BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Maurice Renard

Der Doktor Lerne. Ein Schauerroman

 

Übersetzt von Heinrich Lautensack

 

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V

Heiß und kalt.

 

Der schläft, der hungert nicht ... Ich schlief bis zum andern Morgen durch.

Gleichwohl ruhte ich noch nie so elend. Die Erschütterungen eines solchen Dauerfernrennens hatten mir Lenden und Kreuz bitter heimgesucht, und lange Zeit holperte ich immer noch Weg um Weg lang und irrte und verirrte mich in gespenstischen Windungen. Dann kamen Träume voll Wunderlichkeiten und Aufsehens. Brocéliande hub wie ein shakespearischer Wald zu marschieren an; und in diesem Wald von Bäumen gingen zwei immer Arm in Arm; eine weiße Birke mit gleißenden Lanzenblicken sprach auf deutsch mit mir, und ich konnte sie kaum verstehen, weil viel Blumen sangen, allerlei Pflanzengetier dringlich kläffte und die großen Bäume von Zeit zu Zeit aufbrüllten.

Da ich erwachte, erinnerte ich mich all dieses Lärmens so deutlich wie ein Phonograph ... fürchterlich ... und ich wünschte, ich hätte das Treibhaus nicht so sehr ergründet. Ein minder eilig, ein besonneneres Studium seines Inhalts wär gewiß erbaulicher ausgefallen. Ich verfluchte meine Hast und Gier von gestern. – Aber was versuch ich nicht, es noch gutzumachen? Vielleicht ist's immer noch nicht zu spät? ...

Hände auf dem Rücken, Zigarette im Mund und von ungefähr – recht wie ein Bummler ging ich am Gewächshaus hin – zugeschlossen nach allen Regeln.

Ich hatte also die einzige Gelegenheit, da ich mich hätte vergewissern können, verpfuscht, ja, ja, ich fühlte es, die einzige! Gott, ich Feigling! Ich Feigling!

Um nicht auffällig zu werden, verließ ich das verbotene Gebiet – kurzweg – und ging der Allee nach, auf die grauen Häuser los.

Da kam mir bald mein Onkel daher. - Sicher, er hatte mich abgepaßt. – Und er spielte sich auf wie ein Bruder Lustig. Wie's lachte, gemahnte sein unfrisches Gesicht sogar ein wenig an alle Jugend von ehdem. Seine Leutseligkeit ermunterte mich: Mein Schlich war unbemerkt geblieben.

«Nun, mein Neffchen?» tat er fast vertraulich. «Nun bist du wohl, was gilt die Wette, meiner Meinung? Es ist keine fröhliche Gegend hier!... Du wirst deine sentimentalen Promenaden in dieser Kasserolle bald satt kriegen!»

«Oh, Onkel! Ich habe dieses Fonval nie so sehr als Anblick als wie einen hochehrwürdigen Freund – wenn Sie so wollen, wie einen erlauchten Ahnen geliebt. Hier geht Familie um – Familie. Sie wissen es doch, auf diesem Rasen und in diesem Astwerk hab ich oft gespielt, das alles ist wie ein Großvater, der mich auf seinen Knien reiten und ausschlagen ließ, ein wenig ... – wenn ich eine Schmeichelei wagen darf – ein wenig wie Sie, Onkel ....»

«Ja, ja ...» murmelte Lerne und wich mir mit Worten aus. «Trotzdem wirst du sehr schnell genug davon bekommen.»

«Ein Irrtum. Sehen Sie, dieser Fonvaler Park, der ist mein irdisches Paradies!»

«Wie du sagst! Genau so!» versicherte er mich und lachte; «auf ein Haar – sogar bis auf den verbotenen Apfelbaum. Du stehst zu jeder Minute hier unter dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis und darfst nicht daran rühren .... Eine gefährliche Sache. An deiner Stelle würde ich lieber ab und zu mit deiner Maschine ausfahren! Gott, wenn Adam doch so eine Maschine besessen hätte!...»

«Aber, Onkel, da ist doch das Labyrinth ....»

«Nun also!» schrie der Professor lustig. «Da werde ich dich eben begleiten und dir den Führer machen! Übrigens bin ich sehr neugierig zu sehen, wie so eine gehorcht, so eine ... so eine von den ... so eine ....»

«So ein Automobil, mein lieber Onkel.»

«Ja: Automobil.» – Und sein plumpdeutscher Akzent hing dem von Haus aus wenig schnellfüßigen Wort eine Weitläufigkeit an, daß es etwas von der Unverrückbarkeit einer Kathedrale bekam ....

Und wir strebten der Remise zu. – Unstreitig machte mein Onkel gute Miene zum bösen Spiel. Und war sich über mein Eindringen hier irgendwie einig geworden. Nichtsdestoweniger ärgerte mich all seine frohe Laune. Meine indiskreten Pläne schienen mir weniger gerechtfertigt. Vielleicht hätte ich sie in diesen Augenblicken sogar ganz aufgegeben, wenn mich nicht mein Verlangen nach Emma zum Bösen und zur Auflehnung gegen seine despotische Kerkermeisterart getrieben hätte. Und dann, war er denn aufrichtig? War es denn nicht nur, daß er sanft daran rührte, daß ich geschworen hatte und bei meinem Eid bleiben sollte, wenn er mir jetzt, als wir zur improvisierten Garage kamen, sagte:

«Nicolas, du – ich hab viel nachgedacht. Ich glaube entschieden, daß du uns in Zukunft sehr nützlich werden könntest, und ich wünsche, dich viel näher kennenzulernen. Da du ja ein paar Tage hier wohnen bleiben willst, können wir oft miteinander plaudern. Über Vormittag arbeite ich wenig, wir können da immer Spaziergänge machen, zu Fuß oder in deinem Wagen, und so viel bereden. Nur ... vergiß deine Versprechen nicht!»

Ich nickte. «Nach allem», dachte ich mir, «hat es wirklich das Aussehen, als ob er eines Tages die unbekannte Lösung, die er anstrebt, der Öffentlichkeit preisgeben wollte. Es könnte doch sein, daß die gerecht wäre, wenn es auch die Wege, die zu ihr führen, nicht sind! Zweifelsohne sind nur sie die, die er bis zum Resultat verheimlichen will: er rechnet auf den Eklat des Ergebnisses, der muß dann alle Barbarei rechtfertigen und für straflos erklären ...; oder der Zweck verrät die Mittel überhaupt nicht, und sie bleiben für immer unbekannt. Andernteils, würde Lerne je wahr eine Konkurrenz befürchten? Warum nicht?»

So überlegte ich hin und her und füllte das Reservoir meines guten Wagens mit einer Kanne Benzin auf, die mich ein gnädiger Zufall hatte in meinem Wagenkasten finden lassen.

Lerne stieg auf und saß neben mir. Und wies mir am steilen Engpaß hin einen wahrhaft genial versteckten Durchweg. Erst wunderte ich mich, wie mein Onkel mir nur diese Abkürzung verraten konnte, aber – wohlerwogen – unterrichtete er mich so nicht über die Art und Weise, wie ich mich davonmachen sollte? Und war das nicht eben das, was er aus ganzem Herzen wünschte?

Dieser gute, gute Onkel! Was für ein einsiedlerisches und aufsaugendes Leben mußte er geführt haben, daß er ein so rührendes Unwissen von einem Automobil nährte: ganz wie ein Gelehrter von einer Wissenschaft, die nicht sein Fach ist. Mein Physiologe war herzlich schlecht in der Mechanik beschlagen. Er hatte kaum eine Ahnung von den Prinzipien dieses gelehrigen, lenksamen, verschlossenen und geschwinden Vehikels, das ihn so sehr begeisterte.

Am Waldsaum:

«Bitte, laß uns halten,» sagte er. «Du sollst mir diese Maschine explizieren; sie ist wunderbar. Ich pflege auf meinen Spaziergängen nur bis hierher und nicht weiter zu gehen. Ich bin ein alter Trottel! Du kannst, wenn du willst, nachher weiter hinaus ....»

Ich begann ihm die Maschine vorzuführen und bemerkte dabei, daß meine Hupe nur leicht beschädigt und im Handumdrehen zu reparieren wäre. Zwei Schrauben und ein Endchen Draht gaben ihr ihre ganze betäubende Macht zurück. Lerne geriet in ein kindliches Vergnügen dabei. Dann setzte ich mein Kolleg fort, und seine Aufmerksamkeit wuchs fast von Wort zu Wort.

Die Sache verdiente ja in der Tat, mit Interesse angehört zu werden. Wenn in den letzten drei Jahren sich die Motoren in ihrer elementaren Struktur und in ihren hauptsächlichen Organen wenig geändert hatten, war die Ausrüstung um so mehr vervollkommnet worden und das aufgewendete Material um so ingeniöser ausgewählt. So hatte man zum Bau meines Wagens, der die lakonischste Form aufweist, nicht ein Fäserchen Holz gebraucht. Mein luxuriöser und präziser Achtzigpferdiger bestand ganz und gar aus Gußeisen, Stahl, Nickel, Bronze und Aluminium.

Was indes an der 234-XY, wenn man recht überlegte, das höchste Staunen hervorrufen mußte, das war, meiner Meinung, jener Grad von Vervollkommnung, den die Ingenieure derart von Stufe zu Stufe errungen haben, daß man ihn von einem Tag auf den andern unmöglich entstehen sehen konnte: den Automatismus.

Der erste «Wagen ohne Pferd»: was für ein Sündenregister von Kühlern, Pumpen, Zylindern, Hähnen, Hebeln, Zündern, Spulen, Ketten, Scheiben und Wellen bedrückte den in seinem Gewissen ... ein ungeheuerlicher Steckbrief, dem er nicht entlaufen konnte ...! Von Generation zu Generation der Automobile aber ging man reuiger in sich und besserte sich. Und von den unaufhörlichen und vielfachen Handlangerdiensten, die der Mensch dazu tun mußte, fiel einer nach dem andern fort. Heute, nun alle Organe automatisch geworden sind, regelt der Mechanismus den Mechanismus. Der Chauffeur ist nur mehr ein Lotse. Und ist sein Fahrzeug einmal in Aktion, ist's aus sich selber unablässig eifrig. Sobald du's erweckt hast, wird's erst auf dein Kommando wieder ruhn. Kurz, das moderne Automobil hat, wie ich zu Lerne bemerkte, Eigenschaften, als ob's mit einem Rückenmark ausgestattet wäre: Instinkt und Reflexe. Spontane Bewegungen entstehen neben den willkürlichen, die die Intelligenz des Führers vollbringt, so daß dieser sozusagen zum Gehirn des Vehikels wird. Die Intelligenz wirkt gewollte Manöver durch die Metallnerven und Stahlmuskeln ...

– Übrigens, fügte mein Onkel hinzu, ist die Ähnlichkeit zwischen diesem Wagen und einem Wirbeltier frappant!

Hier gelangte Lerne ganz wieder auf sein Gebiet. Ich hörte sehr aufmerksam hin:

– Da sind also Nerven- und Muskelsysteme, das Getriebe, die Transmissionen und das Kraftzentrum. Aber, Nicolas, was ist denn das Chassis, wenn es nicht das Skelett ist? ... Benzinblut pulst als Lebenssaft in diesen kupfernen Arterien! ... Der Vergaser faucht, das ist die Lunge. Statt daß sich Blut mit Luft verbindet, mischt sich hier Luft mit Dämpfen des Benzins, da haben wir's ja! ... Die Haube ist der Brustkasten, worin das Leben im Takte pulsiert... Unsere Gelenke rühren sich im Gliedwasser, so wie diese Zahnräder im Öl ... Das Ganze belebt die Magnetzündung, tausendmal in der Minute sendet der kleine Dynamo immer im richtigen Fünfzigstel einer Sekunde durch die Kabel, die unseren Nerven gleichen, den Zündfunken in die Zylinder und entfesselt die explosive Kraft des Gases, die dem Motor seine furchtbare Kraft verleiht; ist nicht der Magnet das Herz der Maschine, die nur lebt, solange ihr Herz arbeitet, und sofort stirbt, sobald es zu arbeiten aufhört? Ist der Magnet sehr empfindlich, oder arbeitet er wie das Herz unverdrossen und störungslos, lieber Neffe? ...

– Gott, verehrter Onkel, der Magnet ist so wie das Herz, er funktioniert bei guter Pflege jahraus jahrein und verursacht keine Anstände, übrigens ist er leicht auszuwechseln, wenn man einen Reservemagnet mit hat, was aber die meisten eben wegen seiner Zuverlässigkeit nicht haben, wenn sie nicht gerade Rennwagen fahren. Ich dachte bei diesen Worten an den in meinem Wagen sorgfältig verstauten Reservemagnet, der, genau eingepaßt, im Notfalle in einer Minute einzubauen war ...

– Unter der Schutzwehr der Haut sind Reservoire, Magenräume, die gefüllt werden und sich leeren ... Da hast du, so phosphoreszierend wie bei Katzen, aber noch ohne Licht, die Augen: die Leuchtfeuer ... Eine Stimme: die Hupe ... Hier einen Auspuff, den ich nicht weiter vergleichen will, um dich nicht rot zu machen, Nicolas ... Kurz, es fehlt deinem Wagen nichts als das Gehirn, aber diese Stelle versiehst dann du mit dem deinigen und wirst so zu einem großen, tauben, blinden, fühllosen und sterilen Ungeheuer, ohne Geschmack- und ohne Geruchsinn ...

– Ein wahres Museum von Gebrechen! warf ich lachend ein.

– Hm! machte Lerne dagegen. Übrigens ist das Automobil von glücklicherem Fleische als wir ... Denk an jenes Wasser, das es kühlt: welch ein Arzneimittel gegen Fieber!... Und was ein solcher Körper ausdauert, wenn man ihn weise leitet! Denn er ist grenzenlos gefügig ... man kann ihn jederzeit heil machen; hast du ihm nicht soeben Stimme und Gesang zurückgegeben? Du könntest ihm ebensoleicht ein Auge neu einsetzen! ...

Der Professor geriet in Glut:

–Ein mächtiger, ein furchtbarer Leib! schrie er. Aber ein Leib, der sich beliebig erneuern läßt! Eine Rüstung, die einen über alles Hoffen stark macht, ein Küraß, der alle Kraft und Geschwindigkeit verhundertfacht! Ah, da! Ihr da drinnen! Ihr seid genausoviel als die Marsmenschen von Wells in ihren geschliffenen Zylindern! Ihr seid das Gehirn eines künstlichen und wahnwitzigen Monstrums!

– Alle Maschinen sind so, lieber Onkel!

– Nein. Keine ist's ähnlich vollkommen. Kein Tier, wohlverstanden, kommt gegen diese an feiner Form auf. Das Automobil ist der gründlichste Automat, der erbaut wurde. Er ist feiner als die feinste Uhrwerkpuppe von Maëlzel oder Vaucanson, er ist der menschlichste Android: denn alle andern bergen unter der menschenähnlichsten Hülle einen Bratspießdrehorganismus, der an Anatomie weit unter einer Weinbergschnecke steht. Während hier ...

Er trat ein paar Schritt zurück und warf gerührte Blicke auf meinen Wagen und rief: «Das herrliche Geschöpf! ... Und wie der Mensch doch so groß ist!»

«Jawohl», sagte ich mir, «eine andere Schönheit wohnt im Schaffen als in deinem verderblichen Zusammenflicken von uraltem Fleisch und unvordenklichem Holz! Aber es ist nur gut, daß du es einräumst ...!»

Obgleich es Zeit gewesen wäre, umzukehren, trieb ich nach Grey- l'Abbaye an, um noch mehr Benzin zu holen, und wiewohl doch Lerne durchaus Gewohnheitsmensch war, hatte er sich so sehr in das Automobil verliebt, daß er seine althergebrachte Promenadengrenze überschritt und mich dahin begleitete.

Dann fuhren wir nach Fonval zurück.

Mein Onkel beugte sich bald mit dem ganzen Fanatismus eines Neubekehrten weit vor und auskultierte die Motorhaube, bald sezierte er einen der Schmierhähne. Und befragte mich unablässig über dies und das bis zu den kleinsten Details meines Wagens und eignete sich alles mit einer unglaublichen Sicherheit an.

– Du, Nicolas, willst du die Hupe singen lassen, willst du? ... Jetzt fahr langsamer ... halt auf ... hol's wieder ein ... schneller, schneller! ... Genug! Bremse ... rückwärts jetzt ... Halt! ... Kolossal ist das!

Er lachte. Sein Gesicht hellte sich auf und wurde schöner. Wer uns so gesehen hätte, der würde uns für zwei ausgezeichnete Freunde gehalten haben. Vielleicht auch waren wir es jetzt ... Und ich sah voraus, ich könnte es mit Hilfe meiner «Maschine» noch dahin bringen, daß mir Lerne eines Tages vertrauliche Mitteilungen machen würde.

Er behielt seine Lustigkeit bis zu unserer Ankunft im Schloß. Nicht einmal die Nähe der geheimnisvollen Ateliers vermochte sie herabzumindern. Und erst im Speisesaal verschwand sie. In dem Augenblick, als Emma eintrat, verfinsterte sich Lerne. Und mit diesem Lächeln war der ganze Gemahl der Tante Lidivina ausgelöscht, und ein alter zänkischer Gelehrter saß zwischen seinen beiden Tischgenossen. Da fühlte ich, wie wenig ihm an der Seite dieser Frau all seine zukünftigen glücklichen Funde waren und daß er nur Reichtum und Ruhm erwerben wollte, um sich das reizende Mädchen sicherer zu bewahren.

Gewiß, gewiß liebte er sie, so sehr, so sehr als ich sie liebte: als wie man hungrig nach etwas ist und durstig, mit einem Heißhunger der Epidermis und einem Verschmachten der Haut. Er war nur etwas mehr Gourmet, und ich hatte um viel mehr Appetit ... das war der Unterschied.

Seien wir doch einmal offen und ehrlich, Menschenkinder! Elvira, Beatrice, ihr idealen Geliebten, ihr wart zuerst nur begehrliches Futter. Ehe man euch in Versen feiert, wird man euch ohne Literatur begehren, so – was soll ich gleisnerische Metaphern suchen? – so wie ein Gericht Linsen, so wie einen Trunk frischen Wassers ... aber man fand für euch Farben und Töne, weil ihr's verstanden habt, eine sehr verehrte Freundin zu werden, und von da an liebte man euch zärtlich – mit jener vollkommenen Zärtlichkeit, die unser unfreiwilliges Meisterwerk ist, unsere köstliche langsame Retusche aus der Zeugung. Gewiß, Lerne hat recht, der Mensch ist groß! Aber seine Liebe tut mehr dazu als seine Mechanik. Seine Liebe ist eine wundersam gefüllte Blume, die köstliche Zucht all unserer Gärten, künstlichste Kunst, von einem weise differenzierten Arom.

Aber ach! Lerne und ich, wir wußten von himmlischer Liebe nichts und atmeten nie ihren Duft ... sondern sogen den jenes andern, kurzlebigen, rauhen und ärmlichen Kelches, der nur die Fortpflanzung der Geschlechter will und blüht, um Frucht zu werden. Wir waren von ihm betäubt, von diesem zwingenden, vergifteten, von Geilheit und Eifersucht schweren Hauch, der ein «Geschäft» der Natur ist und eher Haß auf alle denn Liebe zu einer zeitigt ...

Barbara kam und ging und servierte die Mahlzeit auf gottsjämmerliche Art. Wir schwiegen. Ich vermied den reizenden Anblick, den Emma bot, so sehr als möglich, denn ich war überzeugt, daß meine Blicke Küsse gewesen wären, die meinen Onkel nicht im geringsten Zweifel gelassen hätten ...

Sie schien durchaus froh in diesem Augenblick, und unbekümmert und frei, wie sie dasaß – die Hände am Hals, die Ellenbogen auf dem Tisch, die blanken Arme weit aus den kurzen Ärmeln – und durch die Scheiben auf die Weide hinaussah, darauf die Tiere brüllten.

Wie gerne hätte ich es zum allerwenigsten meiner Sehrgeliebten gleichgetan: eine solche ferne und sentimentale Begegnung mit ihr da draußen hätte, so meinte ich, mein wilderes Sehnen nach viel anderer und viel intimerer Vereinigung mit ihr ein wenig gestillt. Aber die Weide war von meinem Platz aus leider nicht zu sehen, und meine Augen liefen müßig um und ersahen wider Willen fort und fort die Weiße ihrer blanken Arme und das wohlige Gedränge um ihr Mieder ... das höher als sonst ging.

Höher als sonst.

Als ich mir diese ihre Bewegtheit zu meinen Gunsten auslegte, hob Lerne feindselig und stumm die Tafel auf. Ich verbeugte mich vor dem jungen Weibe, streifte sie und fühlte, daß sie zitterte; ihre Nasenflügel vibrierten. Ich hätte jubeln mögen. Es war kein Zweifel mehr bei mir, ich hatte sie aufgeregt!

Aber als wir am Fenster standen, klopfte mir Lerne auf die Schulter und sagte ganz leise und meckernd, wie ein Satyr meckern mag:

– Sieh doch hinaus! Jupiter treibt etwas mit den Seinigen!

Und ich sah auf die Weide hinaus und sah den Stier inmitten seines Harems auf eine seiner Damen springen und unzüchtige Dinge an ihr verrichten ...

Im Salon trug mein Onkel dann wieder seine rauhe Miene zur Schau. Er befahl Emma, in ihr Zimmer hinaufzugehen, gab mir ein paar Bücher und riet mir kategorisch an, ich solle mich in den Park setzen und was für meine Bildung tun ...

Ich gehorchte und sagte mir: «Ach! Soviel er mich auch zur Ergebenheit anmahnt – er jammert mich trotzdem und alledem ...»

Aber was dann in der Nacht geschah, das kühlte dieses Mitleiden bedeutend ab.

Und so wie es geschah, beunruhigte es mich um so mehr, als es anscheinend weit ab davon war, zum Klären des großen Geheimnisses mitzuhelfen, und durchaus für sich allein unbegreiflich schien.

Und so geschah es:

Ich war friedlich eingeschlummert; nachdem meine Gedanken bei Emma gewesen waren und erhellt von Hoffnungen, die alle die Schöne angingen. Aber dann brachte mir der Schlaf an Stelle von ergötzlich unkeuschen Traumbildern alle Ungereimtheiten der vergangenen Nacht neu an: die Pflanzen brüllten und bissen sich. Und der Traum nahm unaufhörlich an Eindringlichkeit zu. Wurde so gellend, so wahr und wirklich gellend, daß ich plötzlich aufwachte.

Den Leib und die dampfenden Laken von Schweiß wie unter Wasser gesetzt ... Der Nachhall eines Schreis, der eben gewesen sein mußte, tanzte noch auf meinem Trommelfell. Und mir war's, als hätt ich den Schrei gar nicht zum erstenmal gehört ... nein ... war's nicht jener vom Labyrinth, da unten, unweit von Fonval ... hm?

Ich stemmte mich im Bett auf die Hände. Etwas Mondschein war im Zimmer. Nichts zu hören. Einzig in der Uhr trabte schicklich die Zeit im Takt. Ich legte mich wieder aufs Ohr ...

Und plötzlich, die Haut kräuselte sich mir, und ich floh unter die Decken und preßte die Fäuste gegen Schläfen und Ohren: – stand das verderbliche Geheul aus dem Park und der Nacht wieder auf, aber so außerordentlich und so unerhört ... daß ich meinte, es könne nur ein Alp sein, ein Traum, der weit über alles Wirkliche hinausginge ...

Und ich dachte an die riesige Platane, da unten, am Schloß ...

Mit einer übermenschlichen Anstrengung stand ich auf. Und jetzt war's ein Kläffen, ein ersticktes, ein sehr ersticktes Kläffen ...

Nun also? Was weiter? Das kam doch alles nur aus dem Rachen eines Hundetieres, zum Teufel!

Ich sah hinaus in den Garten: nichts ... nichts als die Platane und die andern im Mondlicht starren Bäume ....

Aber nun wiederholte sich das Heulen: links. Und durch das andere Fenster sah ich, einen Augenblick lang, etwas, das mir alles zu erklären schien. (Das muß nebenbei gewiß sein: Die Wirklichkeit hatte das, was ich im Traum zu hören meinte, angestiftet, wirklicher Lärm mir Schlafendem die Vision von unwirklichen aufbrüllenden Pflanzen suggeriert ....)

Da drüben war ein ausgemergelter Hund, mit dem Rücken zu mir. Er war sehr groß, langte mit den Vorderpfoten bis zu den geschlossenen Jalousien meines einstigen Zimmers empor und stieß von Zeit zu Zeit aus voller Kehle und langhin ein Heulen aus. Das andere – das erstickte Bellen aber, das antwortete ihm zum Haus heraus. Und ... war es denn auch richtig Kläffen? Ich bekam mein Gehör nun in Verdacht, es täuschte mich wohl wieder einmal! Das war nicht so sehr Kläffen als eine menschliche Stimme, die das Kläffen eines Hundes imitieren wollte .... Je länger ich hinhorchte, desto mehr fiel mir's auf .... O ganz gewiß, jede Täuschung war da unmöglich, wie konnte ich nur so lange zweifeln, das war so in die Ohren springend, wie ein anderes in die Augen springend ist: Ein spaßhafter Jemand in meinem Zimmer amüsierte sich damit, den armen Wauwau zu necken.

Übrigens gelang dem Herrn das vollauf: das Tier geriet immer mehr außer sich. Es sang sein Geschrei durch alle nur schrecklichen Tonarten durch. Intonierte es immer noch außerordentlicher, bis zu heller Verzweiflung. Am Ende kratzte es wütend an den Jalousien und biß und verbiß sich drein. Ich hörte, wie das Holz zwischen seinen Kiefern krachte.

Plötzlich stand das Tier unbeweglich und mit gesträubtem Fell. Im Zimmer fuhr eine Stimme einen hart und ungestüm an. Die Stimme meines Onkels, wie ich hörte; doch erfaßte ich den Wortlaut der Zurechtweisung nicht. Aber sofort schwieg der gemaßregelte Spaßmacher .... Und jetzt? Wie hing das nur zusammen? Jetzt tat das Tier, das doch sein wahnsinniges Beginnen hätte einstellen sollen, erst ganz rasend. Richtete sein Haar auf dem Buckel auf, als ob es Wildschweinborsten gewesen wären. Und lief die Schloßmauer hin und knurrte – bis zur Mitteltür.

Und da war auch Lerne schon da und öffnete.

Zu meinem Glück war ich so schlau gewesen und hatte meine Vorhänge nicht aufgehoben. Sein erster Blick galt meinem Fensterkreuz.

Mit leiser Stimme und verhaltener Wut schulmeisterte der Professor den Hund. Aber er ging keinen Schritt auf ihn zu.

Ich merkte, er hatte Furcht vor ihm. Das Tier kam näher, knurrte fortwährend und schoß unter der wüsten Stirn hervor blitzende Blicke. Lerne sprach lauter:

– In die Hütte! Sauhund! – Und nun ein paar Worte in einer fremden Sprache. – Marsch! Weg! rief er dann wieder auf französisch. Aber das Tier immer auf ihn zu: – Soll ich dich totschlagen, soll ich?

Mein Onkel war wie närrisch. Der Mondschein machte ihn noch weißer. «Er wird von dem da zerfleischt werden», dachte ich, «er hat nicht einmal eine Peitsche! ...»

– Zurück, Nelly! Zurück!

Nelly? ... Das war der Hund des fortgejagten Schülers? Der Bernhardiner des Schotten?

Und wirklich, wie sich die fremden Laute nun häuften, erfuhr ich zu meiner völligen Verwirrung, daß mein Onkel auch englisch sprach.

Seine Schmähungen – alles Kehllaute – durchdrangen die nächtliche Stille.

Das Tier wütete gegen sich selber. Und bäumte sich jetzt, da Lerne, zur letzten Hilfe, es mit einem Revolver bedrohte und mit der andern Hand in einer Richtung fortwies.

Ich hatte auf der Jagd wohl schon gesehen, daß ein Hund, wenn man auf ihn anlegt, vor einem Gewehr, dessen Mordkraft ihm bekannt ist, davonläuft. Angesichts einer Pistole aber schien mir die Sache ein wenig ungewöhnlicher. Hatte Nelly je die Wirkung dieser Waffe kennengelernt? Möglich. Doch nahm ich lieber an, der Hund verstand eher englisch – durch Mac-Bell – als den Revolver meines Onkels.

Nelly war gebändigt. Wie durch Orpheus Stimme. Ward ganz kleinlaut, und machte sich mit eingeklemmtem Schweif in der Richtung der grauen Häuser davon, so wie man es ihr zeigte. Lerne ging der Hündin nach. Und der Schatten verschlang sie.

Meine Uhr ... der hohe Schnitter Tod mähte mehrere Minutenhalme danieder.

Fern wurden ein paar Türen laut zugeschlagen.

Dann kam Lerne zurück.

Und sonst nichts mehr.

Da waren also zwei Wesen auf Fonval, von denen ich bisher keine Ahnung hatte. Nelly, mit ihrem elenden Aussehen, der es wohl nicht sehr gut ging, Nelly, die von ihrem Herrn auf seiner überstürzten Flucht gewiß im Stich gelassen worden war – und jener, der sich den faulen Scherz erlaubt hatte. Denn der konnte doch ganz und gar nicht weder eine der beiden Frauen, noch einer der drei Deutschen gewesen sein. Die Art des Spaßes verriet das Alter des Übeltäters: ein Kind nur konnte sich so auf Kosten eines Hundes lustig machen. Aber es wohnte doch, soviel ich wußte, niemand in jenem Flügel da drüben ... Ah! Lerne hatte mir gesagt: «Dein Zimmer brauche ich.» Wer bewohnte es demnach?

Ich werde es in Erfahrung zu bringen wissen. Gewiß.

Die mir verheimlichte Anwesenheit Nellys in den grauen Häusern stattete den schon geheimnisvollen Ort mit einem neuen Rätsel aus. Die versperrten Gemächer des Schlosses aber gaben einen Zielpunkt ab, der in vielem ergänzend wirken konnte ...

Die Sache machte sich, die Sache machte sich!

Ein Fieber ergriff mich bei soviel Aussicht auf die Jagd nach dem Geheimnis. Aber ich sagte mir, ich müsse listig tun bis hin zum Halali, und erst die erste Abwehr Lernes brechen, eh ich die zweite überwältigte ... «Spüren wir erst den Gründen nach», sagte mir ein inneres Gefühl, «sie sind trübe. Dann schaffen wir mit Leichtigkeit und Seelenruhe Rat ...»

Warum ich das nicht schon lange ...!

So ein inneres Gefühl singt nur gar heimlich – und wer, ich bitt euch, hört darauf, wo die Leidenschaft brüllt?