BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1918

Aus Breslau

 

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Breslau, den 14. 1. 1918.

 

Meine liebste Sonitschka,

 

wie lange habe ich Ihnen nicht geschrieben! Ich glaube, es sind Monate her. Und auch heute weiß ich nicht einmal, ob Sie schon in Berlin sind, will aber hoffen, daß diese Zeilen Sie noch rechtzeitig zu Ihrem Geburtstag erreichen. Ich bat Mathilde [Jacob], Ihnen von mir einen Orchideenstrauß zu schicken, nun liegt die Ärmste im Krankenhaus und wird wohl kaum meinen Auftrag ausführen können. Doch Sie wissen, daß ich in Gedanken und mit ganzem Herzen bei Ihnen bin und Sie an Ihrem Geburtstage ganz mit Blumen umgeben möchte: mit lila Orchideen, mit weißen Iris, mit stark duftenden Hyazinthen, mit allem, was zu haben ist. Vielleicht wird es mir wenigstens im nächsten Jahr 1) vergönnt sein, Ihnen an diesem Tage selbst Blumen zu bringen und mit Ihnen zusammen einen Spaziergang im Botanischen Garten und im Feld zu machen. Wie herrlich wäre das! Heute haben wir hier 0 Grad. Zugleich aber liegt in der Luft ein so linder erfrischender Frühlingshauch und oben schimmert zwischen dicken milchweißen Wolken ein so tiefer blauer Himmel, dazu schilpen die Spatzen ganz fröhlich, man könnte denken, es sei Ende März. Ich freue mich schon so auf den Frühling, das Einzige, was man nie satt kriegt, so lange man lebt, was man im Gegenteil mit jedem Jahr mehr zu würdigen und zu lieben versteht. Wissen Sie, Sonitschka, daß der Anfang des Frühlings in der organischen Welt, d. h. das Erwachen zum Leben jetzt beginnt, Anfang Januar, ohne auf den Kalenderfrühling zu warten. Während nämlich nach dem Kalender erst der Winter beginnt, befinden wir uns in der größten, astronomischen Sonnennähe, und dies hat eine so geheimnisvolle Wirkung auf alles Leben, daß auch auf unserer nördlichen Halbkugel, die in Winterschnee eingehüllt ist, zu Beginn des Januar wie mit einem Zauberstab die Pflanzen- und Tierwelt erweckt wird. Die Knospen fangen jetzt an zu treiben, viele Tiere fangen die Fortpflanzung schon an. Neulich las ich bei France 2) die Beobachtung, daß die hervorragendsten, wissenschaftlichen und literarischen Produktionen berühmter Männer in die Monate Januar-Februar fallen. Auch im Menschenleben soll also die Sonnenwende nach Weihnachten ein kritischer Moment sein und einen neuen Zustrom aller Lebenskräfte verursachen. Auch Sie, Sonitschka, sind so ein frühes Blümchen, das noch mitten im Schnee und Eis aufgesprossen ist und deshalb sein Lebenlang ein bißchen fröstelt, sich im Leben nicht heimisch fühlt und zarte Treibhauspflege braucht.

Über Ihren Rodin 3) zu Weihnachten habe ich mich mächtig gefreut und hätte Ihnen gleich gedankt, wenn mir Mathilde [Jacob] nicht gesagt hätte, daß Sie in Frankfurt sind. Was mich besonders angenehm berührt hat, ist der Natursinn Rodins, seine Ehrfurcht vor jedem Gräslein im Felde. Das muß ein Prachtmensch gewesen sein: offen, natürlich, überströmend von innerer Wärme und Intelligenz; er erinnert mich entschieden an Jaurès 4). Mögen Sie meinen Broodcoorens 5)? Oder kannten Sie ihn schon? Mich hatte dieser Roman sehr ergriffen; namentlich die landschaftlichen Schilderungen sind von höchster poetischer Kraft. Dem Broodcoorens scheint offenbar, genau wie dem De Coster, daß „über dem Lande Flandern“ die Sonne viel herrlicher auf- und untergeht als über der sonstigen Erde. Ich finde, daß die Flamen alle in ihr Ländchen förmlich verliebt sind, sie beschreiben es nicht wie ein Stück schöne Erde, sondern wie eine strahlende junge Braut. Und auch in dem düster-tragischen Ende finde ich eine Verwandtschaft der Farben mit den grandiosen Bildern im Till Eulenspiegel 6), z. B. mit der Demolierung des öffentlichen Hauses. Finden Sie nicht auch, daß diese Bücher im Kolorit ganz an Rembrandt erinnern: das Dunkle der ganzen Bilder, gemischt mit einem funkelnden Altgoldton; der verblüffendste Realismus aller Details und doch das Ganze in eine märchenhafte Phantasieregion entrückt.

Im „Berl[iner] Tageblatt“ las ich, daß im Friedrich-Museum ein neuer großer Tizian 7) hängt. Haben Sie ihn schon besucht? Ich gestehe, daß Tizian eigentlich nicht mein Freund ist, er ist mir zu geleckt und kalt, zu virtuos – verzeihen Sie, wenn das vielleicht eine Majestätsbeleidigung ist, aber ich kann nicht anders als meiner unmittelbaren Empfindung folgen. Trotzdem wäre ich glücklich, wenn ich jetzt ins Friedrich-Museum könnte, um den neuen Gast zu besichtigen. Haben Sie auch den Kaufmannschen Nachlaß 8) gesehen, von dem man so viel Wesens gemacht hat?

Meine Lektüre sind jetzt verschiedene ältere Studien über Shakespeare aus den 60er und 70er Jahren, als man noch in Deutschland lebhaft über das Problem Shakespeare debattierte. Könnten Sie mir nicht aus der Kgl. Bibliothek oder aus der Reichstagsbibliothek beschaffen: Klein, Geschichte des italienischen Dramas 9); Schack, Geschichte der dramatischen Literatur in Spanien 10); Gervinus 11) und Ulrici 12) über Shakespeare? Wie stehen Sie selbst zu Shakespeare? Schreiben Sie bald! Ich umarme Sie und drücke Ihnen warm die Hand. Seien Sie ruhig und heiter, trotz alledem. Liebste Sonitschka, auf Wiedersehen!

 

Ihre Rosa.

 

Wann wollen Sie kommen?!

Sonjuscha, wollen Sie mir die Liebe tun: schicken Sie der Mathilde J. Hyazinthen von mir. Ich erstatte es Ihnen, wenn Sie hier sind.

 

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1) Im nächsten Jahr, am 15. Januar 1919, wurde Rosa Luxemburg zusammen mit Karl Liebknecht von Freikorpsoffizieren ermordet. 

2) Der französische Schriftsteller Anatole France. 

3) „Die Kathedralen von Frankreich“ von Auguste Rodin. Rosa Luxemburg bezieht sich wahrscheinlich besonders auf das Kapitel „Die Natur in Frankreich“. 

4) Der sozialistische französische Politiker Jean Jaurès. 

5) „Rotes Flamenblut“ von Pierre Broodcoorens (Verlag Egon Fleischel & Co. Berlin, 1916. Übersetzung von Johannes Schlaf). 

6) „Die Geschichte von Ulenspiegel und Lamme Goedzak und ihre heldenmäßigen und glorreichen Abenteuer“ von Charles de Coster. 

7) Tizians „Venus mit dem Orgelspieler“ wurde 1917 von Wilhelm von Bode für das Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin erworben.  

8) Es handelt sich um die Stiftung des Nationalökonomen Richard von Kaufmann, die 1938 aufgrund der jüdischen Abstammung ihres Stifters in „Stiftung zu Gunsten der Gemäldegalerie“ umbenannt werden mußte. 

9) „Geschichte des Dramas“ von Julius Leopold Klein. 

10)Geschichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien“ von Adolf Friedrich Graf von Schack. 

11) „Shakespeare“ von Georg Gottfried Gervinus. 

12) „Über Shakespeares dramatische Kunst“ und „Geschichte Shakespeares und seiner Dichtung“ von Hermann Ulrici.