BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Siegfried Keßler

1883 - 1943

 

Berthold Auerbach als Erzieher

 

Text

 

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[20]

 

 

IV.

Erziehung zur Heimatliebe

 

„Ich habe große, schwere Pflichten gegen das Volk,

ich will suchen, ihnen zu genügen.“

(Briefe. I. 54.)

 

Im Jahre 1842 schrieb Berthold Auerbach folgenden Brief (Bettelheim, S. 128):

„Der Wohllöblichen J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart, erlaube ich mir, anmit einen Antrag in Betreff der Übernahme eines Verlagswerkes zu stellen, um dessen gütigst aufmerksame Berücksichtigung ich höflichst ersuche. Anliegend übersende ich Ihnen als Probe zwei Schwarzwälder Dorfgeschichten, von denen die eine in Lewalds „Europa“, die andere in Mundts „Freihafen“ abgedruckt war; ich habe außer den anliegenden noch zehn derartige Novellen verfaßt, die, innerhalb derselben Region 41) gehalten, das ganze häusliche, religiöse, politische und bürgerliche Leben der Bauern in bestimmten Gestaltungen zur Anschauung bringen sollen. Sie werden aus dem Anliegenden ermessen, inwiefern mir das gelungen sein mag, und ob ich imstande war, dieses neue Gebiet der vaterländischen Literatur urbar zu machen.“

Auerbach hat in diesem Briefe sein künstlerisches Programm umrissen. In bewußter Absicht hat er das Leben der Bauern dargestellt, um den Sinn der oft voreingenommenen Stadtbewohner durch die mustergültige und unaufdringlich idealisierte Darstellung ländlicher Verhältnisse auf das Bodenständige und Heimatprinzip zu lenken. Damit ist sehr bestimmt der Punkt bezeichnet, welcher Auerbach von seinem unmittelbaren Vorgänger, dem Schweizer Jeremias Gotthelf, 42) unterscheidet. Gotthelf hat einen engen, beschränkten Horizont, Auerbach einen weiten, der da erst eine Schranke findet, wo auch die Kultur seiner Zeit innehält. „Gotthelf sitzt in einem entlegenen Winkel, Auerbach steht mitten in der literarischen Entwicklung und beteiligt sich an ihr in Negation und Position.

„Genremaler sind sie beide, aber nur der Deutsche findet den Fortschritt zum historischen Genrebilde, wie der Schweizer lebenswahre, aber dennoch zeitlose Idyllen entwirft. Mit einem Worte: Auerbach steht auf der Höhe der Bildung seiner Epoche und verhilft, wollend oder unfreiwillig, ihren Ideen zum Ausdruck, [21] er ist (auch in der Dorfgeschichte) ein völlig moderner Dichter, und das erst gibt ihm volle Bedeutung und sichert ihm seine literarisch-historische Stellung.“ 43)

Wir wissen, daß Auerbach nicht der erste war, der diese Probleme behandelte, und wissen auch, daß alle von ihm erwähnten Programmpunkte nicht in jeder Erzählung zum Ausdruck kommen konnten. Sein Ziel war es, bald die eine oder andere dieser Aufgaben in den Kreis der Betrachtung zu ziehen, um so allmählich das gesamte Gebiet der vorgesteckten Probleme zu durcheilen. Wir finden diesen gleichen Vorgang bei allen Dorfnovellisten, und schon aus diesem Grunde bilden vereinzelte Erzeugnisse, wie Brentanos „Kasperl und Annerl“ (1817) und Franz Bertholds „Irrwisch Fritzen“ (1838), Immermanns „Oberhof“ (1839), die „Judenbuche“ der Annette v. Droste-Hülshoff (1842) nicht die Grundlage der Dorfgeschichten, und ebenso hat auch Friedrich Panzer Recht, wenn er sich in seiner Ausgabe des „Meier Helmbrecht“ (Halle 1902) dagegen wendet, daß man diese Dichtung, nur weil sie dörfliche Probleme und Personen behandelt, als Vorläufer der Dorfgeschichten anspreche: „Wer das tut, verkennt völlig den literarischen Charakter des Werkes. Wir verstehen doch unter „Dorfgeschichte“ eine idyllische Dichtung. Unser Gedicht aber ist eine, in ein episches Gewand gekleidete Satyre. Ebenso finden wir auch zahlreiche Episoden aus dem Dorfleben in Gottfried Kellers großem Roman „Der grüne Heinrich“, aber niemand wird deswegen auch dieses Werk als Dorfgeschichte oder Dorfroman bezeichnen wollen.“ (Roggen, S. 17.)

Auerbach selbst sagt über seine Aufgabe: „Die Hauptsache ist, daß diese Kunst mit einem Spinozaschen Ausdruck als libera necessitas zu bezeichnen ist, die Objekte sind nicht willkürliche oder rein ideale, zeit-, ort- oder volklose, diese Kunst ist national und lokal, das ist ihr Besonderes und ihr Großes, sie ist nicht abstrakter Luxus, sie ist der schöne Luxus des Gebrauchs. Diese Kunst ist Freude am Leben, und das soll eigentlich der innerste Trieb aller Kunst sein.“ 44) Aus dieser Erwägung heraus schildert er seine heimatlich-ländlichen Verhältnisse einmal, um das reine Volksleben als „ideales Korrektiv für ethische Abnormitäten“ zu benutzen, um ferner, wie oben dargestellt wurde, den Blick der Gebildeten auf das Volkstümliche zu lenken und schließlich, um das Volk selbst auf die höchste Stufe der Kulturmöglichkeit zu erheben.

Immer erscheint ihm echtes Volkstum und tiefinnerliche Heimatliebe als das Ideal, darum sagt er: 45) „Das Herz für das Volk! Es steht in Gefahr, verkehrt, verbittert zu werden. Wir haben redlich gearbeitet, den Begriffsvorrat der gebildeten Welt hinauszutragen [22] in die großen Massen. Und nun hat es den Anschein, als ob diese Bildung sich gegen allen Bestand der Sittlichkeit und Kultur wende. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es Aufgabe des öffentlichen Worts, in jeder Weise darzutun, wie auch im Ungebildeten und Besitzlosen die höheren Triebe der Psyche walten, die die Gleichheit der Menschen bedingen. Nun ist es fast soweit gekommen, daß man zu beweisen hätte, wie auch Gebildete und Besitzende von den sittlichen Mächten geleitet sind. Die gewissenlose Verführung will mit Brandreden einen verwüstenden Klassenhaß anfachen, alles Rechts- und Pflichtgefühl zerstören und nur die Leidenschaft anrufen. Da will Verdrossenheit, Mißmut, Verachtung die Seele des Menschenfreundes verbittern und bestimmen, die große Masse ihrem Schicksale, den Verführern und Schmeichlern zu überlassen. So wenig aber Undank eines einzelnen, so wenig auch darf die Verkehrtheit großer Massen dir dein tätiges Wohlwollen rauben. Der wilde Aufschuß der in die weitesten Kreise eingedrungenen Bildungsstoffe wird sich, freilich nach bitteren und harten Erfahrungen auf beiden Seiten, geregelt fruchtbar organisieren.“

Aber auch selbst da, wo Auerbach des Lebens Gipfelpunkte darstellt, wie etwa in seinem Roman „Auf der Höhe“ stimmt er das hohe Lied an von dem edlen Kerne des Volkes. Nicht die Personen des Hofes, der König, die Königin, der Adel sind uns ethische Vorbilder, sondern Walpurga, die Frau aus dem Volke, verkörpert edelstes Menschentum, und mit Bezug auf sie hat unser Dichter die oben erwähnten Worte vom „Korrektiv für ethische Abnormitäten“ gebraucht.

Auerbach weiß gar wohl, daß das Volk es nicht immer liebt, seine eigenen Zustände vorgeführt zu sehen, daß der Zug nach Außergewöhnlichem die Neugierde auf das Fremde und Ferne richtet, und daß es nichts Verkehrteres gibt, als wenn alle Stoffe nur wahr und treu aus dem Volksleben genommen sind. Der Grundsatz seines Lieblingsphilosophen Spinoza, man müsse die Handlungen der Menschen nicht beklagen, nicht belachen, nicht verabscheuen, sondern begreifen und auflösen, wie man eine mathematische Aufgabe löst, wurden Auerbach selbst Richtschnur. Darum hat er das Leben der Dörfler nach allen Richtungen hin beleuchtet, und es ist ihm gelungen, sein selbstgestecktes Ziel in vollstem Maße zu erreichen. „Seine Zeitbilder sind Geschichtsbilder geworden; patriarchalische Willkür, Franzosenzeit, neuwürttembergisches Schreiberregiment, josephinische und weniger preiswürdige Pfarrer, Bauerngestalten aller Arten und Abstufungen, Trotzköpfe und Selbsthelfer, Ganze und Halbe, Spitzbuben und Gerechte, eine Musterkarte alt- und neumodischer, christlicher und jüdischer Schulmeister, starke und weichmütige Familienmütter, Frauen als Erzieherinnen, als Vorsehung ganzer Geschlechter, [23] Bauernmädchen, der selbstlosesten und zartfühlendsten Liebesempfindungen fähig, dicht neben heißblütigen und leichtfertigen – eine solche Fülle schickte der Dichter in die Welt, mit dem Wunsche: „So mögen diese Gebilde, die ich hinaus sende ins Vaterland, aufgehen in dem Strom deutschen Lebens, als eine bescheidene Welle, den heimischen Bergen entsprungen.“ 46)

An die gleichen Kreise wie die „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ richtet sich auch das drei Jahre später erschienene Werk: „Schrift und Volk„, 47) in dem er, von einer Huldigung Hebels ausgehend, fast aphorismenartig seine Ansichten über Volksdichtung, Heimatliebe, die Bibel, das Reisen usw. äußert.

Wir finden darin Stellen, wie:

S. 112: „Für die Volksdichtung steht die Bibel hier namentlich als Muster da, die die tiefdeutigsten Tatsachen unbefangen hinstellt.“

S. 341: „Das Cynische wie das Lüderliche darf keinen breiten Raum haben in der Volksschrift, sie muß rein gehalten sein. Im Volke gilt noch die heilige Schrift und die Schrift als Heilige!“

S. 38: „Die größten Befreier und Erlöser der Menschheit mußten sich eine Weile von ihrer Volksgenossenschaft isolieren und auf sich allein zurückziehen. Die Überlieferung berichtet von ihrer zeitweisen Vereinsamung in der Wüste, wo sie sich in sich vertieften und mit Gott unterredeten.

S. 17: „Das ureigenste Gemütsleben eines Volkes prägt sich in Spruch und Lied, in Bräuchen und Sitten, sowie in der Sagenbildung aus.“

S. 18: „Wer nicht hinauskommt, kommt auch nicht heim.“

S. 22: „Wie für die Anschauung, so ist auch für die Erkenntnis die Ferne von Bedeutung. In der Nähe verwirren oft die Einzelheiten den Blick. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.“

Man muß zugeben, daß goldene pädagogische Weisheiten in den einzelnen Gedanken enthalten sind, dennoch müssen wir im Gesamturteil Bettelheim zustimmen, wenn er sagt: 48) „Das Buch ist weder eine Gelehrtenleistung, noch ein abgeschlossenes künstlerisches Programm. Das Einfachste wird durch weitwendige, verworrene Allgemeinheiten häufiger verfinstert als aufgehellt. Durch schöpferische Leistungen hat Auerbach für die Sache der Volksbildung vielfach so Vortreffliches, Mustergebendes geboten, daß er berufenen und unberufenen Jüngern durch lebendiges Beispiel mehr genützt hat, als er durch die gelungenste Kritik und Selbstkritik der Volksschriftstellerei hätte Gutes stiften können.“ [24]

Darum war es auch bedeutsamer, daß er im Jahre 1844 den „Gevattersmann 49) herausgab, der als Fortsetzung des Hebelschen „Rheinischen Hausfreund“ 50) gedacht war. Dieses Werk, sowie die in den Jahren 1858–1868 erschienenen „Volkskalender 51) sind für unsere Untersuchung von der größten Bedeutung, da gerade durch sie Auerbach seine Aufgabe, ein Erzieher des Volke zu werden, am glänzendsten gelöst hat. Denn kaum irgend ein anderes seiner Werke hat solche Verbreitung gefunden wie der „Gevattersmann“ und die „Volkskalender“, so daß sich der Dichter genötigt sah, die in den beiden Werken enthaltenen Erzählungen und Abhandlungen gesondert herauszugeben. 52)

Von altersher hat im weitverzweigten Gebiete der Literatur gerade der Kalender dazu gedient, neben der Unterhaltung und Kurzweil auch praktische Ratschläge und wertvolle Belehrung zu übermitteln. Das galt vor allen Dingen für die Zeiten, in denen die oben erwähnten Kalender zuerst erschienen. Damals war ihre kulturelle Bedeutung weit größer als in der Gegenwart. Denn seit alten Zeiten gehörten die Kalender zum unentbehrlichen Inventar des Hauses, ganz besonders aber auf dem Lande. Und da der Kalender fast immer, außer der Bibel oder einem religiösen Erbauungsbuche, die einzige geistige Nahrung des Bauern, und auch wohl des Durchschnittsbürgers bildete, war es ganz natürlich, daß man immer und immer wieder zum Kalender griff, und so war es weiter die natürlichste Folge, daß sich Inhalt und Tendenz fast unmerklich dem Gedächtnis der Leser einprägten und allmählich zu ihrem geistigen Eigentum wurden, daß Gedichte, Erzählungen, politische und naturwissenschaftliche Aufsätze, Bauernregeln und ähnliche Darbietungen des Kalenders den Lesern bald ebenso geläufig wurden, wie Bibelverse und Liederstrophen. Kamen zu den einzelnen Aufsätzen noch Illustrationen, unterstützten sich Dichter und Maler gegenseitig, so war der Erfolg ein noch größerer. Wir müssen es Auerbach zugestehen, daß er es meisterhaft verstand, nicht nur durch eigene Ausarbeitungen, sondern auch durch wertvolle Mitarbeiter auf den Gebieten der Literatur, Naturwissenschaft, Technik, Politik, wie auch der bildenden Kunst seine Kalender auf eine Höhe zu bringen, die weder vor ihm noch nach ihm erreicht worden ist. Unter seinen Mitarbeitern seien erwähnt: Gottfried Keller 53), Friedr. Gerstäcker 54), Moritz Hartmann 55). „Was [25] Auerbach an wissenschaftlichen und politischen Mitarbeitern und Wortführern um sich versammelte, war durchwegs erster Güte, Justus v. Liebig 56) beschenkte den deutschen Volkskalender mit einer klassischen Abhandlung über Nahrungsmittel, Max v. Weber 57) überraschte mit einer der ersten und größten seiner Meisterproben, „Eine Winternacht auf der Lokomotive“; Löwe-Calbe 58) sprach vortrefflich über deutsche Auswanderung, Andree 59) über deutsches Bier in Amerika, Hermann Kurz 60) hielt sich solcher Vormänner nicht unwert, Virchow 61) meldete sich zum Wort, Meister, wie Kaulbach, 62) Richter, 63) Menzel, 64) Ramberg, 65) Thumann, 66) unterstützten durch ihre künstlerisch wertvollen Illustrationen die Absichten des Dichters, auch durch die bildende Kunst vorbildlich und erzieherisch auf das Volk einzuwirken. Über die Aufgabe des Bilderschmucks äußert sich Auerbach selbst folgendermaßen (Kollaborator, S. 92): „Ein Bild über dem Bette des Kindes! Es läßt sich nicht sagen, wie der Blick beim ersten Augenaufschlag das erfaßte, und wie das still in der Seele fortlebt. . .“ (Schatzkästlein, S. 43.) „Für die Kinder aber ist es gewiß gut, wenn etwas Schönes und Hohes in seiner leibhaftigen Gestalt sie umgibt . . . Das helle Kinderauge empfängt eine tiefe Nahrung von dem, was es als schön und erhaben erschaut.“ (Kalender 1857.) „Jedenfalls ist es gut, den Sinn der Kinder von früh auf an die Anschauung des Schönen zu gewöhnen. Das wirkt zu Gutem und Erhebendem für das ganze Leben.“

Lange bevor Männer, wie Spanier 67), Lichtwark 68) u. a. ihre Stimme erhoben für die Kunst im Leben des Kindes, für die Kunstpädagogik und ihre Betätigung in der praktischen Erziehung und ihre sinngemäße Anwendung auf den Unterricht und die Lehr-und Lernmittel, um somit durch die Schule auf das Elternhaus wirken zu können, lange bevor dann auf den Kunsterziehungstagen 69) diese Forderungen in breiteren Kreisen vertreten wurden, [26] hatte Auerbach fast alle die dort geäußerten Gedanken bereits in die Tat umgesetzt gehabt.

Es widerstrebt ihm, bloße Unterhaltungslektüre zu schaffen, ja, er war von tüchtigem Haß gegen alles Platte und Frivole erfüllt. „Die Gefahr, dem Literatentum zu verfallen, schwebte ihm als ein um jeden Preis zu vermeidender Ruin vor.“ 70) „Ich kann nicht schreiben, was morgen als Käsepapier dient; ich will aus dem Tage die Ewigkeit schöpfen. Ein Journal ist ein Wirtshaus, die Gäste wollen gepfefferte Speisen, Frühgemüse. Ich koche sie nicht, weil ich sie für magenverderbend halte. Nun gut, so bleiben die Gäste weg. Ich aber bin kein Koch nach dem Gusto des Publikums, ich koche keine unreifen Kartoffeln.“ 71) Ihm schweben höhere Ideale vor, er will nicht ins Volk hinabsteigen, um sich mit ihm zu vermischen, er will es zu sich emporziehen. (Briefe I. 237.) „Ich habe dann die große Wirksamkeit, das Glück, das ausgedehnteste Publikum zu haben, und es allmählich auf den Standpunkt des freien Geistes zu heben.“ (Briefe, I. 249 ff.) „Es ist doch gut, daß ich das Blatt 72) habe; es muß und kann möglich sein, die rein sittliche Begeisterung einzuflößen, und wenn ich das erreiche, dann habe ich Großes erlebt und belebt.“

Die Auswandererbewegung, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einen gewaltigen Aufschwung nahm und zu einem wahren „Amerikafieber“ sich auswuchs, gibt Auerbach erneut Gelegenheit, seinen Landsleuten die Liebe zur väterlichen Heimat zu predigen. Die politische Auswirkung des Wiener Kongresses (1815) und die damit im Zusammenhang stehende Einführung des französischen Rechtes hatte Anlaß zu einer Zersplitterung des Bodens gegeben; Mißwuchs und Hungerernten, wie etwa im Jahre 1816/17 73) steigerten die sozialen Mißstände, die gerade in des Dichters süddeutscher Heimat besonders stark in Erscheinung traten, weil jede bedeutende Industrie damals noch fehlte und die bestehende Hausindustrie nicht ausreichte, die Wunden zu heilen. Es kam noch hinzu, daß der Anbau von Tabak, Hopfen, Öl und Kartoffeln sehr gering und besonders die Schuldenlast der Winzer (etwa 1/10 der Berufe) ins Unermeßliche gestiegen war. So konnte es geschehen, daß viele, die mit den bestehenden Zuständen nicht einverstanden waren, sehnsüchtig ins Land der Freiheit blickten. Wünsche wurden bald zur Tat, und mit Schmerzen mußten die für die Heimat Besorgten sehen, wie wertvolle Kräfte dem nach den napoleonischen Kriegen so notwendigen Aufbau des Vaterlandes entzogen wurden. Von heißer Liebe zur Heimat und zum Vaterlande bewogen, nimmt Auerbach daher in [27] seinen Dichtungen wiederholt Anlaß, seinen Landsleuten die Liebe zur heimatlichen Scholle zu predigen, indem er ihnen sagt, wie notwendig ihre Mitarbeit hier sei und ihnen an verschiedenen Beispielen zeigt, daß „dort drüben“ nicht alles Gold ist, was glänzt. In der Einleitung zu der Erzählung: „Der Viereckig“ oder „Die amerikanische Kiste“ faßt unser Dichter seine Ansichten folgendermaßen über Amerika und die Auswandererfrage zusammen: Es gibt heutigestags landauf und landab kein Haus mehr, in dem man nicht den Beweis von der Existenz Amerikas fände. Da ist ein Geschwister, dort ein Verwandter oder auch nur ein Bekannter in Amerika. Im Wirtshaus des entlegensten Dorfes schreibt mitten aus den Tabakswolken eine Zauberhand ihr Mene Tekel an die Wand; da legen zwei Hände sich brüderlich ineinander, da segelt ein buntgeflaggtes Schiff auf grüner See, und in flammendroten Buchstaben leuchtet die Botschaft: „Nach Amerika!“ Verschwunden ist alles Selbstvergessen; der Geist wird mit Zaubergewalt hinausgetragen auf das unabsehbare Wellenwogen der Überlegungen und Beratungen. Freilich ist bei dieser Schrift keine Zauberei, sie ist nur ein Meisterstück der Buchdruckerkunst, und die zahllosen Auswanderungsexpeditionen: die Bruderhand, das treue Geleit, die sichere Obhut, die glückliche Zukunft, und wie sie sich alle nennen, sorgen dafür, daß man allerorten eingedenk sein muß, wie weit wir es in der Kunst Gutenbergs gebracht haben. Ist der Blick aber auch nur flüchtig von diesen Zeichen gefesselt worden, so muß auch das Wort ihm folgen, und Menschen, die ihr Leben lang kein anderes Fahrzeug gesehen, als das Floß, das eilig an der Wiese vorbeischwimmt, darauf sie mähen, sprechen von gekupferten Dreimastern, vom Leben in Vorkajüte und Zwischendeck. Menschen, die es daheim nicht zu einer Handbreit Erde bringen können, sprechen von Kongreßland und den tausend Morgen, die sich leicht erwerben lassen. Amerika schickte uns einst die Kartoffel, die, in der Alten Welt heimisch und zum Bedürfnis geworden, in hunderterlei Art bereitet und genossen wird; man kann fast sagen, das Gespräch von Amerika ist auch eine Art von Kartoffel: das wird gesotten und gebraten, in hunderterlei Art bereitet und sogar zum berauschenden Tranke hergerichtet!“. . . . .

Spät in der Nacht noch wird mit der Frau überlegt, ob man nicht noch auswandern solle, dahin, wo man nicht mehr zinse und steuere; jedes kleine Ungemach hebt alsbald ganz hinweg von dem gewonnten Lebensboden, und noch am Morgen bei der Arbeit ist es oft, als ob die Luft von selbst das Wort: "Amerika“ spreche; mit Sichel und Sense oder der Pfluggabel in der Hand, schaut der Baueroft aus, als müßte plötzlich jemand kommen, der ihn abrufe nach dem gelobten Lande Amerika. Glückselig, wer sich bald wieder findet und sich tapfer wehrt auf dem Boden, darauf Geburt und Geschick ihn gestellt haben . . . Wandert über Berg [28] und Tal, und der Lastträger, der sich euch anschließt, stemmt seinen Stock unter die Last auf seinem Rücken, und ausschnaufend erzählt er euch, wie man in Amerika für seine harte Arbeit doch auch etwas vor sich bringe, und wie er gern dahin zöge, wenn er nur die Überfahrtskosten erobern könne. Dort, in jener Hütte, wohnt ein altes Paar, einsam und verlassen; es hat seine Kinder, die Freude und Stütze seines Alters, übers Meer geschickt, damit es doch mindestens ihnen wohlergehe, und ist bereit, den Rest seiner Tage einsam und freudlos zu verbringen, wenn nicht die Kinder es zu sich rufen. In einem anderen Hause klagt eine arme Verwandte ihre bittere Not, und ein noch nicht fünfjähriger Bub sagt: „Sei zufrieden, Base, wenn ich groß bin, gehe ich nach Amerika und schicke dir einen Sack voll Geld!“ Der Dienstbote spart seinen Lohn zusammen und stellt seine Rahmenschuhe, die er zu Georgi oder Michaeli bekommt, weg, und über alles zunächst Vorliegende hinaus schweift der Gedanke nach Amerika. Das ganze diesseitige Leben wird zu einem mühseligen unruhigen Samstag, hinter dem der lichte amerikanische Sonntag verheißungsvoll liegt. Tretet in die Hallen des öffentlichen Gerichtes, und der ewige Endreim heißt: „Nach Amerika!“ Der Brandstifter wollte mit den Versicherungsgeldern – nach Amerika; der Dieb mit dem Erlös seines Diebstahls – nach Amerika; die Kindesmörderin wollte mit ihrem Verführer – nach Amerika; und da er sie verließ, tötete sie ihr Kind, um sich allein zu retten – nach Amerika; ja, selbst der verurteilte Verbrecher tröstet sich, daß er im Zuchthaus soviel erübrigen könne, um auszuwandern oder gar, daß man ihm die Hälfte seiner Strafzeit schenke, und ihn fortschicke – nach Amerika.“ 74)

Auerbach, der das gelobte Land der Auswanderer nicht aus eigener Anschauung kannte, der wohl den Plan faßte, selbst einmal das Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“ aufzusuchen, diesen Plan aber niemals ausführte, konnte sich im allgemeinen nicht von den Anschauungen des Dorfbewohners freimachen. Es kommt ferner hinzu, daß das Motiv der Auswanderung für den Dichter eine bequeme und rasche Lösung der entstandenen Konflikte bedeutet. Aus diesem Grunde hat auch Auerbach es recht häufig, wie so mancher andere Dichter, angewandt: „Nach Amerika wandert der „Tolpatsch“, nachdem Marannele seine Liebe verschmäht hat. Er macht dort sein Glück in einem von ihm urbar gemachten und so getauften neuen Nordstetten am Ohio, bleibt ein Kernschwab in der neuen Welt, hat ohne Spur der früheren Schüchternheit in freien Volksversammlungen zu rechter Stunde das rechte Mundwerk, tut als Offizier seine Bürgerpflicht, – ein Sinnbild aller tüchtigen Deutschen, die der deutschen Heimat in der Fremde Treue halten, zugleich der erste wirksamste [29] Quartiermeister Auerbachs in der neuen Welt. Später sendet er seinen Sohn auf Brautwerbung ins Heimatdorf. Auch Luzian – Luzifer zieht ins Land der Gedankenfreiheit und der Toleranz; doch erfahren wir nicht, wie es ihm drüben ergeht. Von Cyprian dem Vater der Erdmute, hören wir nach seiner Auswanderung ebenfalls nichts mehr. Andere kehren als wohlhabende, angesehene Männer in die Heimat zurück, so der Seb, der Mann von Zillge in der Erzählung: „Ein eigen Haus“, und der Oberbaurat Severin, der Sohn von Brosi und Moni.“ 75)

Auch Eugen Falkenberg, der Held des Romans: „Neues Leben“ weiß keinen anderen Ausweg aus den Wirren seines Daseins als die Flucht nach Amerika. Indessen trifft er im Walde den ebenfalls europamüden Schulmeister Eugen Baumann, dem er die Mittel gibt, auszuwandern, indessen der Graf als Baumanns „Tauschmann“ in Europa bleibt, „sein Nest in die Mündung einer Kanone baut.“ 76) Der „Forstmeister“ zieht im wilden Schmerz über den Verlust seiner Frau ins Land des Dollars. Meister Bieland probt die Marktfähigkeit seiner nach dem Grundsatze „Billig und schlecht“ hergestellten Schleuderware auf der Ausstellung in Philadelphia. Auch der Ben-Zion, der Held der von Auerbach geplanten jüdischen Dorfgeschichte, weiß nur die eine Rettung, um sich dem aufgezwungenen Rabbinerberufe zu entziehen: Flucht nach Amerika.

Wir sehen aber wiederum, daß Auerbach in allen Fällen, wo er die Auswanderung nach Amerika als Lösung der Konflikte benutzt, mehr oder minder deutlich den Auswanderern es zur Pflicht macht, auch im Auslande als Vorkämpfer deutschen Wesens zu wirken. Eine Mustergestalt in diesem Sinne ist der obenerwähnte „Tolpatsch“.

Daß aber Amerika nicht immer nur Glück mit sich bringt, zeigt der Dichter an den gescheiterten Existenzen, von denen manche als Bettler oder gar als Verbrecher und Vagabunden zurückkehren, wie der „Ohlreit“ (all right) im „Tolpatsch aus Amerika“, der in der Heimat als Selbstmörder endete. Wie Freiligrath fragt auch Auerbach alle Auswanderer: „O sprecht, warum zogt ihr von dannen?“ Und vielleicht haben die eindringlichen Mahnungen des Dichters, verbunden mit der Darstellung der gescheiterten Amerikawanderer, dazu beigetragen, den Strom der Auswanderung zu dämmen und den Sinn auf die Gesundung der Verhältnisse im eigenen Vaterlande zu richten. Weil man von Amerika unendlich viel erhoffte und aus dem Wunderlande ein Fabelreich machte, weil man ferner an den Mißerfolgen sah, daß amerikanisches Wohlleben in gewissem Sinne ein Aberglaube war, so daß man dem Lande den Spitznamen „Jammerika„ gab, hat mancher mit der Lachenbäuerin unseres Dichters schließlich ausgerufen: „Ich glaub nicht an Amerika!“

 

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41) A. meint damit seinen Heimatsort Nordstetten  

42) Jeremias Gotthelf. 1797–1854. 

43) O. Brahm. Deutsche Rundschau. Bd. 30. S. 465. 

44) Bettelheim. S. 371  

45) Collaborator. S. 137. 

46) Bettelheiim. S. 165.  

47) Schrift und Volk. Grundzüge der volkstümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik Hebels. Leipzig 1846.  

48) Bettelheim. S 195 ff. 

49) Der Gevattersmann. 

50) J. P. Hebel. (1760/1826.) Rhein. Hausfreund. 1808/1815.  

51) Volkskalender. 1858/1868. 

52) Schatzkästlein des Gevattersmanns. Cotta. 1875. III. Volksbücher. Cotta. 1880. 

53) Gottfried Keller. 1819/1890. Von ihm erschienen in den Volkskalendern zuerst das „Fähnlein der sieben Aufrechten“ und der „Wahltag“. 

54) F. Gerstäcker. 1816/1872. Reise- und Romanschriftsteller.  

55) M. Hartmann. 1821/1872. Dichter und Novellist 

56) J. v. Liebig. Chemiker. 1803–1873. 

57) M. v. Weber, Sohn des Komponisten Carl Maria v. W., Eisenbahntechniker. 1822–1881 

58) W. Löwe-Calbe, Politiker. 1814–1886. 

59) R. A. Andree, Geograph und Ethnograph. 1835. 

60) Herm. Kurz, Dichter und Literaturforscher. 1813–1873. 

61) Rud. Virchow. Patholog, Anthropolog und Politiker. 1821–1900. 

62) W. v. Kaulbach, Historienmaler. 1804–1874. 

63) L. Richter, Maler. 1803–1884. 

64) A. v. Menzel. 1815–1905. 

65) A. Freiherr v. Ramberg, Historienmaler 1819–1875. 

66) P. Thumann, Genremaler und Illustrator. 1834–1908. 

67) Spanier, Künstler. Bilderschmuck für Schulen. Hb. 1897. 

68) Lichtwark, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken. Dresden, 1898. 

69) Kunsterziehungstage: Dresden. 28./29. 9. 1901. Weimar 9–11. X. 1903. Hamburg, 13.–15. X. 1905. 

70) E. Schmidt, Charakteristiken. S. 426. 

71) Briefe. I. 274. 

72) Gemeint sind die „Deutsche Blätter“, ein Beiblatt der „Gartenlaube“.  

73) In diesem Jahre wanderten etwa 20 000 Deutsche nach Amerika. 

74) Werke. VI. 184 ff. 

75) Roggen. S. 56. 

76) Bettelheim. S. 234. 

77) Bettelheim. S. 35. 

78) Bettelheim. S. 62. Kausler sagte von Auerbach: „Bei Spinoza ist Substanz Denken und Ausdehnung; bei Auerbach Synagogenmelodie und Volkslied.“ (Bettelheim. 404.).