BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1918

Aus Breslau

 

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Breslau, den 12. 5. 1918.

 

Sonitschka,

 

Ihr Brieflein hat mich so erfreut, daß ich es gleich beantworten will. Sehen Sie, wieviel Genuß und Begeisterung Ihnen ein Besuch im Botanischen Garten verschafft! Warum gönnen Sie sich das nicht öfters?! Und auch ich habe etwas davon, wenn Sie mir Ihre Eindrücke gleich so warm und farbenreich schildern, ich versichere Sie! Ja, ich kenne die wunderbaren, rubinroten Kätzchen der blühenden Fichte. Sie sind so unwahrscheinlich schön, wie übrigens das meiste andere, wenn es in voller Blüte steht, daß man jedesmal den eigenen Augen nicht traut. Diese roten Kätzchen sind weibliche Blüten, aus denen dann die großen, schweren Zapfen werden, die sich umdrehen und nach unten hängen; daneben gibt es unscheinbare, fahlgelbe, männliche Kätzchen der Fichte, die den goldigen Staub verbreiten, – „Pettoria“ kenne ich nicht, Sie schreiben eine Akazienart. Meinen Sie, daß sie ähnlich gefiederte Blättchen und Schmetterlingsblüten hat, wie die sogenannte „Akazie“? Sie wissen wahrscheinlich, daß der Baum, den man so landläufig nennt, gar keine Akazie sondern „Robinia“ ist; eine wirkliche Akazie ist z. B. die Mimose; diese blüht allerdings schwefelgelb und duftet berauschend, aber ich kann mir nicht denken, daß sie im Freien in Berlin wächst, da es eine tropische Pflanze ist. In Ajaccio auf Korsika sah ich im Dezember auf dem Platz in der Stadt herrlich blühende Mimosen, riesige Bäume ... Hier kann ich leider nur von weitem aus meinem Fenster das Grünen der Bäume beobachten, deren Spitzen ich über der Mauer sehe; ich suche meist nach dem Habitus und dem Farbenton die Baumarten zu erraten und, wie es scheint, meist richtig. Neulich wurde hier ein gefundener, abgebrochener Ast ins Haus gebracht, und hat durch sein bizarres Aussehen allgemeine Aufregung hervorgerufen; jedermann frug, was das sei. Es war eine Rüster (Ulme); erinnern Sie sich noch, wie ich sie Ihnen zeigte in der Straße in meinem Südende, vollbeladen mit duftigen Paketen der fahl-rosig-grünlichen Früchtchen; es war auch im Mai, und Sie waren ganz hingerissen von dem phantastischen Anblick. Hier wohnen die Leute jahrzehntelang in der Straße, die mit Rüstern bepflanzt ist, und haben noch nicht „bemerkt“, wie eine blühende Rüster aussieht. ... Und derselbe Stumpfsinn ist ja allgemein Tieren gegenüber. Die meisten Städter sind doch wirklich rohe Barbaren, im Grunde genommen. ...

Bei mir nimmt, umgekehrt, das innere Verwachsen mit der organischen Natur – en dépit de l'humanité 1) – beinahe krankhafte Formen an, was wohl mit meinem Nervenzustand zusammenhängt. Da unten hat ein Paar Haubenlerchen ein Junges ausgebrütet – die übrigen drei sind wohl kaputt gegangen. Und dieses eine kann schon sehr gut laufen – Sie haben vielleicht bemerkt, wie drollig die Haubenlerchen laufen, mit kleinen behenden Schrittchen, trippelnd, wie der Spatz mit beiden Beinchen hüpfend, es kann auch schon gut fliegen, findet wohl aber noch nicht selbst genug Nahrung: Insekten, Räupchen usw. – zumal bei diesen kalten Tagen. So erscheint es jeden Abend unten im Hof vor meinem Fenster und piept ganz laut, schrill und kläglich, worauf auch gleich die beiden Alten erscheinen und mit ängstlichem, bekümmerten „Huid–huid“ halblaut Antwort geben, dann schnell herumlaufen, verzweifelt suchend, um noch in der Dämmerung und Kälte etwas Eßbares zu finden, und dann kommen sie an den klagenden Balg heran und stecken ihm das Gefundene in den Schnabel. Das wiederholt sich jetzt jeden Abend um ½9 Uhr, und wenn dies schrille, klagende Piepen unter meinem Fenster beginnt, und ich die Unruhe und Sorge der beiden kleinen Eltern sehe, bekomme ich buchstäblich einen Herzkrampf. Dabei kann ich nichts helfen, denn die Haubenlerchen sind sehr scheu, und wenn man ihnen Brot hinwirft, fliegen sie weg, nicht so wie die Tauben und Spatzen, die mir schon wie Hunde nachlaufen. Ich sage mir vergeblich, daß es lächerlich ist, daß ich ja nicht für alle hungrigen Haubenlerchen der Welt verantwortlich bin und nicht um alle geschlagenen Büffel – wie die, die hier täglich mit Säcken in den Hof kommen – weinen kann. Das hilft mir nichts und ich bin förmlich krank, wenn ich solches höre und sehe. Und wenn der Star, der bis zum Überdruß den ganzen, lieben Tag, irgendwo in der Nähe sein aufgeregtes Geschwätz wiederholt, wenn er für einige Tage verstummt, habe ich wieder keine Ruhe, daß ihm was Böses zugestoßen sein mag und warte gequält, daß er seinen Unsinn nur weiter pfeift, damit ich weiß, daß es ihm wohlergeht. So bin ich aus meiner Zelle nach allen Seiten durch unmittelbare, feine Fäden an tausend kleine und große Kreaturen geknüpft, und reagiere auf alles mit Unruhe, Schmerz, Selbstvorwürfen. ... Sie gehören auch zu all diesen Vögeln und Kreaturen, um die ich von weitem innerlich vibriere. Ich fühle, wie Sie darunter leiden, daß Jahre unwiederbringlich vergehen, ohne daß man „lebt“. Aber Geduld und Mut! Wir werden noch leben und Großes erleben. Jetzt sehen wir vorerst, wie eine ganze alte Welt versinkt, jeden Tag ein Stück, ein neuer Abrutsch, ein neuer Riesensturz. ... Und das Komischste ist, daß die meisten es gar nicht merken und glauben, noch auf festem Boden zu wandeln. ...

Sonitschka, haben Sie vielleicht oder könnten Sie beschaffen den Gil Blas und den hinkenden Teufel? Ich kenne Lesage 2) gar nicht und wollte ihn schon längst lesen. Kennen Sie ihn? Schlimmstenfalls kaufe ich mir ihn in der Reclam-Ausgabe.

 

Ich umarme Sie herzlich

 

Ihre Rosa.

 

Schreiben Sie bald, wie es Karl geht.

Vielleicht hat Pfemfert 3) den „Flachsacker“ von Stijn Streuvels 4), das ist wieder ein Flame; erschienen im Inselverlag, soll sehr gut sein. Schreiben Sie bald, wie es Karl geht!

 

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1) Franz. – „trotz des Mitgefühls“. 

2)Gil Blas de Santillane“ und „Der hinkende Teufel“ des französischen Schrift­stellers Alain-René Lesage (1668-1747). 

3) Franz Pfemfert, siehe In den Briefen erwähnte Personen. 

4) Der Roman „De vlaschaard“ (1907) des flämischen Schriftstellers Stijn Streuvels (1871-1969), deutsch: „Der Flachsacker“, Inselverlag Leipzig 1918.