BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Erster Band

Frühe Kindheit

 

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Mein Vater, der Richter.

 

Nach unserer Familienüberlieferung stammte unser Geschlecht von irgendeinem Mirgoroder Kosakenhauptmann, dem von polnischen Königen der Adelstitel mit Wappen verliehen war. Nach dem Tode meines Großvaters brachte mein Vater, der zum Begräbnis gefahren war, ein wunderliches Sigill mit heim, auf dem ein Boot mit zwei Hundeköpfen an den beiden Enden und mit einem gezackten Turm in der Mitte zu sehen war. Als wir Kinder fragten, was denn das wäre, sagte der Vater, das sei unser „Wappen“, mit dem wir unsere Briefe zu siegeln das Recht hätten, während andere Leute dazu nicht berechtigt wären. Das Ding hatte auf polnisch einen kuriosen Namen: „Korab z Lodzia“ (Arche mit Boot), was das jedoch zu bedeuten hatte, wußte der Vater selbst nicht zu erklären; vielleicht war auch gar kein Sinn dabei. Es gäbe da – erzählte er – ein anderes Wappen, das heiße viel einfacher: „Ein Floh tanzt auf der Trommel“, was immerhin einen Sinn habe, denn die Kosaken und die polnischen Schlachzizen mußten sich auf ihren Feldzügen mit Flöhen wacker herumschlagen. Und mit einem Bleistift in der Hand entwarf er rasch auf dem Papier einen Floh, der auf der Trommel einen kühnen Tanz aufführt, umgeben von Schild und Schwert und allen adligen Attributen. Er war kein übler Zeichner, und wir mußten lachen. So flocht der Vater in unsere erste Bekanntschaft mit den adligen „Kleinodien“, wie mir scheinen will, nicht ohne Absicht, eine gewisse spöttische Note.

Unser Urgroßvater war, dem Vater zufolge, ein kosakischer Regimentsschreiber, der Großvater aber schon, wie auch der Vater selbst, russischer Beamter. Ein Landgut oder leibeigene Bauern hatten sie wohl kaum besessen. Mein Vater dachte nie daran, seinen erblichen Adelstand wiederherzustellen, und als er starb, waren wir, wie es hieß, „Söhne des Hofrats Soundso“, mit den Rechten des Beamtenadels ohne Ar und Halm, ohne jedes reale Band mit dem adligen Milieu und, die Wahrheit zu sagen, ebensowenig mit irgendeinem anderen Milieu.

Das Bild meines Vaters sehe ich deutlich vor mir: ein Mann von mittlerer Statur, mit leichter Neigung zur Korpulenz. Wie alle Beamten jener Zeit rasierte er sein Gesicht mit peinlicher Sorgfalt. Seine Gesichtszüge waren schön und nicht ohne Feinheit: eine Adlernase, große braune Augen und ein Mund mit stark geschweifter Oberlippe. Er soll in seiner Jugend dem Napoleon sehr ähnlich gewesen sein, besonders wenn er seinen Beamten-Dreimaster à la Bonaparte aufsetzte., Mir freilich wollte es nicht gelingen, mir den Napoleon als hinkenden Mann zu denken, Vater aber stützte sich immer auf den Krückstock und schleppte leicht sein linkes Bein nach.

Auf seinem Gesicht lag stets der Ausdruck heimlichen Kummers und nagender Sorge, selten nur hellte es sich auf. Hin und wieder pflegte er uns in seinem Arbeitszimmer um sich zu sammeln, ließ uns auf sich herumklettern und spielen, zeichnete Bildchen und erzählte lustige Geschichten und Märchen. In der Seele dieses Mannes war sicher ein ungehobener Schatz kindlicher Einfalt und Heiterkeit verborgen: selbst seine Belehrungen wußte er in eine halbhumoristische Form zu kleiden, und in solchen Augenblicken hatten wir ihn sehr lieb. Doch diese Lichtblicke wurden mit den Jahren immer spärlicher, sein angeborener Frohsinn wurde immer dichter vom Nebel der Melancholie und Sorge eingehüllt. Zum Schluß brachte er es kaum fertig, unsere Erziehung schlecht und recht zu Ende zu führen, und in den Jahren, wo wir bereits bewußter zu leben anfingen, gab es zwischen uns und dem Vater gar keine innere Fühlung mehr ... So starb er schließlich, ohne daß ihn seine eigenen Kinder eigentlich gekannt hätten. Erst nach vielen Jahren, als bei mir die Periode der jugendlichen Sorglosigkeit vorüber war, ging ich daran, zu sammeln, was sich irgend an einzelnen Zügen aus seinem Leben aufspüren ließ, und das Bild des tiefunglücklichen Mannes lebte in meinem Herzen auf – mir teurer und näher als damals, wo ich ihn noch um mich hatte. Er war ein Beamter, sein äußerer Lebenslauf ist deshalb in den Konduitenlisten aufbewahrt worden. Geboren 1810, als Kanzleischreiber in den Staatsdienst getreten 1826, gestorben im Rang des Hofrats 1868. Dies der schlichte Roman, in dem doch ein ganzes Menschenschicksal eingeschlossen war: Hoffnungen, Erwartungen, Lichtblicke des Glücks, Enttäuschungen ... Unter den vergilbten Papieren des Vaters war eins erhalten, das eigentlich doch keinen Wert mehr besaß, das er jedoch als Erinnerung aufbewahrte. Es war dies ein halboffizieller Brief des Fürsten Wassiltschikoff, worin er meinen Vater auf den Posten des Kreisrichters nach Schitomir berief. „Diese Gerichtskammer – schrieb der Fürst – der auch der Magistrat angeschlossen wird, stellt nunmehr einen größeren und daher auch wichtigeren Wirkungskreis dar und erfordert einen Vorsitzenden, der seiner Aufgabe völlig gewachsen und der Rechtsprechung daselbst die erwünschte Richtung zu geben befähigt ist.“ Für diese Aufgabe hatte der Fürst eben meinen Vater ausersehen. Zum Schluß des Briefes geht der „hohe Herr“ mit viel Aufmerksamkeit auf die Interessen des kleinen Beamten ein, für den als Familienvater der Umzug gewiß mit manchen Opfern verbunden sei, dem er aber zugleich große Aussichten für die Zukunft eröffnet und den er bittet, so schnell wie möglich zu kommen. – Die letzten Zeilen sind von der eigenen Hand des Fürsten geschrieben, und der Ton des Schreibens atmet nicht bloß gnädige Herablassung, sondern auch Achtung. Dies war ein bescheidener, heute vergessener und damals gescheiterter Anlauf zu einer Reform; aber ein Reformversuch war es doch, und der glänzende Magnat, launenhaft und despotisch wie die meisten Magnaten jener Zeit, doch zugleich nicht ohne einen gewissen wohlgemeinten „Sturm und Drang“ im Busen, forderte den bescheidenen Beamten auf, in dem er offenbar den neuen Mann für das neue Werk erkannt hatte, sein Mitarbeiter zu sein.

Dies war im Jahre 1849, und damals bot man dem Vater den Posten eines Kreisrichters in einer Gouvernementsstadt an. Zwanzig Jahre später starb er auf demselben Posten – in einem weltentlegenen Krähwinkel. ...

Er ist also, was die dienstliche Laufbahn betrifft, entschieden ein Pechvogel gewesen. Für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß daran hauptsächlich seine donquichottehafte Ehrlichkeit schuld war.

Jedes Milieu pflegt die Ausnahmen, die es nicht begreift, und durch die es sich bloß aus seiner Ruhe aufgestört fühlt, gering zu schätzen. Jedesmal wenn mein Vater an einem neuen Ort seinen Dienst antrat, wiederholten sich dieselben Auftritte: es meldeten sich bei ihm alsbald, kraft „uralter Sitte“, die Repräsentanten verschiedener städtischer Bevölkerungsschichten mit Gaben. Der Vater lehnte zuerst ziemlich ruhig ab. Alsdann kamen die Deputationen am anderen Tag mit verdoppelten Gaben, die der Vater aber bereits mit Grobheiten zurückwies. Am dritten Tage gab es schon tragikomische Sturmszenen: mein Vater, der sehr jähzornig war, schimpfte ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen und jagte die „Repräsentanten“ mit dem Stock zum Haus hinaus, worauf sich diese mit erstaunten und betretenen Gesichtern in der Tür drängten ... Später, als man Vaters Tätigkeit näher kennen gelernt hatte, pflegten alle für ihn die größte Hochachtung zu hegen. Vom kleinen Krämer bis zur Gouvernements-Obrigkeit bestätigten alle, daß es keine Macht gab, die den Richter dazu vermocht hätte, wider Gewissen und Recht zu fehlen. Aber ... man war dennoch allgemein der Meinung, daß, wenn der Richter bei alledem auch noch bescheidene „Erkenntlichkeiten“ genehmigen wollte, es doch verständlicher, einfacher und, wie man damals zu sagen pflegte, „menschlicher“ gewesen wäre.

Ich erinnere mich noch aus der Zeit, wo ich schon ein ziemlich bewußtes geistiges Leben führte, eines bezeichnenden Falls dieser Art.

Vor das Kreisgericht war der Prozeß zwischen einem reichen Gutsbesitzer, Grafen E., und seiner armen Verwandten, wenn ich nicht irre, der Witwe seines Bruders, gekommen. Der Graf war ein großer Herr mit mächtigen Konnexionen, Mitteln und Einflüssen, die er auch rührig ins Werk setzte. Die Witwe verfocht ihren Anspruch kraft des „Armenrechts“, ohne Stempelgebühren zu zahlen. Man prophezeite, daß sie verlieren würde, da der Rechtsfall immerhin verwickelt war, von des Grafen Seite aber ein kräftiger Druck auf das Gericht ausgeübt wurde. Vor der Entscheidung sprach der Herr Graf bei uns in eigener Person vor; seine wappengeschmückte Kutsche hielt zwei- oder dreimal vor unserem bescheidenen Häuschen und sein langbeiniger Heiduk in Livree stelzte vor unserer windschiefen Treppe auf und ab. Die ersten beiden Male beobachtete der Graf eine majestätische und vorsichtige Haltung, und der Vater schob nur kühl und förmlich seine Tastversuche zurück. Beim dritten Besuch jedoch war der Herr wahrscheinlich mit einem direkten Anerbieten herausgerückt. Der Vater brauste plötzlich auf, warf dem hohen Herrn einen unparlamentarischen Ausdruck an den Kopf und klopfte dabei heftig mit dem Stock auf den Boden. Der Graf verließ Vaters Zimmer hochrot vor Wut, Drohungen murmelnd, und bestieg eilig wieder seine Kutsche. Auch die Witwe war ein paarmal gekommen, wiewohl der Vater diese Besuche nicht sonderlich liebte. Das arme Weib setzte sich in seinen Trauergewändern, mit verweinten Augen, bedrückt und schüchtern zu meiner Mutter, erzählte ihr etwas und weinte. Die Ärmste glaubte, sie müsse dem Richter immer noch etwas auseinandersetzen. Wahrscheinlich waren es bloße Lappalien, denn der Vater winkte mit der bei ihm in solchen Fällen üblichen Redensart ab:

„Ach was! Belehre Kranker den Medikus! Alles wird gemacht, wie das Gesetz es vorschreibt.“

Der Prozeß wurde zugunsten der Witwe entschieden, wobei alle Welt wußte, daß dies ausschließlich der Festigkeit meines Vaters zu danken war. Der Senat bestätigte diesmal die Entscheidung unerwartet schnell, und die armselige Witwe war plötzlich eine der reichsten Gutsbesitzerinnen des Kreises, wenn nicht gar des Gouvernements geworden.

Als sie wieder vor unserem Hause, diesmal in eigener Kalesche, erschien, war die frühere kümmerliche Bittstellerin kaum zu erkennen. Ihre Trauer war zu Ende, sie schien beinahe verjüngt und strahlte vor Glück. Der Vater nahm sie sehr freundlich mit jenem Wohlwollen auf, das wir Leuten gegenüber zu fühlen pflegen, die uns stark verpflichtet sind. Als sie aber ein Gespräch „unter vier Augen“ erbeten hatte, trat sie bald aus Vaters Zimmer mit gerötetem Gesicht und verweinten Augen. Die gute Frau wußte, daß die Wendung in ihrem Schicksal gänzlich an der Festigkeit, man kann beinahe sagen, an dem Heroismus dieses schlichten lahmen Mannes gehangen hatte. Und nun durfte sie ihm nicht einmal irgendwie ihre Erkenntlichkeit zeigen. Sie war bekümmert, ja gekränkt. Am Tag darauf kam sie wieder, als mein Vater im Dienst, die Mutter aber zufällig fortgegangen war und schleppte einen Haufen verschiedener Stoffe und Waren her, die sie auf allen Möbeln in unserem Wohnzimmer aufstapelte. Unter anderm rief sie mein Schwesterchen heran und gab ihm eine riesige, herrlich gekleidete Puppe mit blauen Augen, die sich schlossen, wenn man die Puppe schlafen legte.

Die Mutter kriegte keinen geringen Schreck, als sie der Bescherung ansichtig wurde. Als aber der Vater vom Dienst kam, brach in unserer kleinen Wohnung eines der heftigsten Gewitter los, deren ich mich entsinnen kann. Er erging sich in Schimpfworten über die Witwe, überhäufte die Mutter mit Vorwürfen und gab nicht eher Ruhe, bis ein Handwägelchen vor der Treppe erschien, auf das sämtliche Geschenke aufgeladen und zurückgeschickt wurden.

Dabei stellte sich jedoch eine unerwartete Schwierigkeit heraus: als die Reihe an die Puppe kam, legte mein Schwesterchen entschiedenen Protest ein, und dieser Protest nahm so dramatische Formen an, daß Vater nach einigen Versuchen, wiewohl mit großer Unzufriedenheit, nachgab.

„Durch euch bin ich also doch ein käuflicher Kerl geworden,“ brummte er ärgerlich und verschwand in seinem Zimmer.

Solches Gebaren wurde damals allgemein für zwecklose Marotte angesehen.

„Nun sage doch selbst, ich bitte dich, wem schadet so ein bißchen Erkenntlichkeit, – setzte mir ein tugendhafter Assessor, der selbst ›nicht nahm‹, auseinander – überlege einmal: der Prozeß ist ja beendet, die Person weiß, daß sie euch alles zu danken hat und kommt mit vollem Herzen. Und nun wird sie von euch beinahe mit Hunden hinausgehetzt! Na, wozu denn das?“

Ich bin fest überzeugt, daß mein Vater diese Dinge auch nie vom Standpunkte unmittelbaren Schadens oder Nutzens erwog. Er war einst, wie ich vermute, mit hohen, für jene Zeit wohl ungewöhnlich hohen Erwartungen ins Leben getreten. Das Leben hatte ihn in dem grauen unsauberen Milieu niedergetreten. Und nun hegte er wie ein letztes Heiligtum diesen Zug seines Wesens, der ihn nicht bloß von dem Troß notorisch „Käuflicher“, sondern auch von den Tugendbolden der damaligen goldenen Mitte schied. Je schwerer er mit der zahlreichen und rasch anwachsenden Familie an seinem Päckchen zu tragen hatte, um so argwöhnischer und hartnäckiger behütete er seine seelische Unantastbarkeit und Unnahbarkeit ...

Für mich blieb dabei ein Zug im Charakter meines Vaters ein gewisses psychologisches Rätsel. Rings um ihn her starrte mauerdick – jawohl, „starrte“ geradezu, wie ein dicker Morast – allgemeine Bestechlichkeit und Korruption. Die Beamten desselben Gerichts, an dem mein Vater wirkte, nahmen zweifelsohne mit der rechten und mit der linken Hand und nicht bloß „Erkenntlichkeiten“, sondern notorische Schmiergelder. Ich entsinne mich noch, wie einmal ein „verehrter“ und lieber Bekannter unseres Hauses, ein lustiger und flotter Herr, während einer Abendgesellschaft bei uns vor zahlreichem Auditorium außerordentlich drastisch erzählte, wie er einmal einem jüdischen Schmuggler aus der Patsche geholfen hatte, wobei es gelang, ihn nicht nur der Verantwortung zu entziehen, sondern auch eine enorme Partie der beschlagnahmten Ware zu retten. Die Schmuggler hatten versprochen, den kleinen Beamten, damals noch Neuling in seiner Laufbahn, für diesen Dienst mit Reichtum zu überhäufen, worauf der Beamte ihrer Bitte willfahrte, ehe jene ihr Versprechen wahrgemacht hatten. Zur Abrechnung wurde ein Stelldichein in der Nacht an irgendeinem einsamen Ort ausgemacht und der Beamte wartete richtig bis zum Morgengrauen. Ich erinnere mich noch deutlich an die lebhafte Schilderung jener Nacht. Der Beamte wartete auf den Juden, „als wie ein verliebter Jüngling seines Schätzchens harrt“. Er lauschte fieberhaft auf die nächtlichen Laute, sprang bei jedem Geräusch auf ... Und die ganze Gesellschaft folgte dem Schmugglerdrama in atemloser Spannung. Als sich aber herausstellte, daß der Beamte geprellt war, löste sich die Spannung in allgemeine Heiterkeit auf, in die sich zugleich Entrüstung über die Juden und eine gewisse Teilnahme für den Geprellten mischten. Mein Vater war bei der Erzählung zugegen. Wenngleich ich mich seines Gesichtsausdrucks nicht mehr entsinne, so sehe ich doch noch deutlich das folgende Bild vor mir: ein von Talglichtern beleuchteter Kartentisch, um den Tisch herum vier Partner; einer von diesen ist mein Vater, sein Gegenüber der Held der Schmugglergeschichte, der jedesmal, wenn er seine Karte auf den Tisch haut, ein Witzwort losläßt. Und der Vater lacht heiter dazu...

Überhaupt stellte er sich zu seinem Milieu äußerst gutmütig und suchte nur den kleinen Bereich, der unter seinem unmittelbaren Einfluß stand, von Korruption rein zu halten. Ich erinnere mich, wie er ein paarmal mit schwerem Kummer vom Gericht heimkam. Einmal als ihm die Mutter, mit ängstlicher Teilnahme in sein gedrücktes Gesicht blickend, einen Teller Suppe reichte, versuchte er zu essen, nahm zwei, drei Löffel zu sich und schob den Teller weg.

„Ich kann nicht,“ sagte er.

„Ist die Sache zu Ende?“ fragte die Mutter leise.

„Ja ... Zuchthaus ...“

„O Gott!“ rief sie erschrocken. „Nun und du?“

„Ach, was, belehre Kranker den Medikus!“ antwortete der Vater gereizt, „ich! ich! was kann ich denn tun?“

Dann fügte er sanfter hinzu:

„Ich habe getan, was ich konnte ... Das Gesetz war ganz klar.“

An diesem Tage aß er nicht zu Mittag und legte sich nicht wie gewöhnlich nach Tisch hin, sondern wanderte lange in seinem Zimmer auf und ab, mit seinem Stock auf den Boden aufstoßend. Als mich Mutter nach zwei Stunden in sein Zimmer gehen hieß, um nachzusehen, ob er schlief und falls er nicht schlief, ihn zum Tee zu bitten, fand ich ihn knieend vor seinem Bette. Er betete inbrünstig zum Heiligenbild hinauf, und sein ganzer, etwas voller Körper erzitterte vor krampfhaftem Schluchzen ...

Jedennoch bin ich sicher, daß dies Tränen des Mitleids mit dem „Opfer des Gesetzes“ waren und nicht etwa das peinigende Bewußtsein eigener Mitschuld als Werkzeug des Gesetzes. In dieser Hinsicht war Vaters Gewissen stets unerschütterlich ruhig, und wenn ich jetzt darüber nachdenke, so wird mir klar, wie grundverschieden der Seelenzustand ehrlicher Leute jener Generation von der Stimmung unserer Tage war. Mein Vater fühlte sich lediglich für seine persönlichen Handlungen verantwortlich. Das nagende Gefühl der Verantwortlichkeit für das soziale Unrecht war ihm völlig fremd. Gott, Zar und Gesetz waren für ihn über jede Kritik erhaben. Gott ist allmächtig und doch gibt es auf Erden viel triumphierende Niedertracht und leidende Tugend. Nun, das steht offenbar in den unerforschlichen Ratschlüssen der höchsten Gerechtigkeit geschrieben und damit basta. Der Zar und das Gesetz entziehen sich gleichfalls dem menschlichen Witze, und wenn sich einem mitunter bei der Anwendung des Gesetzes vor Kummer und Mitleid das Herz im Leibe umdreht, so ist das eben Elementarunglück, das zu keinerlei Schlüssen allgemeiner Natur berechtigt. Der Eine geht am Typhus zugrunde, der andere am Gesetz. Schicksalsschläge! ... Des Richters Sache ist, lediglich zu wachen, daß das Gesetz, wenn es einmal in Wirksamkeit tritt, auch richtig angewendet wird. Trifft indes auch dies nicht zu, wird das Gesetz von der käuflichen Beamtenschaft dem Starken zu Gefallen gebeugt, dann wird er, der Richter, im Bereich seines Amtes dagegen mit allen verfügbaren Mitteln ankämpfen. Sollte er dafür büßen müssen, so wird er sich auch dadurch nicht beirren lassen. Mag er büßen, aber in den Akten Numero soundso wird jede von seiner Hand eingetragene Zeile von Unrecht frei sein. Und in dieser Gestalt wird die Sache über den Bereich des Kreisgerichts vor den Senat treten, vielleicht noch höher hinaus. Wird der Senat des Richters Erwägungen beitreten, so wird ihn das für die Partei, die das Recht auf ihrer Seite hat, aufrichtig freuen. Werden sich auch die Senatoren vor Macht und Geld beugen, so ist das ihre Gewissenssache und sie werden sich dafür, wenn nicht vor dem Zaren, so vor Gott zu verantworten haben. Daß die Gesetze selbst untauglich sein mögen, das schlägt hinwiederum in die Verantwortlichkeit des Zaren vor dem Herrgott, er, der Richter, ist für Gesetze so wenig verantwortlich, wie dafür, daß der Blitz vom hohen Himmel manchmal ein unschuldiges Kindlein erschlägt ...

Ja, das war eine Weltanschauung aus einem Guß, eine Art unerschütterlichen Gleichgewichts der Gewissen. Ihre inneren Grundlagen wurden nicht durch Selbstanalyse unterwühlt, und die ehrlichen Leute jener Zeit kannten den tiefen inneren Zwiespalt nicht, der sich aus dem Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit für „die ganze Gesellschaftsordnung“ ergibt. Ich weiß nicht, ob heute auch nur eine Beamtenseele jenes innere Gleichgewicht in diesem Grade kennt. Ich bezweifle es. Die Zeiten jener Weltanschauung sind unwiederbringlich dahin, und schon die denkende Jugend meiner Generation war von dem zernagenden, qualvollen, aber schöpferischen Geist der sozialen Verantwortlichkeit ergriffen.

Mein Vater starb früh. Wäre er länger am Leben geblieben, dann hätten wir Jungen, vom Geiste der Kritik besessen wie wir waren, wohl mehr als einmal seine Lieblingsformel zu hören bekommen:

„Belehre Kranker den Medikus!“

Wobei als der majestätische Medikus in diesem Fall wohl jene oberste Gewalt gemeint wäre, vor der nach seiner Auffassung jede Kritik Halt zu machen hatte.

Welchen Ausgang dieser Konflikt schließlich genommen hätte, dies ist mir eine Frage geblieben, über die ich oft mit reuiger Wehmut nachsinne ...