BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Siegfried Keßler

1883 - 1943

 

Berthold Auerbach als Erzieher

 

Text

 

____________________________________________________

 

 

[6]

 

 

II.

Voraussetzung für die Entstehung

des Auerbachschen Interesses an der Erziehung

und seines Bildungsideals

 

Segensreiche Einflüsse haben die natürlichen Anlagen unseres Dichters gefördert, auf seine Pläne und Wege eingewirkt. In einem kleinen Dorfe des Schwarzwaldes geboren, aufgewachsen in einem religiös-jüdischen Familienkreise, lernte er das Dorfleben mit allen seinen Freuden und Reizen von frühester Jugend auf beobachten, kennen und lieben. 3) Den ersten nachhaltigsten Eindruck übten auf ihn die Erzählungen seiner Mutter, „sie ist ahnungslos die erste und größte Lehrmeisterin des später so mächtigen Erzählers geworden“, hinzu kam der Unterricht seines stets von ihm verehrten Lehrers Frankfurter 4), dem er in späteren Dichtungen, wie weiter unten ausgeführt werden wird, ein bleibendes Denkmal gesetzt hat. Der Wunsch seiner Eltern bestimmte den Dichter zum Rabbiner, einem Berufe, dem neben dem Predigtamte in erster Linie die Unterweisung und Erziehung oblag. So war es eine Selbstverständlichkeit, daß er sich in den ersten Jahren des Studiums auch mit Erziehungsfragen beschäftigte. Eine innige Freund­schaft verband ihn mit seinem Vetter Jacob Auerbach, dessen Aufzeichnungen über die Jahre der geistigen Entwicklung und des gemeinsamen Strebens und Kämpfens so wertvoll für das Charakterbild unseres Dichters sind, daß wir ihnen folgende Stellen entnehmen:

„Berthold Auerbach kam 1827 von Hechingen nach Karlsruhe, wo sein Onkel Mayer Auerbach lebte. Seine früher wohlhabende Familie in Nordstetten war damals bereits verarmt, und er suchte eine Stütze in dem Hause seines wohlhabenden Onkels, mußte aber auch durch anderweitige Unterstützung und durch Erteilung von Privatstunden sich Mittel zu seiner Ausbildung verschaffen. Ich hatte mich ebenfalls dem Studium der Theologie gewidmet, traf ihn im Herbst 1827 in Karlsruhe, wo wir, durch entfernte Verwandt­schaft einander genähert, in inniger Freundschaft verkehrten, bis er im Frühling 1830 sich nach Stuttgart begab. Er besaß gründliche Elementarbildung, wußte sich vollkommen sprachrichtig auszudrücken und hatte auch schon manche Werke unserer klassischen Literatur gelesen. Von dem württembergischen jüdischen Theologen wurde damals schon Gymnasialbildung gefordert. Berthold Auerbach bereitete sich zum Eintritt in das obere Gymnasium in Stuttgart vor, nahm zu diesem Zwecke Privatunterricht und besuchte die unteren Klassen des Lyceums in Karlsruhe als Hospitant, was bei seiner kleinen Statur und seinem jugendlichen Aussehen nicht auffallend [7] war, obwohl er bereits das sechzehnte Lebensjahr überschritten hatte. Im Karlsruher Lyceum, das Männer wie Gerstner, Kärcher und Lang zu seinen Lehrern zählte, herrschte ein vortrefflicher Geist. Unser Lehrer im theologischen Fache war ein frommer, von Zelotismus völlig freier Mann, der auch eine allgemeine wissenschaftliche Bildung besaß und eine Universität besucht hatte. (Rabbiner E. Willstaedter.) Mehrere unserer Studiengenossen bildeten sich als Elementarlehrer aus und besuchten zu diesem Zwecke das Lehrerseminar, an welchem Stern und Griesbach in trefflicher Weise wirkten.

Mächtig war zu jener der Natursinn Berthold Auerbachs. Er blieb, wenn wir uns zusammen im Freien befanden, zuweilen, wie von einem elektrischen Schlage berührt, plötzlich stehen, faßte mit kräftigem Druck meinen Arm und machte mich auf die untergehende Sonne oder eine andere Naturerscheinung aufmerksam. An freien Tagen drang er gewöhnlich darauf, daß wir in den nahen Wald gingen.

In inniger Freundschaft schlössen wir uns einem jungen Mann, namens Randegger aus Triest, an, der zur Fortsetzung seiner theologischen Studien nach Deutschland gekommen war, und die oberen Klassen des Lyceums besuchte. Wir faßten unseren künftigen Beruf im freien Sinne auf. Die Stellung des Judentums in der Gegenwart, seine künftige Gestaltung, sowie seine Aufgabe in bezug auf das Christen­tum, das wir achteten und ehrten, war der beständige Gegenstand unserer Gespräche. Wir strebten nach Selbst­bildung, um in dem künftigen Amte bildend und veredelnd wirken zu können, und machten es uns zur Pflicht, mit Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe uns gegenseitig auf Fehler aufmerksam zu machen. Wir lasen und besprachen eifrig Werke der klassischen Literatur, von denen Goethes „Wahrheit und Dichtung“ uns zuerst einen leitenden Faden für die Geschichte derselben bot, die Schriften Jean Pauls wurden mit Heißhunger verschlungen. Herders Werke lasen wir eifrig in der damals erschienenen Gesamtausgabe, die sich Randegger verschafft hatte. Sein besonderes Interesse dafür kam daher, daß er mit dem Verfasser der Lebensgeschichte Herders, Legationsrat Ring, dem er Unterricht im Italienischen erteilte, in Beziehung gekommen war. Wir lasen nicht bloß Schriften, wie die „Ersten Urkunden des Menschengeschlechts“, sondern auch verschiedene Aufsätze, die für uns eigentlich gar keinen Wert hatten, so namentlich auch Persepolis, und in späteren Jahren, wenn Berthold Auerbach von jenen Zeiten sprach und daran erinnerte, wie sehr wir im Dunkeln herumtasteten, pflegte er zu sagen: „Persepolis haben wir damals gelesen!!!“ – Herder war uns aber der begeisterte Seher, wie ihn Johannes von Müller darstellt, und blieb uns durch unser ganzes Leben der Apostel der Humanität. [8]

Als charakteristisch darf ich hier eines unbedeutenden, damals für uns sehr wichtigen Vorfalls erwähnen. Unser Lehrer hatte die Einrichtung getroffen, daß einzelne Schüler von Zeit zu Zeit homiletische Vorträge vor den Mitstudierenden hielten. Berthold Auerbach hatte einen solchen Vortrag übernommen. Es war an einem Wintertage nachmittags, als wir in Randeggers Zimmer saßen und er uns seinen Aufsatz vortragen wollte. Der Anfang lautete ungefähr wie folgt: „Wirf, o Erdensohn, den Anker deiner Hoffnung nicht in den tiefen Schlamm der Erde, sondern in das reine Himmelsblau!“ Er hatte diese vom Einflüsse Jean Pauls zeugenden Worte kaum gesprochen, als ich ihn mit der Bemerkung unterbrach, daß ein Anker doch nicht in den Himmel geworfen werden könnte. Damit war die Vorlesung beendigt, er sprang auf, riß die Ofentüre auf und warf sein Manuskript ins Feuer. Auch dieses Vorfalles gedachte er in späteren Jahren gern. „Wirf, o Erdensohn,“ rief er mir zuweilen scherzend zu, wenn wir von vergangenen Tagen sprachen.

Im Sommer 1828 begleitete Berthold Auerbach seinen Onkel nach Wildbad. Er kam von dort verändert zurück. Er war auf den Bergen herumgestiegen, hatte das Tal durchwandert, den rauschenden Wassern gelauscht und stundenlang einsam im Walde gelegen. Als wir ihn wiedersahen, war – ich möchte sagen – eine höhere Weihe über ihn gekommen. Er gab uns nur flüchtige Andeutungen, wie etwa ein Jüngling nur verschämt von dem Erwachen der ersten Liebe spricht. Der Geist des vaterländischen Bodens hatte zu ihm geredet! Er brachte ein dickes Heft mit, in dem er die mächtigen Eindrücke schilderte, ließ mich aber nur einmal flüchtig hineinsehen; wenn ich nicht irre, enthielt es auch Stellen in gebundener Rede.“ 5)

Auf der Universität in Tübingen waren es besonders David Friedrich Strauß, Ludwig Uhland und Gustav Schwab, die einen gewaltigen Eindruck auf den jungen Studenten machten. Als er wegen seiner Anteilnahme an den damaligen studentischen Bestrebungen zu einer Haft auf dem Hohen Asperg verurteilt wird, ist es ihm nicht mehr möglich, seine Rabbinatsprüfung abzulegen. Er spielt nun mit dem Gedanken, Jurist zu werden, um auf diese Weise der Menschheit nützen zu können. Im Jahre 1845, bei seinem Aufenthalte in Berlin, tritt er in nähere Beziehung zu Diesterweg und dessen Mitarbeiterkreis, und es ist begreiflich, daß der Niederschlag ihrer Unterhaltungen sich [9] in den Werken unseres Dichters wiederfindet. Ja, mitunter äußert er geradezu seine Freude darüber, daß er nun auch Gelegenheit habe, seinen didaktischen Neigungen Ausdruck zu verleihen. So schreibt er seinem Freunde Jakob Auerbach (Briefe I. 100): „Mein Schatzkästlein macht mir viel Freude. Es tut mir wohl, meinem Lehrtrieb hierin einige Genüge getan zu haben und nicht Leckerbissen für die zu kochen, die schon genug zu essen haben, sondern für die Hungrigen.“

In diesen Worten zeigt sich klar Auerbachs pädagogisches Programm, das darin besteht, als Erzieher für diejenigen wirken zu wollen, denen Erziehung eine Lebensnotwendigkeit war. Und wenn wir das dichterisch-didaktische Schaffen unseres Dichters näher anschauen, so erkennen wir darin deutlich die drei Wege und Ziele, die er sich als Lebensaufgabe gesteckt hatte: die Erziehung zur Heimatliebe, zur Vaterlandsliebe und zur Menschenliebe. Unter diesen drei Gesichtspunkten soll in den nachstehenden Ausführungen die dichterische Erziehertätigkeit Berthold Auerbachs näher gewürdigt werden.

 

――――――――

 

3) Es soll nicht Aufgabe dieser Studie sein, eine Lebensbeschreibung Auerbachs zu geben, es sei vielmehr hingewiesen auf das grundlegende Werk: Anton Bettelheim, B. A., Der Mann, sein Werk, sein Nachlaß. Stuttgart u. Berlin, 1907. 

4) Näh. s. Allg. Ztg. d. Jdt. 1868. Nr. 23 u. 24. Aufsatz von A. Elsässer. 

5) Die vorstehenden Aufzeichnungen erhielt ich durch die Liebenswürdigkeit des Herrn Studiendirektors Dr. Driesen, Frankfurt a. M. Näh. s. Programm d. Philantropin zu Frankfurt a. M. 1888. Aus den oben zitierten Aufzeichnungen hat J. Auerbach einiges in Vorbemerkungen zu den von ihm herausgegebenen Briefen B. A.'s hinübergenommen. Siehe daselbst S. XV.