BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Siegfried Keßler

1883 - 1943

 

Berthold Auerbach als Erzieher

 

Text

 

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[30]

 

 

V.

Erziehung zur Vaterlandsliebe

 

Auerbach hat einmal den Wunsch ausgesprochen, daß seine Dichtungen aufgehen möchten im Strome des deutschen Lebens, wobei er sich bewußt war, daß in den gewaltig dahinfließenden Wellen sein Liederborn, den heimischen Bergen entsprungen, aus den beiden Quellen: Deutschtum und Judentum entstanden war. Gar oft zeigt sich dieser Dualismus in des Dichters Wesensart. Aus seiner Jugendzeit erzählt er einmal folgendes: 77) „Es war im Herbst 1824, wir feierten den Versöhnungstag, jenen Festtag, an dem jeglicher Genuß von Speisen und Getränken verboten war . . . Ich stand also in der Synagoge bei Bruder Mayer und sprach Gebete mit, aus denen ich keinen Sinn herausfinden konnte . . . Mir war so bang und schwül unter den Männern in ihren Totenkleidern. Ich verließ darum die Synagoge. Draußen war ein heller Herbsttag, und wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, rannte ich . . . hinab bis zur „Au“, den Wiesen am Neckar. Dort sah ich ein Mädchen im roten Rock Gras mähen, und sie sang dabei ein helles Lied. Ich stand wie bezaubert. Der Gegensatz der Welt zog mir voll durch den Sinn. Plötzlich, wie einer Sünde inne werdend, kehrte ich um und ging in die Synagoge zurück. Dort stand mein Vater bereits vor dem Omed (Vorbeterpult) und betete das Schlußgebet. Die ergreifende Melodie des Gesanges: „Öffne uns das Tor, o Gott, zur Zeit des Torschlusses . . .“ usw. durchschauerte mir das Herz, und dazwischen wollte die Melodie des rotrockigen Mädchens drunten vor der Wiese mittönen.“ In harmonischem Wechsel klingen in unserm Dichter die uralten Klänge der hebräischen Melodien mit den wundersamen Tönen des deutschen Volksliedes zu reiner Harmonie. In den handschriftlichen Erinnerungen an Ludwig Uhland erzählt uns Auerbach folgendes: 78) „Ich hatte Uhland auch zwei Proben aus zwei ganz verschiedenen Dramen geschickt, und seine Kritik war durchaus nicht mild. Ich habe von diesen beiden Studentenversuchen keine Zeile mehr; ja, meine Erinnerung beschränkt sich wesentlich nur auf die Titel und einzelnen Volksgesänge, die mir besonders wert waren. Das eine Stück war nicht mehr und nicht weniger als ein „Hermann, der Cherusker“, das andere hieß „Deborah“ und behandelte [31] die Geschichte der Prophetin aus der Bibel. 79) Als ich meine arg zerzausten Bruchstücke von Uhland wieder abholte, äußerte er – dessen erinnere ich mich – seine Verwunderung über die so ganz verschiedenen Stoffe, die mich beschäftigten und die doch wieder etwas Ähnliches hatten. Ich wußte nicht, was ich sagen wollte. Ich meine, daß ich jetzt eine Erklärung dafür geben könnte.“ Auch wir können eine Erklärung dafür finden in dem oben bezeichneten Dualismus unseres Dichters. Einmal besingt er Hermann, den Befreier Deutschlands vom Sklavenjoche der Römer, und fast zu gleicher Zeit stimmt er ein Loblied an auf jene heldenmütige Frau des Alten Testaments, die in einer Zeit, als es an mutigen Männern gebrach, selbst hinauszog, um ihrem unterdrückten Volke zur Retterin zu werden, und endlich finden wir gar oft in seinen Briefen an J. Auerbach Vergleiche, die die Duplizität seiner Empfindungen dartun. So begeistert ihn eine religiöse Feier, der er in Düsseldorf zum Gedächtnis Schadows beiwohnte, zu dem Ausruf: 80) „Kann eine profane, rein geistige Feier etwas derartiges produzieren und an die Stelle setzen? Das „dies irae“ und die „Keduscha“: Heilig, Heilig, hat eine Macht, ein aus der Welt Hinausschleudern, das nur durch Anlehnen an Positives möglich scheint. Da ist der archimedische Punkt gegeben. „So tönen beide Stimmen, die mütterliche des Judentums und die väterliche des Deutschtums, gar mächtig in ihm. Und man kann ihr Klingen und Jubeln kaum bezeichnender denken als unter dem Bilde einer Symphonie, in der zwar zu verschiedenen Zeiten einzelne Stimmen tonangebend voranschreiten, dann aber zurücktretend anderen Platz machen und endlich doch alle insgesamt zu einem großen Strome harmonisch sich vereinen.

Bei unserem Dichter merken wir bald, daß am stärksten in ihm die Liebe zum Deutschtum sich betätigt. So ist es verständlich, daß in seinen Werken in späterer Zeit die jüdischen Gestalten nur eine untergeordnete Rolle spielen, von wenigen Ausnahmen („Spinoza“ und „Dichter und Kaufmann“) abgesehen. Und auch so nur können wir es verstehen, wenn er einmal seinem [32] Erstaunen darüber Ausdruck verleiht, daß sein Freund Jakob sich in die Mysterien des Talmuds vertiefen will, den er doch in seinem künftigen Berufe kennen muß. 81) „Ist es wahr, lieber Jakob, daß du dich ganz in den jüdischen Koran, Talmud genannt, vergräbst? He! Ist es wahr? Es ist hier weder Ort noch Zeit, die Vorzüge und Fehler des Talmuds auseinanderzusetzen, aber soviel ist gewiß, daß er nicht wert ist, daß im 19. Jahrhundert ein Jüngling von meines Jakobs Talenten sich lediglich damit beschäftige.“

Auerbachs politisches Ideal ist ein einiges Groß-Deutschland. Unermüdlich tritt er in seinen Schriften dafür ein, das deutsche Volk für diese Idee zu erziehen. Dabei ist es ihm selbstverständlich, daß auch Österreich dereinst zu diesem Groß-Deutschland gehören muß. Seine Vorliebe für Österreich läßt sich allerdings erklären, wenn wir ins Auge fassen, wie die Verhältnisse in des Dichters Heimat in seiner Jugendzeit liegen. „Als der Dichter am 28. Februar 1812 zur Welt kam, war Nordstetten erst vor wenigen Jahren, durch den Preßburger Frieden 1805, württembergisch geworden. Bis dahin war nach E. M. Arndts Kennerurteil „Hier in diesem Schwabien und Allemannien“ recht eigentlich das alte Reich . . . die Oberhoheit war im letzten Jahrtausend ununterbrochen beim kaiserlichen Erzhaus geblieben. Ein vorderösterreichischer Landvogt saß in Rottenburg am Neckar, das Obergericht zu Freiburg im Breisgau, der Kaiser in Wien. In manchem Bauernhaus berühmte man sich noch in Auerbachs Knabentagen der Großväter, die unter Prinz Eugen gegen die Türken gefochten hatten. Das Andenken Maria Theresias war unvergessen, und als wahrer Volksheiliger lebte im Gedächtnis aller Kaiser Joseph fort, der, ein Menschenalter vor Auerbachs Geburt, die Bauern vom Joch der Leibeigenschaft, die Juden vom schimpflichsten Druck des Leibzolls befreit hatte. So mancher Nordstetter war als Handwerker oder wie der Vater des Dichters, als Lieferant, „in Wien d'rein g'west“ und wußte so viel davon zu erzählen, daß Berthold Auerbach 1848 bei seinem ersten Besuche der alten Kaiserstadt zu Mute war, als ob er in eine heimatliche Stadt käme; sein erster Weg galt dort dem Denkmal Kaiser Josephs: „Das ist das edelste Heiligtum Wiens“, heißt es in seinem damaligen Tagebuche. 82) Und als im Jahre 1848 die Wiener Menge beim Einrücken der slavischen Truppen begeistert jubelt, fragt Auerbach sich, ob Wien nicht am Ende ein slavisches Straßburg, Österreich ein slavisches Elsaß, und die von vielen slavischen Soldaten gebrauchte, wahrheitsgemäße Redewendung: „Nix deitsch!“ nicht am Ende von gefährlicher Vorbedeutung für die künftige Gestaltung der österreichischen Dinge werden könnte. Die Schicksale des Vaterlandes greifen, nach seinem eigenen Worte, ihm tief ins [33] Herz wie ein durchaus persönliches Schicksal. Einheit des Deutschtums: Dieser Gedanke beseelt den jungen Tübinger Studenten, der seine überquellende Freiheitsliebe, wie so viele seiner Zeitgenossen, mit einer Festungshaft büßen muß. Dennoch sagt er mit innerer, edelster Begeisterung: 83) „Cotta schrieb mir, daß er nichts drucke, was nicht groß-deutsch ist, und ich halte groß-deutsch für nichtdeutsch, denn es wird nicht möglich sein, ohne eine große, unabsehbare Revolution Deutsch-Österreich mit einem festgeschlossenen Deutschen Reiche zu vereinigen. Politisch patriotisch aber mußte der Kalender sein, weil jeder gesunde Mensch jetzt dahin neigen muß, und nicht speziell gar nichts Ästhetisches interessierte, das nicht auf vaterländische Gemeinsamkeit abzielt. Der Gedanke der deutschen Einheit ist dem alten Burschenschaften immer wie ein Hifthorn, bei dessen Ton er wie der Hirte im Lied immer wieder durch den Strom schwimmt, hinüber!“

Selbst eine Festansprache bei einem Bundesschießen gibt ihm die erwünschte Gelegenheit, seinem Lieblingsgedanken Ausdruck zu verleihen: 84) „Ich sprach zuerst, daß man so kurz sollte reden können, wie man schießt, ein Klang – ein Treff, dann, daß Deutsch einsilbig ist und daß diejenigen, die sich Süddeutsche und Norddeutsche nennen, eine Silbe streichen müßten und zwar die letzte, oder wollten sie diese behalten – – und sie können nicht anders – müssen sie die erste fallen lassen.“

Fast unmerkbar gesellt sich zu der Mahnung, ein einiges Deutschland zu bilden, schon an dieser Stelle der Hinweis auf die Vormachtstellung Preußens.

„Wie oft auch den behaglichen Süddeutschen ein „anschnauziges Preußentum“ verletzte, er war immer und schon frühzeitig von dem Führerberufe Preußens ganz durchdrungen. Niemals hat er unter den Schattenseiten die stramme, festigende Kraft des Berolinismus verkannt.“ 85) Darum auch antwortet er im Jahre 1862 dem Prinzen Wilhelm von Baden auf seine Frage, warum er nach Berlin gezogen sei: „Weil ich es für die Hauptstadt Deutschlands vordatiere!“

Im Kalender von 1860 läßt er einen alten Turner aus Süddeutschland folgendes schreiben: 86) „Nur ein geeintes Deutschland kann mächtig sein . . . Der Herzog war in Baden-Baden, wo eben jetzt beim Besuche des französischen Kaisers die deutschen Fürsten sich versammelten . . . Die Tatsache, daß sich die deutschen Fürsten um den Prinzregenten sammelten, hat unwiderleglich festgestellt, wo der Schwerpunkt Deutschlands ist . . . Es hat sich gezeigt, [33] daß Deutschland in Preußen seinen Ort und Halt gewinnen muß, ja, tatsächlich bereits gewonnen hat. Es gibt viele vaterländisch Gesinnte, die da glauben, erst durch einen Krieg werde ein geeinigtes Vaterland erstehen; es mag sein, aber im Herzen wird es bestehen durch lebendige Heranbildung eines gesunden Körpers und eines gesunden Geistes . . . Unsere Zeit und unser deutsches Vaterland kann uns vor allem noch Schöneres geben, als die olympischen Feste waren, denn uns ist der vielstimmige Männergesang gegeben, der tausend Stimmen bindet zu einem Ton. Das kannten die Griechen nicht.“

Und am Schillertag des Jahres 1864 ruft er aus: 87)

„Das Höchste und das Edelste, das Schöne,

Die Gaben alle sind von seiner Hand.

Sie flocht auch eines Tags ein heil'ges Band,

Daß Eintracht unser ganzes Volk versöhne . . .

Wann wird der größte Jubeltag uns tagen?

Wann werden Volk und Land für alle Zeit

Das heil'ge Kleid der deutschen Eintracht tragen?“

Neugierig und zugleich vorwurfsvoll fragt er: 88) „Woher kommt es, daß die verschiedenen deutschen Stämme oft so feindselig und schadenfroh, oder wenigstens neckisch und eingebildet gegeneinander sind? Wie muß es im Vaterlande aussehen, wenn jeder Bürger mit gerechtem Hochgefühl soll sagen können: „Ich bin ein Deutscher!“

Und wenn er die buntscheckige Landkarte des damaligen Deutschland betrachtet, dann hat er Recht, wenn er sagt: 89) „Wer aus der Vogelschau die deutsche Menschheit betrachten könnte, würde Gruppen sehen, immer nur nach einzelnen Punkten gerichtet, nirgends eigentlich nach einem festen gemeinsamen Mittelpunkte.“

Darum begrüßt er auch vorahnend den Ausbruch des Krieges 1870: 90) „Übrigens betrachte ich jetzt, über die Greuel hinüberschauend, diesen Krieg als eine nationale Notwendigkeit, und es ist als ein Glück anzusehen, daß Recht, Ehre, Sittlichkeit so allein auf unserer Seite. Nach diesem Kriege ist eine Mainlinie nur noch ein Mythos aus alter Zeit. Die Männer aus dem Norden und aus dem Süden, die Schulter an Schulter gekämpft, können im Friedensschluß nicht mehr getrennt bleiben. Blut ist ein gewaltiger Kitt! Jetzt gewinnen wir die deutsche Einheit, und wir dürfen uns glücklich preisen, daß wir das noch erleben, so traurig es auch ist, daß ein Kampf auf Leben und Tod vorausgehen mußte . . . Ich glaube, daß in diesem Kriege, und gewiß nach ihm, die schwarz-rot-goldene [35] Fahne flattern und preußisch nur noch eine Provinzialbezeichnung sein wird.“ 91)

Sein unverwüstlicher Optimismus, der hervorstechendste Charakterzug unseres Dichters, läßt ihn prophetisch ahnen, was erst in unseren Tagen greifbare Wirklichkeit wurde. Darum durfte er schon in den Märztagen deutschen Ringens ausrufen: 92) „O du unverwüstliches deutsches Herz! Du wirst wie Arion dein Lied hinwegtragen über Sturmesgebraus, bis das Ufer des Friedens wieder erreicht ist!“ Und frohgemut singen darum die deutschen Soldaten im Elsaß: 93)

„Horch auf, sie ist nun kommen

die langersehnte Zeit,

wir haben nun ein Deutschland,

ein einig starkes Deutschland,

vorbei ist Zank und Streit!“

Sogar mit feinem Humor, der eindringlicher auf die große Masse wirkt, als eine ernste, an die Predigt erinnernde Mahnung, weiß er seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Im „Briefe eines schwäbischen Bäckergesellen aus Berlin“ schreibt er: 94) „Man sieht hier viele Leut' auf der Straß', die haben ein schwarz und weißes Blech an ihrem Hut gerad' neben die Hutschnur geheftet. Ich hab' anfangs gemeint, das seien Polizeileut'; es ist aber nicht so, sie tragen die preußische Kokarde. Das zeigt an, daß sie noch keine Zuchthausstrafe gehabt haben, denn wer das gehabt hat, darf sie nicht mehr tragen. Nun möchte ich wissen, was dabei zu berühmen ist? Bei uns hat ein Zuchthäusler kein landständisches Wahlrecht mehr, und – es gibt Länder, wo man das von Geburt an nicht hat. Es müßte herrlich aussehen, wenn alle Deutschen aus den verschiedenen Ländern Kokarden am Hut tragen täten, da wäre jeder ein lebendiger Grenzpfahl.“

Trotz der humorvollen Behandlung dieser ihm so wichtigen Lebensfrage des deutschen Vaterlandes weiß er, daß es nicht allein der auf Kleinlichkeiten gerichtete Sinn des deutschen Mannes ist, der die Einheit hindert. Ja, er spricht es unverhohlen aus, daß das Hinzögern die Gefahr in sich trägt, allmählich die Begeisterung zu dämpfen und alle auf die Einheit hinzielenden Pläne zunichte zu machen. „Die deutschen Fahnen im Zuge wurden immer mit Jubel begrüßt; sie sind das Postulat des Volksbewußtseins, aber das ewige Postulieren macht uns überdrüssig und gibt dem Volke eine ungesunde Reizbarkeit!“ 95) Und an anderer Stelle äußert er sich: 96) „Ich mußte lange auf dem Bahnhof den ankommenden [36] Zug erwarten. Solches Warten erzeugt das Gefühl der Heimatlosigkeit. Man ist nicht da und nicht dort. Es fiel mir dabei ein, wie lange das deutsche Volk warten mußte auf den großen Zug der Geschichte, der es zu seiner Einheit heimbrachte. Es ist fast zu verwundern, daß dieses böse Warten seine Seele nicht schädigte.“

Wer aber sein großes deutsches Vaterland mit ganzem Herzen liebt, wie der Dichter, der muß all das abweisen, was nicht deutsch ist, und vor allen Dingen die Bestrebungen bekämpfen, die die ausländischen Erzeugnisse dem heimischen vorziehen. Darum mahnt er den deutschen Bürger in der kleinen Abhandlung: „Vom Gewerbsfleiße“: 97) „Mit manchen Gewerben will es in unserm deutschen Vaterlande nicht recht fort; besonders wollen große Einrichtungen, Fabriken, nicht immer recht gedeihen. Warum? Daran ist nicht bloß schuld, daß uns Engländer und Franzosen mit Dingen den Markt überführen, die wir selber ebenso gut haben und machen können, . . . sondern daran bist auch du selber schuld. Du kaufst viel lieber ein Rasiermesser, ein Nadelbüchschen oder eine Sense, weil das, wie der Kaufmann versichert, gestern aus Paris oder aus London angekommen ist.“ Dächtest du dabei weiter, so würdest du sagen: „Ich will aber deutsches.&#ldquo; Und ein wenig verärgert ruft er aus: „Es ist schon anderweitig bemerkt worden, daß die Fremdsüchtelei ein trauriger Charakterzug in unserm Vaterlande ist, denn bei keiner anderen Nation gilt man für vornehmer, wenn man ausländisch ist.“ 98)

Ausland. ist für unsern Dichter das Gebiet, wo nicht deutsche Sprache und deutscher Geist herrschen. Darum bedeuten ihm politische oder geographische Grenzen keine trennenden Schranken, und daher ist ihm auch das Elsaß., obwohl in französischer Gewalt, dennoch deutsches Land. Mehrmals vor dem Kriege 1870 war Auerbach im Elsaß gewesen. Voll Jubel ruft er aus: 99) „In Straßburg! Da bin ich nun, als wäre ich in einer Welt, die ich geschaffen, und doch ists eine andere, so doppellebig ist mirs. Ich muß mich fassen . . . Straßburg! Mir wars, als ich die Leute auf dem Wege hierher das so offen sagen hörte, als redeten sie alle von meinem Geheimnis, und sie sagen das so offen, und der Straßburger Dialekt hat für mich was so Anheimelndes. Ich bin gestern nach meiner Ankunft den ganzen Morgen herumgelaufen, ich wollte zuerst allein mir alles ansehen, von niemand bedeutet und berufen. Ich fand mich sehr leicht zurecht und war doch erst einmal einen Tag hier gewesen. Wunderbar ist mir's, daß Goethe und auch Herder hier sein konnten, ohne mit einem Wort der jammervollen Schmach zu gedenken, daß das am [37] hellen Tage gestohlenes Land ist! Mir zittert das Herz wenn ich die Leute auf der Straße französisch reden höre, und ich habe auch schon bemerkt, daß die Leute gar nicht so freundlich als beim stummen Gruß sind, wenn ich nachher deutsch nach einer Straße frage.“

Aber auch für dieses Verhalten der Elsäßer, von denen er weiß daß sie im Grunde gute Deutsche sind, und daß sie nichts sehnlicher erwarten, als eines Tages wieder dem Vaterlande angegliedert zu werden, weiß er eine Erklärung zu finden, „Die Elsässer kommen sich geradezu degradiert vor, daß sie wieder Deutsche werden müssen. Wer aber ist schuld, daß diese Vorstellung sich festsetzen konnte? Wir Deutsche! Nicht nur, daß wir fast zwei Jahrhunderte die Elsässer in fremder Gewalt ließen, und unser kläglich Staatswesen ihnen als Gegenstand des Spottes erschien, fast noch verderblicher wirkte, daß bei uns in Deutschland alles, was französisch war, als fein, elegant und unbestritten maßgebend angesehen wurde.“

In den langen Jahren der Verfremdung war den Elsässern ihr eigen Selbst entfremdet worden. Sie konnten das Wesen derer nicht erkennen, die mit den Waffen in der Hand und mit der Bruderliebe im Herzen ihnen nahten. Sie hatten sich denen angelobt, die sie aus dem Vaterhause geraubt und kannten nun ihre Angehörigen nicht mehr.“ 100)

Das schmerzt den Dichter ebensosehr wie der Gedanke, welch ein schreiendes Unrecht die Eroberung des deutschen Elsaß durch Frankreich bedeutete. Das alles aber will der Dichter nicht allein mit sich herumtragen. Und wie Walther v. d. Vogelweide einstmals die Welt zum Zeugen seines Jubels anrief, so will unser Dichter seinen Schmerz, der auch der Schmerz des Vaterlandes ist, der ganzen Welt verkünden. Darum reift in ihm der Plan, den „Raub Straßburgs„ in einer geschichtlichen Erzählung zu behandeln.

„Von Kind auf war ihm das Elsaß vertraut. Die Nordstetter Maurer und Schreiner übersommerten im nahen, trotz der französischen Herrschaft als deutsches Bauernland angesehenen Elsaß, wo sie gute Arbeitsgelegenheit fanden. 1844 besuchte der Dichter, wie schon erwähnt, Straßburg, und 1860/61 trieb er historische Studien an Ort und Stelle über den von Friedrich Christoph Schlosser in seinen Heidelberger Vorlesungen als Verbrechen verdammten diplomatischen und militärischen Feldzug Richelieus und Ludwigs XIV. gegen das Reichsland. Die deutschgesinnten Dichter und Gelehrten von Straßburg, Hirtz, Jung u. a. waren ihm behilflich im Nachweis von Quellenschriften; er selbst hatte sich schon eine Reihe von Fabeln und Motiven ausgedacht. Das [38] Münster sollte im Mittelpunkt stehen. Ein geheimnisvoller Türmer und dessen Tochter mit den aus allen Gauen Deutschlands zuwandernden Steinmetzen, die vom Protestantismus abfallenden katholischen Adeligen, die im größten Maße getriebenen Bestechungen, frei ersonnene und welthistorische Persönlichkeiten (Ludwig XIV., Louvois, Kardinal Fürstenberg) sollten in dem Werk „Zu Straßburg auf der Schanz“ oder „Der Raub Straßburgs“ bedeutender hervortreten.“ 101)

Trotz langwieriger Vorarbeiten und Entwürfe ist das Werk nicht zur Ausführung gelangt. Wir müssen das bedauern, denn sicherlich wäre der vollendete Roman ein neues Beweisstück geworden in der Kette der Tatsachen, die uns zeigen, in welcher Weise Auerbach auch in der Elsaßfrage ein begeisterter Vorkämpfer für wahre Vaterlandsliebe und echtes Deutschtum gewesen ist.

 

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77) Bettelheim. S. 35. 

78) Bettelheim. S. 62. Kausler sagte von Auerbach: „Bei Spinoza ist Substanz Denken und Ausdehnung; bei Auerbach Synagogenmelodie und Volkslied.“ (Bettelheim. 404.). 

79) In den Briefen an J. Auerbach I. 12 und I. 18 finden wir außer dem „Wechselgesang“ beim Begräbnis eines vom Feinde ermordeten Mädchens „aus dem unvollendeten Drama: „Deborah“ noch den Schluß eines Gedichtes auf Hermann, den „Vater der Deutschen“, der folgendermaßen lautet:

Armin, Armin, schau herab!

Sieh uns hier verbunden.

Bis ans kühle Modergrab,

Bis zu Todesstunden. –

Daß uns neu durchdring das Streben,

Nie zu wanken für und für,

Und daß unser ganzes Leben

Heilig sei, Germania, dir! 

80) Briefe. I. 228. 

81) Briefe. I. 9. 

82) Bettelheim. S. 3 ff. 

83) Briefe. I. S. 120. 

84) Ebd. I. S. 158. 

85) Erich Schmidt. S. 432. 

86) Volkskalender. 1860. 

87) Volkskalender. 1864. S. XXIII.  

88) Schatzkästlein. S. 116. 

89) Wieder unser S. 4.  

90) Briefe. II. S. 41. 

91) Vgl. dazu vor allem den Roman „Wanfried“, in dem sich viele polit. Bekenntnisse Auerbachs finden. 

92)Tagebuch. S. 48. 

93) Was will der Franzos'? S. 80. 

94) Schatzkästlein. S. 79. 

95) Briefe. I. 189. 

96) Coll. S. 9. 

97) Schatzkästlein. S. 59. 

98) Schrift und Volk. S. 221. 

99) Briefe. I. 172. 173. 

100) Wieder unser. S. 174. 

101) Werke. I. 56.