BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Frank Wedekind's Grablegung.

Ein Requiem

 

1919

 

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Letzter Brief

 

Lieber Heinrich Lautensack!

Ich schreibe Ihnen ganz wie in alten Tagen, da Sie mir Ihre ersten Manuskripte zum Druck übergaben. Die vorstehenden Seiten fand ich in Ihrem Nachlaß vollständig zur Drucklegung vorbereitet, nur daß Ihre sonst so klare und schöne Handschrift etwas Wildes und Fremdes bekommen hatte. Verzeihen Sie mir, daß ich das eine Gedicht beim besten Willen nicht mehr entziffern konnte, das Sie dieser Veröffentlichung noch zugedacht hatten. Sie waren schon zu sehr überdunkelt von dem anderen Sinn, den wir nicht kennen und verstehen und dennoch verstehen möchten, weil wir Ihnen auch über den 9. März 1918 *) hinaus folgen wollen, da Ihnen ein großes Erlebnis übermenschliche Trauer und Entrücktheit in die Seele warf. In schauernder Ergriffenheit las ich Ihre Tagebücher nach diesem Tag, wo Sie anfangen, Ihre schlaflosen Nächte zu zählen. Ich weiß, daß Sie am Abend des 12. März mit Matthias Grünewald zusammen waren, daß Sie am 15. März eine Vision der himmlischen und irdischen Liebe hatten – worauf Sie in großen Lettern den Satz niederschreiben «Gott gebe, daß Alles so glücklich weitergehe!» Wir können nicht sagen, ob es glücklich war, wie es weiterging. Nach fünf schlaflosen Nächten dichten Sie ein Schnadahüpfl zur Zither. Immer größer wird Ihre Handschrift. Sätze sind kaum noch zu lesen, nur vereinzelte Worte. Dann steht da plötzlich: «Ich bin Moritz Stiefel und der Sohn des Staatsanwalts in Einem. Wer kauft meine Bücher? Wer liest sie, wenn mich die Zensur mit meinen besten Absichten verbietet und die Direktoren feige sind!» Und dann viele Tage später, als einzig entzifferbarer Satz dieses: «Ich klammere mich an meine Werke.» Und dann noch einmal so ungefähr Handschrift von dieser Welt: «Ach ferne Heimat, wo Milch und Honig fließt !» Sie haben, irdisch gesprochen, seit dem 10. Januar 1919 Ihre Heimat gefunden. Sie sind aller Schmerzen ledig. Muß ich es sagen, daß wir es jetzt sind, die sich an Ihre Werke klammern? Und so werden Sie mir auch nicht böse sein, daß ich dieses Requiem, das Sie selbst noch für den Druck anordneten, jetzt Ihren alten und neuen, immer zahlreicheren Freunden vermittele. Wann hat uns je die Gewalt einer Groteske also gepackt, wie sie selbst Ihr geliebter Meister nicht geschrieben hat! Dieses letzte Teil von Ihnen ist auch ein Stück Wedekind, und wahrhaftig nicht das schlechteste. Wir wollen das Licht, das in Ihrer himmlischen und höllischen Kunst war, nicht vergessen, sondern, wenn es gleich scheinbar erlosch, in uns weiter leuchten lassen. Darum habe ich auch Ihr Gedicht «Mitternachtsgesang – Der in der Schöpfung fiebernde Mensch bei der Schreibtischlampe während der zwölf Glockenschläge» als Ihr letztes Lichtestes und Tiefstes diesen dunklen Seiten voranstellt.

Auf Wiedersehen, lieber Heinrich Lautensack, und wie immer den Gruß Ihres getreuen

Alfred Richard Meyer.

 

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*) Wedekinds Todestag