erkennen lässt. Sie besitzen in der einheit ein esoterisches geheimnis, das nicht verraten werden kann, weil es nur der vernimmt, dessen herz es schon erfahren hat oder im augenblicke erfährt, wo der ton sein ohr trifft; es sezt keine fähigkeit zu einer besonderen kunst oder wissenschaft voraus, sondern nur den lebendigen grund eines gemeinsamen lebensgefühles; es ist – und darin glauben wir uns weder von der geheimlehre des Veda noch von den antiken Mysterien, noch von der christlichen Offenbarung noch von der mittelalterlichen Mystik zu scheiden – an die menschliche sinnen-einheit gebunden und wenn man heute hier und da eine summe von körperlichen und geistigen beziehungen ausserhalb der menschlichen organe als möglich behauptet, eine wissenschaft und verwendbarkeit von natur- oder weltkräften ausserhalb der menschlichen sinne für eingeweihte [139] in anspruch nimmt, deren geheimnisse man »verraten« oder zu seinem nutzen und anderer schaden »missbrauchen« kann, so hat unsere vorstellung vom inneren schauen und seiner verkündigung damit nichts gemein und wir bescheiden uns dabei, dass wir noch nicht an dem »hüter der schwelle« vorbeigeschritten sind. Wir glauben noch, dass auch auf dem mystischen grunde nichts zu finden sei, ohne es zu schaffen: ebensowenig wie es kunst ohne gestaltetes werk gibt, gibt es mystik ohne verkündete schau: Das von den grössten menschen geschaffene ist das maass des erreichten: wer grösseres tun, schöneres gestalten, tieferes schauen will als sie, muss grösser schöner und tiefer sein als sie, sonst ist seine rede kaff! Uns scheint also not, sich auf den wegen der grossen meister zu üben, sich zusammenzuschliessen, wo ein echter lebenskern aufbricht und seine flamme ihn verkündet, von ihm zu empfangen und selbst entflammt mitzuschaffen, bis ein bund erstarkt, der das immer notwendige draussen, das exoterische, mit in seine wirbel reisst, der den thron des menschen zurückerobert und ein neues adliges geschlecht entstehen lässt, das die stolzeste gebärde des menschentums auf dem grunde der göttlichen demut trägt.

Wissenschaftliche Bildung. Zwei grosse zustandsmassen, Natur und Geschichte, hat das vergangene jahrhundert im wesentlichen erforscht und mit einer ausserordentlichen fülle neuer methoden von einer bis dahin nicht gekannten schärfe zerlegt und geordnet. Die Natur- und Geschichtswissenschaften haben die sinnlichen körper und zeitlichen tatkomplexe zergliedert, die art ihrer entstehung und ihres sich-verhaltens auf logische ursachenreihen gebracht und es schien den menschen, als sei die wissenschaft das einzige und würdigste instrument der welterfassung, als brauchten ihre spaten nur immer tiefer zu schürfen, um bald auf den grund der dinge zu kommen, als brauchten ihre lupen nur immer schärfer zu schauen, um endlich den zusammenhang des seins zu erkennen, als brauchte man nur die summe aller forschung zu ziehen, um für eine neue gesellschaft eine neue bildungseinheit zu haben. So geschah es, dass für die »Gesellschaft« die Wissenschaftliche Bildung bald das einzige maass des gebildetseins überhaupt [140] bedeutete, dass sie für die meisten lebenszweige das notwendige kriterium der tüchtigkeit wurde und heute noch von immer weiteren gruppen als solches angestrebt wird, dass die erziehung der jugend, indem man sie scheinbar von einem überflüssigen wissen befreien wollte, das wenn auch selbst schon vom kritischen angekränkelt doch das innere ganze zu bilden strebte, nun immer mehr eine vorbereitung zum fachwissen werden, immer mehr in die dienstbarkeit des teilnutzens gepresst werden soll. Wie sehr die zeit daran krankt, die jugend daran leidet, wissen heute viele und viele sind helfend am werke, aber nur wenige wagen den stier der kritischen ordnung, der so manche junge stirnen blutig stösst, selbst bei den hörnern zu fassen und zu sagen: hier sind deine grenzen! Was wir schon für die geschichtswissenschaft behaupteten: dass sie nur den zustand oder die räumliche veränderung oder die zeitliche aufeinanderfolge – die sogenannte entwicklung – erstarrter gebilde erkennen könne, gilt auch für die naturwissenschaften: keine methodische beobachtung, keine mathematische berechnung ist imstande die lebenschaffenden kräfte der leib- und geist-einheit von der höchsten Intuition bis zur niedersten zeugung zu erfassen und zu erkennen, da diese ja selbst das raum- und zeitwirkende, das sinnliche sind, das dem Logos ewig widersteht. Hier ist nie zustand, daher keine kategorie, hier ist immer bewegung, daher keine analyse möglich: in jedem augenblicke ist alles wirkend und wie die All-einheit eine ewige zwischen mitte und umkreis wallende kugel ist, unbegriffen durch das wort, gefühlt als blut, geschaut als bild, werdend und vergehend als leben, so soll auch der mensch in sich eine gleiche einheit sein und hier ist die angel des bildens! Das heben seines fingers soll nicht anders sein als sein höchstes tun, denn er soll alles als kern und ganzes tun; aber dazu hilft ihm kein zergliedern sachlicher, leiblicher, historischer oder geistiger komplexe, keine begriffliche schulung an noch so alten oder noch so neuen logismen, keine anhäufung von noch so hohem oder noch so nützlichem wissen, und so nötig diese lehrmethoden als teilzwecke im ganzen sein mögen, so wenig sind sie das ganze und so wenig können sie auch in ihrer feinsten anwendung und sorgsamsten mischung das bilden, was einen zum ganzen [141] menschen macht. Eine einheit wird nicht aus der erkenntnis gefolgert, sondern aus dem blute geschaffen und ein lebendiges kann nur im lebenszentrum genährt werden: die Ordnende Kraft belehrt, aber bildet nicht, die Schaffende Kraft belehrt nicht, aber bildet: am jungen leben nur jene pflegen und diese sich selbst überlassen, heisst sand in die brache säen und den ungepflegten acker noch verschütten; nur die »kritischen« und »praktischen« funktionen der jugend schärfen und die handelnden, gestaltenden, schauenden wollensinstinkte eher schwächen als stärken, heisst den blühenden körper eines volkes langsam abtöten, und wenn man etwa sagt, das schaffende leben brauche keine bildung und müsse sich selbst aus der nun einmal nötigen umstrickung heben, so lobt man nur den hagel weil er auch den gegner trifft; doch wo alle keime zerschlagen werden, zergeht alle frucht. Uns liegt aber nicht an dem einen oder dem andern, sondern am ganzen und zunächst an einer ganzen jugend. Sie muss wieder lernen, dass im sinnlichen geschehnis eine ebenso grosse und tiefe »wahrheit« liegt, wie im begrifflichen schluss, sie soll vor dem ding-zustand den lebensfluss betrachten, d. h. vor dem logischen ordnen des vielfältigen eine einheitliche anschauung der erscheinungen haben, und ehe sie das gesetz im fremden sucht ihre eigene form gewinnen. Damit der forschende geist überhaupt mit den mitteln des zerlegenden hasses vom umkreis in den schoss der welt dringen kann, muss der schaffende geist mit den mitteln der einenden liebe unaufhörlich vom kerne aus leben zum umkreis führen, das bedeutet für den besonderen fall: vor jedem forschen und selbst für jedes forschen muss in jedem menschen die sinnlich-geistige harmonie gebildet werden, die sein leben trägt; es gibt von hier aus gesehen überhaupt keine »Wissenschaftliche Bildung«, sondern nur eine – im tiefsten ernste – schöne bildung.

Kulturfortschritt. Stündlich schwellen die klagen über die unrast der zeit höher an, stündlich wird sie durch die ausgeklügeltsten mittel der technik vermehrt und die hoffnungslosigkeit, dass jemals wieder ernst und ruhe, würde und stille in das getriebe komme, betäubt man nur lauter durch den ruf der leidigen notwendigkeit des fortschritts der kultur. Schon [142] der gedanke, dem rasen einhalt zu tun, begegnete dem hohn von der unmöglichen aufhaltung des fortschritts oder würde als rückschritt mit dem stempel des kapitalverbrechens an der modernen zeit gebrandmarkt; die missachtung der technischen »errungenschaften« gestattet man lächelnd nur dem genie und dem wahnsinn; denn sie passen nicht in den fortschritt hinein. Dieser bedeutet die beständige ordnungsmässige aufhöhung der menschlichen gattung durch die reine zeitliche aufeinanderfolge kulturell sich steigernder gesellschaften und ist als zustand immer die gesetzmässige summierung historischer resultate: Das paradiesische bild ist aus der vergangenheit in die zukunft gerückt – etwas anders freilich – und auf dem wege dorthin stellt der stand der jeztzeit, als dem endpunkte der bisherigen entwicklung der menschheit, notwendig ihre äusserste bisher erreichbare höhe dar. Das heisst: da man kein vertrauen zu seiner grösse hatte, da man wohl die kompliziertesten ordnungen von einzeldingen und -kräften erfand, aber das leben gestaltlos zerrinnen fühlte und die höchsten gestaltungsformen ehemaligen – doch tieferen – kulturstufen entlehnen musste, da man bei jedem vergleich mit zeiten einer starken einheitlichen gebärde eine unbehagliche hohlheit in seinem innersten kerne spürte, so unterstellte man der menschheit ein gesetz – eben das des fortschritts das dem jezt erreichten stand der entwicklung seine grösse und höhe unbedingt verbürgte und übertrug so gleichsam das prinzip der anciennitätskarriere auf die ewige weltverwaltung: da wir die ältesten sind, müssen wir auch die besten, die »fortgeschrittensten« sein! Man merkte nicht, dass man dabei von seiner eigenen mitte fortschritt und ins chaotische geschleudert wurde. Wer nur summe ist, begreift freilich die einheit nicht, er sieht wohl das ergebnis der aufeinanderfolgen, aber nicht die aus dem lebendigen All eindringende kraft, er sieht jede steigerung als eine häufung von kulturelementen an, aber fühlt nicht, dass jeder mensch, der auch nur einen funken schaffender kraft in sich trägt, in dieser ein unerklärliches erzeugnis des jezt und immer um uns und in uns kreisenden zeitlosen lebens ist, dass das genie das unbestimmbare – darum rücken die allzu klugen es so gern dem Wahnsinn nahe – das gesetzlose, weil gesetzwirkende organ der [143] ewig unverbrauchten mächte ist und die zeit unbekümmert um fortschritt und rückschritt in seine bahn reisst, sie nicht als summe des erworbenen, als plus der wiederholung sondern als eine neue schöpfung in die zukunft sezt. Eine kultur in rein technischem sinne kann nie ein lebendiges geschehen in seine folge ziehen, denn ihre werke sind tote stoffgeburten, die weder einheit noch zeugung haben und darum wieder in sich selbst zerfallen; schon beginnt sich ihr eigener fluch zu erfüllen: da selbst die organisation der heutigen gesellschaft kaum noch genug stimulierte bedürfnisse für das vielfache an erfindungen aufbringen kann, werfen sich diese auf das sinnlose und darum erscheint es schon heute denkbar, dass bald ein vornehmeres menschentum nicht mehr gewillt sein wird, jede neuerung zu gebrauchen, weil irgendein amerikanischer narr sie ausgeklügelt hat. Schon fühlt man deutlich, dass die anwendungen an den stoff das maass der neu-schöpfungen weit überschritten haben; die technik hat mit dem kapital der wissenschaften, zu denen das 17. und 18. Jahrhundert, wie man so gern vergisst, den lebendigen grund gelegt hat, gewüstet und die menschheit merkt ängstlich, dass sie von ungeheuren haufen toter dinge umgeben ist, aus denen kein lebendiger atem quillt: schon empfindet man – um ein beispiel zu sagen – dass eine eiserne brücke von einigen hundert metern bogenspannung ohne künstlerische gestaltung für die kultur eines volkes nicht mehr bedeutet als ein gut gelegter eiserner ofenrost, aber dass eine solche brücke als totes glied eines sichtbaren stadt- oder landschafts-körpers ein schönes ganzes vernichten und also tausend fruchtbare kräfte verstocken kann. Am luft- und blutmangel spüren viele die erstickungsgefahr und beginnen das »nützliche« gestaltend anzugreifen. Aber nicht aus der umgestaltung des vorhandenen, sondern nur aus der völligen neuschöpfung einer schaffenden kraft kommt das heil, nicht aus dem kerker kommt der schlüssel, sondern vom jungen tag, der aus dem genius geboren seine reinen wünsche, seine einzige haltung und seinen unbarmherzigen willen gegen alles lebenverschnürende, lebenverstockende hat.

Weltanschauung. Eine hohe stufe der kultur glaubt man errungen, aber es fehlt noch die weltanschauung. Man hat [144] versucht dem mangel abzuhelfen, indem man eine monistische, eine naturwissenschaftliche, eine sozialistische, eine individualistische, eine religiöse, eine linksliberale, eine rechtsliberale und noch weitere weltanschauungen aus dem wesen der zeit als die einzig-richtigen erwies, aus der modernen erkenntnis folgerte und dennoch will keine am geiste verfangen, kann keine system in die verwirrten teile bringen und mit der erlangten ordnung der kosmischen auch eine ordnung der seelischen welt vereinen. Was ihnen allen fehlt ist eben die anschauung einer welt-einheit; weltanschauung bedeutet nicht, die resultate, begriffe, programme, wünsche und ziele ordnen, sondern zunächst eine welt schauen d. h. schaffen; die wissende kraft kann nie die schau ersetzen, da sie nur ihre logische ordnung im system darstellt; sie sucht die aus der sinnen-einheit entsprungene schau als logische ursachenverknüpfung im geschlossenen system, das will sagen, so zu begreifen, dass die begriffliche kette ebenso in jedem augenblicke eine in sich beharrende einheit bildet, wie die schauende kraft eine in sich fliessende einheit ausströmt. Je tiefer daher die schau ist, um so grösser und umfassender ist der ordnungsstoff, den ein system bewältigen muss, und je mehr das system von der geschaffenen welteinheit umschliesst, um so länger beherrschen seine gliederungen das wissen der jahrhunderte; und umgekehrt, je weniger tief die schau ist, oder je weniger die Ordnende Kraft von ihr umgreift, um so schwächer und kürzer ist die herrschaft eines systems, weil eine neue welt schon neue begriffliche ordnungen möglich macht, die es nicht mehr in sich schliessen kann, nicht weil es im schulsinne »logische fehler« hat. Denn die folgerichtigste logik als alleinige betätigung des menschlichen geistes, die reinste Ordnende Kraft, würde das schwächste system darstellen: gerade daran kranken alle modernen weltanschauungen, dass ihnen nicht der sinnliche mutterboden, sondern eine schon abgeleitete begrifflichkeit zugrunde liegt, und noch das höchste wissen der zeit, die philosophie, zehrt von historischen erkenntnisformen, eben den grossen systemen der vergangenheit, und ist darum ebenso hilflos bei der bildung eines philosophischen systems, wie alle anderen wissenschaften und parteien bei der »verbreitung« einer neuen weltanschauung. Vom göttlichen [145] wird nichts im zwang errungen und wo keine welt geschaffen ist, ist auch keine zu ordnen und zu begreifen. Darum hilft auch heute dem denker nichts als die völlige lösung vom rationalen dünkel, die hingebendste vertiefung in die lehren der grossen verkünder und das nähren des geistes mit der kräftigsten kost des sinnlichen blutes.

 

 

III

Folgerung

 

Die zeit des logischen turnens ist vorbei und das ringen mit dem engel des lebens hat wieder begonnen. Kritik will nur noch verstanden werden als förderung der krise: nicht mehr als scheidung der erstarrten dinge, sondern als entscheidung für das lebendige. Dass in den werten dieser zeit die Ordnende Kraft so sehr überwiegt, zeigt deutlich, dass ihre wurzeln nicht mehr zum nährenden grund hinabreichen; von ihnen sich abzukehren, ist losung für jeden, der die jugend unseres volkes liebt; die quellen der Schaffenden Kraft zu suchen, zu handeln, zu gestalten und zu schauen, ist not für jeden, der glied einer neuen schöpfung werden will; und wer nicht selber quell sein kann, der soll sich an ihm tränken, soll in selbstloser bescheidung und freiester selbsthingabe den schaffenden dienen, und so als empfangender am lebendigen anteil haben. Dann schiessen die teile von selbst zu einer harmonischen bildungseinheit, einer kultur zusammen; denn der neue leib sichtet organisch die säfte, die ihn fördern, nimmt an was ihn erbaut, stösst ab was ihm nicht taugt und wächst auf, wenn seine wurzel nur an die ewigen wasser rührt und seine krone in luft und sonne steht.