BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Siegfried Keßler

1883 - 1943

 

Berthold Auerbach als Erzieher

 

Text

 

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III.

Ziel und Objekte der Erziehung

 

Das Problem, ja, der Gesamterfolg aller Erziehung beruht auf dem persönlichen Einfluß des Erziehers auf seinen Zögling. Je größer dieser Einfluß ist, je tiefgehender das lebendige Beispiel wirkt, das der Erzieher selbst oder ein anderer bietet, je größer wird seine Wirkung sein. Der beratende Freund, der unaufdringlich seine Ansicht äußert, jedoch wird als Erzieher am meisten erreichen. Deshalb sucht Auerbach auch zu seinen Lesern in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten. Er will ihnen nicht befehlen, er will sie überreden, ermahnen, überzeugen. Dabei tritt allerdings eine oft gerügte Unart und Übertreibungsmanie Auerbachs in Erscheinung, von der Bettelheim mit Recht sagt 6): „Sein ganzes Dichten und Trachten ging dahin, das menschliche Herz mit seinem vielverzweigten Geäder genau zu erforschen, darum ließ er auch sein eigenes Seelenleben zwischen tausend Reflexionsspiegeln sich bewegen.“ Durch die Darstellung von edlen und verabscheuungswürdigen Charakteren, durch Beispiel und Gegenbeispiel, Aneiferung und Abschreckung sucht Auerbach erzieherisch [10] auf seine Leser zu wirken. Und wenn auch gewisse Probleme wiederholt in seinen Werken behandelt werden, so ist dabei wohl die Erwägung mitbestimmend gewesen, daß man manche Gedanken dem Leser nicht oft genug einprägen kann und das um so öfter, je wichtiger sie sind. (Coll. S. 228.) „Dieselbe Arbeit wiederholen und immer wieder – das erst ist Arbeit; alles andere ist Lust, Liebhaberei. Die Natur wiederholt sich im Gesetz, der Mensch in der Pflicht!“ Darum ist nach Auerbach das Ziel der Erziehung und die höchste Aufgabe aller Bildung: die Erziehung zur Pflicht! Dieses Fundament muß fest gegründet sein, damit auf ihm das Gebäude des Wissens und der ethischen Bildung errichtet werden kann. „Wer sein Landhaus zu schnell und leicht baut, muß sich gefaßt halten, daß jeder vorüberfahrende Wagen ihm sein Heim erschüttert.“ 7) Das ist jedoch nur dann zu vermeiden, wenn das Wissen aus Kenntnissen besteht, die zu „Charakter, Gemüt, Willen, Einsicht werden. Benimmt es nur die Unwissenheit, so wird es zum Verderb. Ein Mann aus dem Volke, der das, was er weiß, wirklich begreift und mit dem Ganzen seines Seins und Handelns in Einklang zu bringen vermag, ist gebildeter als ein bloßer Vielwisser.“ 8) „Einen Menschen so ausbilden, intellektuell und ethisch, daß man annähernd sicher sein kann oder erwarten darf, daß er in jedem gegebenen Fall das Sittengesetz zu Rate zieht, das ist das einzige, was man tun kann. Soweit ich die Welt kenne, haben die durch Geburt Vornehmen – – und wahrscheinlich ist es auch bei den Reichen so – – immer nur Wünsche und Verlangen. Nun ist die Aufgabe, das Wünschen und Verlangen und Erwarten zu einem Wollen, zu einer Selbsttätigkeit zu machen!“ 9)

Immer und immer wieder leuchtet aus den pädagogischen Grundsätzen die Forderung hervor: Selbsttätigkeit und Selbständigkeit! „Ich habe mal versucht, meinem Kinde an seinem Geburtstage die Mittel zu geben, andern eine Freude zu machen, indem es etwas verschenken kann, den Hausarmen, den Dienstboten und den Geschwistern. Das Mittel scheint gut, weil der Zweck gut ist – ist aber in der Tat an sich nicht gut. Jene höchste Freude, andern zu geben, muß aus eigener Arbeit und zu eigener Entbehrung kommen; die Mittel dazu schenken, macht die Wohltat zu einer innerlich unwahren, abgesehen davon, daß es falsch ist, die Hand des Kindes nur zum Boten, zum Gefäß der Darreichung zu machen. Was nützt es der Seele des Kindes? Was bleibt in seinem Gemüte davon übrig, wenn es etwas hergibt, was [11] es eigentlich niemals besaß? Es erhält den Dank der Beschenkten und hat ihn doch eigentlich nicht verdient.“ 10)

Fast den gleichen Gedanken spricht Auerbach an folgender Stelle aus: 11) „Ich habe vor kurzem wieder Plutarch gelesen, und da fiel mir die tiefe Deutung auf, daß Theseus die Waffen seines Vaters erst dann bekommt, wenn er den Felsen wegheben kann, unter dem sie verborgen sind. Wir können nichts tun, als unsern Kindern die Kraft üben, damit sie sich selbständig die Geisteswaffen holen, die für jeden unter dem Felsen liegen. Ja, üben wir die kindlichen Kräfte, gewöhnen wir den Geist daran, auch aus dem Brunnen zu schöpfen, den andere gegraben haben.

Nicht alle Schriften Auerbachs sind an die gleichen Kreise gerichtet; einmal zielt er auf eine Belehrung des Städters hin, dann umgekehrt will er den Dorfbewohner bilden und belehren, wieder ein anderes Mal gar richtet er seine Worte an die Eltern und Lehrer, um zuletzt auch das Kind selbst in den Bereich seiner Erziehertätigkeit zu ziehen. Und je nach den Kreisen, an die der Erzieher Auerbach sich wendet, sind Erziehungsziel und Bildungsmittel verschieden. Er will kein „Bildungsschuster“ sein, der nur einen einzigen Leisten sein eigen nennt.

Im Jahre 1843 erschien bei Cotta seine Programmschrift: „Der gebildete Bürger“, in der er seine didaktischen Ideen über Volksbildung entwickelt: „Geistige und künstlerische Förderung der Massen in ihren Ruhetagen durch Lehre, Kunst, Kunstgewerbe, Liedertafeln, landwirtschaftliche Schulen, Theater und dergleichen Gedanken, die heute in Volksbildungsvereinen, Volkshochschulen und ähnlichen Instituten verwirklicht worden sind.“ Darüber hinaus aber erstrebt Auerbach noch ein anderes Ziel. Der gebildete Bürger soll nicht nur seine Interessenssphären kennen und lieben lernen, sondern er soll auch seinen Sinn auf die Landbewohner lenken, nicht im Hochmut auf sie hinabsehen im Vollgefühl seiner Bildungsbestrebungen, sondern in liebevollem Verstehen die unverfälschte Naturwüchsigkeit würdigen und schätzen lernen. Seit Rousseaus: „Retournons à la nature!“ ist niemals stärker und eindringlicher der Ruf nach gegenseitigem Verständnis erklungen. Dadurch aber erhalten Auerbachs Schriften neben ihrem künstlerischen Werte auch noch einen historisch bedingten, „eine zeit-und kulturgeschichtliche Bedeutung neben oder über der poetischen.“ 12) Naturgemäß drängt sich dem Dichter die Frage auf: „Was geschieht, wenn Vertreter von Stadt und Land unter den heutigen Verhältnissen in nähere Beziehung treten, wenn sie gar eine Ehe miteinander eingehen sollten?“ Und so erörtert er denn auch dieses Problem in der „Frau Professorin“ (Werke, Bd. III). [12] Durch Rousseau und die Sturm- und Drangperiode war das Thema des Standesunterschiedes aufgekommen und hatte schnell große Beliebtheit erreicht, wie zahllose Dichtungen von der „neuen Heloise“ bis „Kabale und Liebe“ und von da ab weiter bis in die neuere Zeit beweisen. Überall ist der Mann der Höherstehende, der sich zu dem niedriggeborenen Mädchen herabläßt. Auerbach verstand es, dem Problem eine neue und originelle Wendung zu geben: er zeigt, daß nicht vor der Ehe, sondern erst in der Ehe die wahre Tragödie beginnt, daß es mit der Polemik gegen ständische Vorurteile nicht getan sei, sondern daß neben der Frage des Standesunterschiedes die Frage des Bildungsunterschiedes als das wichtigste Moment hervortrete. 13)

Die „Frau Professorin“ ist auch in der Hinsicht merkwürdig, daß sie, im Gegensatz zu der „reinen“ Dorfgeschichte Gotthelfs, gerade das Zusammentreffen der städtischen und bäurischen Lebenssphäre sich zum Thema nimmt. Von diesen Problemen wußte Gotthelf nichts. Durch welche Mittel aber ein solcher Zwiespalt in der Zukunft vermieden werden kann, hat Auerbach, wie an anderer Stelle weiter ausgeführt werden soll, in seinen Bildungsschriften in gründlichster Weise dargelegt.

Der Dichter ist Erzieher, er lehrt, indem er schafft. Auerbach, der sich dieses doppelten Berufes allezeit bewußt bleibt, zeigt an vielen Stellen dem eigentlichen Erzieher, wie er seiner Aufgabe gerecht werden kann, ja, er gibt uns geradezu ganz vortreffliche Anweisungen zur Erziehung der Erzieher. Darum nimmt es uns kein Wunder, daß Auerbach recht häufig zu den Fragen des Unterrichts Stellung genommen und den Personen seiner Erzählungen oft programmatische Äußerungen über Erziehungs- und Unterrichtsfragen in den Mund gelegt hat. Ja, der Lehrer selbst spielt in einzelnen seiner Werke eine führende Rolle, so im „Lauterbacher“ und in den drei Romanen: „Neues Leben“, „Das Landhaus am Rhein“, „Waldfried“. 14) Nicht unerwähnt bleiben soll auch der ewig rubrizierende und zensierende Collaborator Reihenmeyer. 15) Am ausführlichsten hat sich Auerbach zu den Fragen der „Volkserziehung“ im „Lauterbacher“ geäußert. Sein Inhalt ist kurz folgender: 16) „Nordstetten erhält einen neuen Lehrer. Die Brust mit stolzen Plänen erfüllt, zieht der junge Adolf Lederer, [13] mit seinem „Ziegenhainer“ in der Hand, in den beim Abschiede alle Studiengenossen ihren Namen eingeritzt haben, in das Dorf ein. Angesichts seiner künftigen Wirkungsstätte schreibt er Worte in sein Tagebuch ein, die von seiner gehobenen, hoffnungsfrohen und siegesgewissen Stimmung ein beredtes Zeugnis ablegen: „O, könnt ich die Seelen dieser Menschen ganz in meine Gewalt bekommen, ich wollte sie frei machen von ihrem trägen Aberwitze, und sie kosten lassen die reinen Freuden des Geistes.“ Aus diesen Worten spricht eine beträchtliche Fülle geistigen Hochmuts: Was er mitbringt, ist alles gut und schön, reif, wert, in Taten umgesetzt zu werden. Was er vorfinden wird, wird alles rückständig, minderwertig, verbesserungsbedürftig sein. Es ist klar, daß bei einer solchen falschen Einstellung die Enttäuschungen ihm in der Zukunft nicht erspart bleiben können. Wenn er geglaubt hatte, in der Überschätzung seiner Kraft alles wirklich Minderwertige im ersten Ansturm über den Haufen werfen zu können, so hat er die Zähigkeit des Bauern und seine Liebe zum Althergebrachten unterschätzt. Der Lehrer geht nicht den Weg des siegenden Feldherrn, sondern des still schaffenden Gärtners. Zu dieser Auffassung muß sich auch der „Lauterbacher“ durchringen. Er krankt auch an dem typischen Fehler der Anfänger, seine grauen Theorien haben noch keine Korrektur durch das Leben erfahren. Das tritt am deutlichsten in seiner Stellungnahme zum Volksliede zutage. „Dem Volkslied, dem Spiegel des kindlich heiteren Volksgemütes, diesem elementaren Ausfluß alles dessen, was dem durch Überkultur unverdorbenen Volksgemüt in Weh und Leid, in Freude, in Übermut und Schalkhaftigkeit als ein Born von unvergänglicher Schönheit entquollen ist, steht der Wissensjüngling kalt gegenüber.“ „Wie kann ein Lied lustig sein, wenn gar kein Gedanke darin ist? Ist die Gedankenlosigkeit etwa Lustigkeit?“ –

Doch Lederer ist auch ein empfängliches Gemüt und beharrt nicht in dauerndem Eigensinn bei seiner einmal gefaßten Meinung. Er lernt allmählich die Menschen verstehen, ihren Eigenarten nachzugehen, begreift bald die Kunst, sie an der rechten Stelle zu packen, und erreicht, ohne wie früher vielfach zu verletzen, endlich sein Ziel, die Bauern geistig zu forden. Willkommene Hilfsmittel dazu sind Vorträge 17), Vorlesungen, Erklärung von Sprichwörtern, Einrichtung von Gesangs- und Leseabenden.

Nicht alle jungen Lehrer gehen so geläutert aus der Schule des Lebens hervor. Darum ist es besser, wenn der Lehrer und Erzieher eine gereifte Persönlichkeit, kein „unversuchter Mensch“ [14] ist. „Ich halte nichts für schädlicher, als wenn junge, geistig noch nicht ganz entwickelte Leute schon Unterricht geben, oder wenn sie in Gesellschaften Erwachsener kommen und sich von da gleichsam stereotype Urteile holen und ihr bißchen Wissen anwenden sollen. Jene wie diese gleichen dem Halme, der noch grün und saftig aus dem Boden gerissen und in die Scheune gebracht wird und endlich zu eßbarem Hausbrot zubereitet werden soll. . . Durch vorwitziges Vorgreifenwollen in dem stillen Entwicklungsgange der Natur wird gar nichts als jene anekelnde Halbheit erzeugt, und lebenslänglich trägt man den Stempel einer Frühgeburt.“ 18) Erziehen ist kein leichter Beruf. „Weinbauen und Kindererziehen ist sich gleich, man muß allezeit arbeiten und weiß nie sicher, was und wie man herbsten wird. Und bei jedem geringen Herbst tröstet man sich: nächstes Jahr wird es besser.“ 19) Coll. 231. „Die schwierigste Aufgabe des Erziehers besteht darin, daß jedes träumerische Selbstvergessen, jedes abgeschiedene in sich Leben und nun gar alles mit sich selbst zu tun haben, in ihm überwunden sein muß. Fortdauernd auf dem Anstand stehen, wobei man natürlich auch manches Wild laufen lassen muß, weil es nicht jagdbar, oder überhaupt nicht des Schusses wert; das eigene Leben immer nur oberflächlich behandeln und stets, oder doch wesentlich ein fremdes im Auge haben, dazu gehört eine in sich fertige, geschlossene und in Liebe opferfreudige Natur.“

Aus diesem Grunde äußert sich Auerbach einmal recht abfällig über die Gouvernantenerziehung. (Coll. 253.) „Ein gut Teil des Gouvernantenelends besteht darin, daß die Erzieherinnen noch zu viel mit sich zu tun haben und demgemäß auch von außen, von der Umgebung besondere Betrachtnahme heischen. In sich unreife Früchte, noch der Nahrungszufuhr vom Baume bedürftig, halten sie sich für reif und wollen andere nähren. Dazu kommt, daß der Abschluß des Lebens bei der Frau oft nur ein scheinbarer ist. Ein Mann, der den Entschluß gefaßt hat, ledig zu bleiben, erachtet denselben weit mehr unumstößlich als ein Mädchen.“

Den Höhepunkt der pädagogischen Darstellungen bilden entschieden die Stellen der Auerbachschen Dichtungen, in denen er Kindergestalten schildert, „aus deren Augen die Verheißung einer besseren Zukunft leuchtet.“ 20) Diese Zukunft wird durch des Dichters Kunst zur Gegenwart. Man muß geradezu die Genialität bewundern, mit der der Psychologe im Dichter bei der Charakterisierung der Kindergestalten die Herrschaft geführt hat. Es darf uns bei der scharfen Beobachtungsgabe, bei der bewunderungswürdigen Gestaltungskraft und Objektivität des Dichters nicht [15] wundern, wenn viele Kinder seiner Erzählung dieselben geistigen Züge tragen, wie unser Dichter. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes „Kinder seiner Muse“ . . . Unverwüstlicher Optimismus ist fast durchweg die hervorstechendste Eigenschaft seiner Kindergestalten 21). Das Kind mit seiner schnellen Hingabe an äußere Reize, seiner Flüchtigkeit und geringen Tiefe der Eindrücke, seinem sprunghaften Wechsel der Interessen und Vorstellungen bietet uns das typische Bild des Sanguinikers dar. In meisterhafter Weise zeichnet uns Auerbach diese Seiten der kindlichen Individualität in der Geschichte „Joseph im Schnee“. 22) Josef, der Held unserer Geschichte, ein uneheliches Kind, erwartet seinen Vater, den er gar nicht kennt. Sein ganzes Sinnen und Trachten konzentriert sich auf die Ankunft des Vaters. Mitten in der Nacht weckt er die Mutter mit der Frage: „Ist noch nicht Tag?“, und als der Tag erscheint, nimmt er sich vor, seinem Vater, von dem die Mutter gesagt hat, daß er heute kommen werde, entgegen zu eilen. Rasch entschlossen, ganz impulsiv, rennt er ins Dorf hinab, aber unterwegs wird sein Sinnen und Trachten, das bisher nur der Ankunft des Vaters galt, von der Umgebung vollständig in Anspruch genommen. Die Winterlandschaft, die ihm begegnenden Tiere, nehmen sein ganzes Interesse gefangen. Kein Gedanke, kein Wort mehr vom sehnlichst erwarteten Vater. Das psychische Leben des Kindes wird von den Eindrücken der Sinne schnell absorbiert. Rasch wechseln die Bewußtseinsinhalte des Kindes. Schnell lösen die einzelnen Vorstellungen, Interessen und Wünsche einander ab. „Ein Kind weiß kaum mehr, was es vor wenigen Minuten getan hat“, sagt daher der Psychologe Auerbach mit Recht im „Barfüssele“ und zeigt uns gerade in diesem Werke den schnellen Wechsel der Gefühle in der Kinderpsyche. Amrei und Dami verlieren kurz hintereinander beide Eltern durch den Tod. Aber beide wissen die ernste Bedeutung dieses Ereignisses nicht in seiner vollen Tragweite zu ermessen, sie verstehen noch nicht das große Rätsel des Todes. „Noch am Grabe waren die Kinder still und harmlos, ja sie waren fast heiter, wenn sie auch oft nach Vater und Mutter fragten.“ 23) In der folgenden Zeit kehren sie oft zum Elternhaus zurück, das verschlossen ist und das sie nun umschleichen. „Eines Tages verkündete Amrei mit Jubel ihrem Bruder, sie wisse jetzt, wo die Kuckucksuhr ihrer Eltern sei, der Kohlen Mathes habe sie gekauft. Und noch am Abend standen die Kinder draußen am Hause und warteten, bis der Kuckuck rief, dann lachten sie einander an. Und jeden Morgen gingen die Kinder nach dem elterlichen Hause, klopften an und spielten dort am [16] Weiher.“ 24) Und an einer anderen Stelle heißt es: „Die beiden Kinder wanderten wieder hinaus nach dem elterlichen Haus und saßen dort zusammengekauert auf der Türschwelle und redeten fast kein Wort. Wieder schienen sie zu ahnen, daß die Eltern doch nicht wiederkämen.“ 25) Doch kurz darauf klatscht eine Peitsche im Dorf. Man hörte das nachspritzende Pferdegetrappel im aufgeweichten Wege, und ein Wagen rollte vorbei. „Wirst sehen, der Vater und die Mutter kommen in einer Kutsche und holen uns!“ rief Dami. Fast erschütternd wirkt der Wechsel von banger Hoffnung und kindlicher, harmloser Heiterkeit und froher Zuversicht auf dem düsteren Grunde des tragischen Ereignisses. Doch Auerbach tröstet uns: „In einer Kindesseele verschwinden leicht die Spuren der gewaltigsten Eindrücke. Es lebt ganz in der Gegenwart, sein Leben ist ein Heute. Das ist eben Kindheit und Jugend.“ 26)

Aber andererseits ist gerade die Kindesseele befähigt, gewisse Eindrücke dauernd zu erhalten, wie ja in dem weichen Wachs das Siegel sich besser abdrückt als in dem erhärteten. „Jugendeindrücke sind das ewig Bestimmende in einem Menschen. Man könnte sagen, es bildet sich da ein geistiger Münzfuß aus, nach dem lebenslang gerechnet wird. Bei allen Ausgaben in fremden Landen übersetzte ich mir alles in die Kreuzer und Gulden meiner Heimat und Kindheit, und so wird es immer bleiben. Goethe wurde den Frankfurter und Schiller den Schwaben nie los, und so ein freier Geschichtsschreiber wie Schlosser bringt doch den Friesen und Theologen nicht aus sich heraus . . .“ 27)

Der hervorstechendste Charakterzug der Auerbachschen Kinder ist die Heiterkeit, ihr ganzes Wesen atmet Fröhlichkeit. Im „Nest an der Bahn“ läßt er die Frau Pfarrer erzählen, daß ihr ältester Sohn, der Student, der immer ein sehr eigenwilliger Knabe gewesen sei, eines Tages gar nicht zum Schlafen zu bringen gewesen wäre. Er hätte geweint und geschrien und die Umgebung fast in Verzweiflung gebracht. „Da kam die Frau Ketterer und sagte: „Ach was, so schläft ein Kind nicht ein, und so tut es ihm nicht gut. Erheitern muß man ein Kind! “ Sie nahm Rudolf auf den Schoß, und bald lachte er mit Tränen auf den Backen. Er schlief ein und lächelte noch im Schlafe.“ 28)

Einen großen Teil der Heiterkeit schöpft das Kind aus der Natur und vor allen Dingen aus dem Verkehr mit den Tieren. Wir haben oben schon gesehen, wie die Tiere in der Natur das ganze Sinnen und Trachten des kleinen Josephs in Anspruch nahmen, [17] und genau so wie er sind fast alle Kinder der Auerbachschen Erzählungen, warme Naturfreunde, ja, wir gelangen damit zu einer Grundansicht Auerbachs, daß die Liebe zum Tier gerade ein Charakteristikum des Dorfkindes sei. „Hier (im Kindesalter) ist nach der Naturseite hin der unmittelbare Zusammenhang mit Bäumen, Pflanzen und Tieren. Der noch unentwickelte Mensch fühlt sich ihnen ähnlich und verwandt, er lebt mit ihnen, Baum und Strauch sind seine Genossen, er gedeiht still wie sie. Besonders hingezogen fühlt er sich zu den Tieren, die ihm mit ihrem individuellen Leben näher stehen, er trägt seine eigenen Empfindungen auf sie über und dichtet ihnen wie der stummen Umgebung die Menschennatur an.“ 29) Ausdrücklich betont allerdings Auerbach an anderer Stelle, daß die Kinder, weil sie noch selber Natur sind, keine Freude an der Natur im ganzen haben, sondern daß es nur das einzelne Individuum ist, der Baum, die Pflanze, der Vogel, das es interessiert und daß es nichts Unpassenderes gäbe, als das Kind auf das Allgemeine hinweisen zu wollen. Die Liebe des Kindes zum Tier schildert Auerbach auch in „Ivo der Harjle“. Dort sagt er: 30) „Besondere Freude machte es dann Nazi, daß auch Ivo eine so innige Liebe zu den Tieren hatte; denn ganz alte, einsame Leute oder Kinder, die beide mit ihrer Liebe nicht recht wissen, wohin, wenden ihre Neigung den Tieren zu.“ Es macht Ivo großen Kummer, daß eine Sau nur dazu da sein soll, „gemetzget“ zu werden, die anderen Tiere kann man doch auch noch lebendig gebrauchen. Er läßt es nicht zu, daß der Metzger das Kalb mitnimmt, weil er fürchtet, daß die Mutter zu viel Herzleid hätte. Nachts erweckt ihn aus dem sonst so festen und sorglosen Schlaf der Jugend das Gebrüll der Allgäuer Kalbin (Bd. II, Seite 20/21), so daß er endlich auch seinen Vater weckt. Als auf der harten Wiese sich die Klauen von den Vorderfüßen ablösen, bereitet auch das ihm große Schmerzen. Selbst um das Seelenheil des Tieres ist Ivo besorgt, und er fragt Nazi eines Tages: „Kommen die Hund auch in den Himmel?“ Wie überhaupt der Wissenstrieb der Kinder ein unerschöpflicher ist, so daß das Kind mitunter sogar die Einrichtungen der Natur für verbesserungsbedürftig hält. Darum fragt er eines Tages den Vater: 31) „Warum hat denn unser Heiland die Bäume nicht viereckig gemacht, dann braucht man sie ja auch nicht zu behauen,“ und der verständige Vater antwortet in echt Auerbachschem Geiste: „Dummer Jung, da braucht man ja auch keine Zimmerleut' und hätte auch gar keine Späne.“ Den gleichen Gedanken äußert Auerbach: 32) „Wie fruchtbar wirkt es auf das Kind, wenn es aus natürlicher Wißbegierde [18] etwas fragt und man ihm darauf antworten kann; das geht ein, das wirkt tief nach! Der Hauptfehler unseres Schullebens besteht darin, daß man zu essen bekommt, wenn man gar nicht hungrig ist, da schmeckts nicht recht, gedeiht noch viel weniger. Die Hauptkunst der Pädagogik besteht im Hungrigmachen nach dieser und jener Erkenntnis. Hier ließe sich der Spruch anwenden: „Lasset die Kindlein zu mir kommen!“ Das Kommen, von selbst Wollen ist das Fruchtbare, nicht das Drängen, Antreiben und Führen.“

Treibende Kräfte in der kindlichen Seele sind recht häufig Sympathie und Achtung vor der Autorität. Das offenbart sich deutlich im Nachahmungstriebe des Kindes, der wiederum seinen Ursprung hat in dem dem Kinde angeborenen Tätigkeitstriebe, den man auswirken lassen muß, auch wenn das Kind im Übereifer einmal etwas zerstören sollte. „Nicht angeborene Teufelei waltet im Kinde und macht die zarten Händchen das sorglich Bereitete verderben; es ist der natürliche und gerechte Drang, etwas zu tun und zu schaffen.“ 33) Wie sehr die Sympathie das Tun des Kindes beeinflußt, erzählt Auerbach im „Barfüssele“. Amrei weinte, und plötzlich fing Dami an, mitzuweinen, ohne allerdings zu wissen, warum.“ 34)

Im Saale tanzten die Erwachsenen, die Kinder folgten ihrem Beispiele und drehten sich auf dem Vorplatze im Kreise herum. Ivo kopierte die Maurer und Zimmerleute bei der Arbeit. „Barhaupt und barfuß kletterte er, behend wie ein Eichhorn, auf dem Gebälk umher, bei jeder Hebung eines Balkens schrie er gleichfalls: „Holz her!“, stemmte sich an und schnaufte, als ob er das meiste dazu vollbringe.“ 35)

Geschwisterliebe und Kinderfreundschaft sind bei Auerbach nicht selten. Er erzählt uns darüber aus seinem eigenen Leben: 36) „Mein Abraham (Auerbachs Bruder) war einmal wild und unbändig, es kommt ein Besenbinder von Tummelsburg in die Stube. Meine Mutter sagt: „Nehmt den bösen Buben mit!“ – „Ich geh mit,“ sagt Abraham trotzig. Ich hing mich an ihn und ließ ihn nicht los, und nun konnte er später alles, was ich hatte, mir entlocken. Ich gab ihm sogar einmal im Schloßgarten meine Hosen, weil er die seinen zerrissen hatte, und ließ mich für ihn schlagen. Er durfte nur sagen: „Wenn du das nicht tust, geh ich nach Tummelsburg!“ – und ich gab und tat ihm alles.“

Ein leuchtendes Beispiel aufopfernder Bruderliebe ist Medard, 37) der arme Knecht Diethelms von Buchenberg, der sich aus Opferliebe zum jüngeren Bruder, um diesen zu retten, das Bein zerschmettern läßt. [19]

Als Gegenstück zeigt uns Auerbach in der Erzählung: „Die feindlichen Brüder –“, wohin tief erbitterter Bruderhaß führen kann. Heftige Feinde sind auch die beiden Brüder in „Erdmute“, der verschwenderische, leichtsinnige Cyprian und der sparsame Gottfried.

Einen seltsamen Ausdruck feinen Empfindens schon in der Kinderseele beobachtete der Dichter einst in Wien. 38) „Beim Nachhausegehen sah ich ein eigentümliches Bild. An der Ecke der Goldschmiedgasse unter der Gaslaterne saß ein Knabe von sieben bis neun Jahren mit einem großen Pack Zeitungen auf dem Schoß. Er rief seine Ware aber nicht aus, sondern las emsig, mit dem Finger auf die Linien deutend und die Worte mit eifrigen Lippen leise vor sich hinsprechend, die neueste Nummer des Blattes: „Der Radikale.“ Die Mutter kam und zankte den Jungen, daß er lese, statt zu verkaufen. Ich beruhigte sie dadurch, daß ich dem Knaben noch so spät einige abnahm. Sei es Instinkt, oder was war es? Der Knabe gab mir nicht das Blatt des Radikalen, in dem er bereits gelesen hatte, es mochte ihm schon gebraucht vorkommen, er reichte mir ein frisches.“

Auch die sittlichen Gefühle offenbaren sich früh in der Kindesseele. So sagt er einmal: „Groß ist der Sinn für Gerechtigkeit in einem Kinde, zumal in den ersten Jahren der Schulpflichtigkeit. Hast du als Lehrer einen Knaben ungerecht bestraft, so vergißt er das nicht leicht; alte Männer erzählen noch von Ungerechtigkeiten in der Schule. Ein begangenes Unrecht und eine dafür verbüßte Strafe vergißt man dagegen sehr schnell.“ 39)

So sehr Natürlichkeit in der Kindespsyche dem Dichter lobenswert erscheint, so sehr tadelt er es, wenn man vergißt, im Kinde das Kind zu sehen. „Weil in großen Städten die Eltern so vielfach in Gesellschaft und von sozialen Dingen beansprucht werden, müssen sie den Kindern vorzeitige Vergnügungen verschaffen, nur um sie zeitweilig gut unterzubringen.“ 40)

In weitem Schauen, mit dem Blicke des scharfsinnigen Psychologen und dem Herzen des fühlenden Dichters, ist Auerbach durch den Garten der Kindheit gewandelt. Was er dort erlebte und sah, das kristallisiert sich in seinen Kindergestalten und deren Erleben. Aber all den mannigfaltigen Schilderungen merken wir an: das ist nicht Phantasie, das ist wahrste Wirklichkeit, ist eigenes Erlebnis, das ist des Dichters Ich! Wie alle Dichtung Auerbachs, ist auch gerade die Schilderung der Kindheit ein Stück bester Heimatkunst. Sie erschließt uns Schätze von pädagogischer Weisheit und Kenntnis der Kindespsyche. Sie führt uns in die Heimat unserer Seele!

 

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6) Bettelheim. S. 126. 

7) Coll. 238. 

8) Coll. 232. 

9) Wölbe. S. 140. Man vergleiche mit vorstehenden Ideen Diesterwegs Erziehungsideal: „Selbsttätigkeit im Dienste des Wahren, Guten und Schönen!“ 

10) Wölbe S. 142. 

11) Briefe I. S. 87. 

12) O. Brahm, Deutsche Rundschau. Bd. 30. Seite 464. 

13) Das gleiche Problem, nachgewiesenermaßen durch Auerbach beeinflußt, behandeln Freytags „Die verlorene Handschrift“ und G. Kellers „Regine“ im „Sinngedicht“. 

14) Diese letzteren Drei sollen als sog. „Bildungsromane“ in einer besonderen Studie ausführlicher gewürdigt werden. 

15) Seine Unarten sind die A.'s selbst. Mit dem liebenswürdigen Humor des freien Geistes, der fähig ist, auch die eigenen Schwächen zu erkennen und über sich und seine Sonderbarkeiten selbst lächeln zu können, hat der Richter in ihm die Schwächen seines Wesens und nicht zum mindesten der erzieherischen Seite derselben persifliert.“ (Koeppen, S. 21.) 

16) Im Nachstehenden folge ich vorwiegend der Darstellung Koeppens. 

17) In seinen Briefen an J. A. äußert sich Auerbach einmal, daß er bei der Abfassung einzelner Artikel und Erzählungen daran gedacht habe, daß der Lehrer dem Lande als Vorleser und Erklärer die Gedanken volkstümlich gestalten solle. 

18) Briefe. I. S. 15. 

19) Coll. S. 91. 

20) Goldbaum in „Westerm. Monatsheften“, Bd. 51. 14. 

21) Näh. darüber siehe: M. O. Albert, Das Kind in A's. „Schwarzwälder Dorfgeschichten“. Allg. Dtsche. Lehrerztg. 1903. Nr. 25. 

22) Werke. Bd. VIII. 

23) Bd. VII. S. 8. 

24) Bd. VII. S. 10. 

25) Bd. VII. S 16. 

26) Coll. S. 92. 

27) Coll. S. 93. 

28) XIV. S. 135. 

29) Volk und Schrift. S. 345. 

30) Bd. II. S. 15. 

31) Bd. II. S. 14. 

32) Coll. S. 31. 

33) Schatzkästlein, S. 125. 

34) Werke. VII. 31. 

35) Werke. II. 6. 

36) Briefe. I. 191. 

37) Werke IV. 27. 

38) Tagebuch. S. 158. 

39) Coll. S. 56. 

40) Ebd. S. 57.