BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Frank Wedekind's Grablegung.

Testimonia

 

Otto Falckenberg

 

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Als Wedekind gestorben war, flackerte bei seiner Bestattung auf dem Waldfriedhof wie ein böser Spuk noch einmal alle Zügellosigkeit einer Afterbohème auf, die sich aus Mißverstand von je an seine Fersen geheftet. Hinter den bedeutendsten Vertretern von Literatur, Theater und Kunst aus ganz Deutschland war ein bunter Schwarm von zweideutigen Mädchen und halbwüchsigen Burschen erschienen, die sich vordrängten und über Anlagen und Gräber hinweg von der Einsegnungshalle voraus zum geöffneten Grabe sprangen, nicht anders wie eine Schar tollgewordener Böcke. Und mitten unter ihnen: Heinrich Lautensack, eine Leiter bald auf den Schultern, bald von ihr herab einen Kurbelkasten bedienend, soeben mit einem Filmoperateur aus Berlin eingetroffen, noch bleicher und die schwarze Mähne noch wirrer als früher, mit seinen riesigen ungelenken Armen und gellendem Geschrei die irre Menge für eine Aufnahme dirigierend. Zufällig war ich einige Tage zuvor in Berlin mit ihm zusammengetroffen. Er hatte sich ganz dem Film verschrieben und erzählte mir märchenhafte Pläne, die er alle ernsthaft glaubte. Er redete und redete – ich konnte kaum ein Wort einwerfen. Nachdem ich ihn jahrelang nicht gesehen, kam er mir merkwürdig und unheimlich verändert vor. – In dem allgemeinen Gedränge und Getöse an Wedekinds offenem Grab konnten sich die Redner der Bühnen und Verbände nur mit Mühe verständlich machen. Als der Sarg hinab gesenkt wurde, durchbrach ein großer, magerer, schwarzhaariger junger Mensch die Ordnung, die sich endlich wieder gebildet hatte, warf einen Kranz roter Rosen hinab, stürzte nieder, griff sinnlos in die Grube und schrie: «Frank Wedekind, meinem Lehrer, meinem Vorbild, meinem Meister – dein unwürdigster Schüler.» Man war entsetzt. Die Horde der unreif Lüsternen drängte, Unerhörtes witternd, hinzu. Das war keine Trauer, kein Schmerz, das war ein Schrei, der jenseits alles Leides. Man versuchte den Niedergebrochenen zurückzuhalten, hinwegzuziehen. Er wehrte sich rasend – bei Heinrich Lautensack war der Wahnsinn am offenen Grabe Frank Wedekinds ausgebrochen.

Otto Falckenberg in: Mein Leben – Mein Theater, München 1944.