BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Breslau

 

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Breslau, 29. August 1917.

 

Liebste Sonitschka,

 

für zwei liebe Briefe habe ich Ihnen zu danken; ich hoffte fest, dies schon mündlich tun zu können, nun verschleppt sich aber Ihr Besuch bis in den September! Ich warte aber weiter auf Sie und verliere nicht die Hoffnung. Sie schreiben so schwermütig! Das tut mir sehr weh. Jetzt sind doch so schöne Tage, es gäbe so viel Schönes draußen zu sehen, wenn man frei ist. Benutzen Sie's doch, gehen Sie oft ins Feld und in den Botanischen. Ich schrieb an Mathilde [Jacob], sie soll Sie hinbegleiten, denn ich fürchte, Sie raffen sich selbst nicht dazu auf. Und ich bin so begierig auf Ihren Bericht, was alles jetzt blüht dort und wie es im ganzen aussieht, auch was man an Vögeln hört. Apropos, ich habe von dem Leipziger Verlag das kleinere Buch von Voigt über die Singvögel 1) bekommen und finde, daß es für Karls [Liebknecht] Zwecke vollkommen ausreichen wird. Dort sind alle Vogelstimmen in Silben und Noten angedeutet, nur finde ich, daß diese Methode nicht taugt. Wer die Vogelstimme nicht genau kennt, dem sagen die Zeichen nichts, wer sie aber kennt, der braucht es nicht. Übrigens können Sie vielleicht auch das große Exkursionsbuch am ehesten direkt vom Verlag kriegen. An Lesestoff habe ich momentan genug, auch bemüht sich Hans D[iefenbach] darum. Die letzten Bücher von Ihnen waren mir zum Teil sehr interessant. Denken Sie, Klara [Zetkin] las jetzt den „Oblomow“ von Gontscharow 2) und ist ganz begeistert! Sie lasen ihn wahrscheinlich auch noch als halbes Kind in der Schule. Ich ließ mir ihn jedenfalls schicken, es wird mir Spaß machen, ihn nochmals vorzunehmen. Sie erwähnten einmal Briefe oder Memoiren Mirabeaus 3), wenn ich nicht irre. Das würde mich auch interessieren.

Ein prächtiger Tag ist heute. Ich ging hin und her eine Stunde mitten in der Sonne auf unserem gepflasterten Hof; aus einem der benachbarten Häuser tönte ein lärmendes Grammophon. Sonst ist mir dieses kannibalische Instrument ein Greuel. Jetzt bin ich aber derart nach Musik ausgehungert, daß ich mich über die rauhen, gewürgten Töne freute wie eine Köchin beim Abwaschen über einen Leierkasten. Ich schrieb Ihnen schon, glaub' ich, daß ich aus meiner Zelle in einiger Entfernung ein paar Baumwipfel sehe, darunter eine hohe Schwarzpappel Das ist ein wunderbarer Baum, er bringt so viel Leben in die Umgebung. Wenn die Luft sich nur kaum regt und die anderen Bäume unbeweglich bleiben, in der Schwarzpappel rieselt es immer durch das dichte, bewegliche Laub; das flimmert und zittert wie fließendes Wasser, und ein unaufhörliches Rauschen kommt von dort, daß man meinen könnte, ein dichtes Schilfrohr sei dort am Teich und neige sich hin und her im Winde mit Geraschel. Wandern Sie doch jetzt oft in Feld und Wald, benutzen Sie die paar schönen Wochen, die noch vom Sommer bleiben! Ich begleite Sie in Gedanken bei jedem solchen Ausfluge und genieße mit. Grüßen Sie herzlich Karl und die Kinder von mir und schreiben Sie bald wieder.

 

Ich umarme Sie in Treue.

Stets Ihre Rosa

 

Ich würde Ihnen – ceterum censeo 4) – raten, statt des ledernen „Erfurter Programms“ 5) oder wenigstens nach ihm die „Lessing-Legende“ 6) zu lesen. Das gibt unendlich mehr.

 

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1) Gemeint ist Alwin Voigts „Excursionsbuch zum Studium der Vogelstimmen. Praktische Anleitung zum Bestimmen der Vögel nach ihrem Gesänge“. 

2) Gemeint ist der Roman „Oblomow“ von I. A. Gontscharow. 

3) Marquis de Mirabeau, ein französischer Politiker, Physiokrat und Schriftsteller in der Zeit der Aufklärung. 

4) Lat. – im übrigen. 

5) Gemeint ist das Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das auf dem Parteitag in Erfurt 1891 beschlossen worden war. 

6) Franz Mehrings „Die Lessing-Legende“.