BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Erster Band

Frühe Kindheit

 

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Der kleine Thomas aus Sandomir

und der Gutsbesitzer Degert.

 

Um jene Zeit habe ich mein erstes dickes Buch gelesen und mit einem hervorragenden Vertreter der Leibeigenschaft Bekanntschaft gemacht.

Wir alle, ich und meine Geschwister, haben fast unmerklich, ohne jede Mühe, lesen gelernt. Man hatte uns ein polnisches Abcbuch mit Holzschnitten gekauft, und wir prägten uns die Buchstaben im Spielen ein. Allmählich gingen wir zum unvermeidlichen „Struwwelpeter“ über, und dann fiel mir zufällig eine größere Erzählung eines polnischen Schriftstellers, wenn ich nicht irre, war es Korzeniowskis: „Der kleine Thomas aus Sandomir“ in die Hände. Im Anfang kam ich darin nur mühsam buchstabierend vorwärts, wurde aber nach und nach vom Inhalt dermaßen gepackt, daß ich unablässig über dem Buche hockte, und als ich es weglegte, konnte ich ziemlich fließend lesen. Aus jener verfrühten Lektüre trug ich, wie ich annehme, meine schwachen Augen, zugleich aber eine bedeutende Erweiterung meiner Begriffe über die gesellschaftlichen Verhältnisse davon.

Es war ein gutes Buch, was ich auf diese Weise zum ersten Mal zum Lesen bekam. Es erzählte von einem kleinen verwaisten Bauernknaben, der im Dorf Vieh hütete. Einmal begegnete er zufällig der Nichte des Ortspfarrers. Die gleichartigen Kinder schlossen Freundschaft, und das Mädchen brachte dem Knaben bald das Lesen und Schreiben bei, weckte überhaupt seine geistigen Interessen. Der gute Geistliche überredete den Gutsherrn, den begabten Knaben aus der Hörigkeit freizulassen, und der Kleine zog in die Welt hinaus, um seinen Wissensdurst zu stillen.

Die Geschichte enthielt weder geheimnisvolle Abenteuer, noch eine verwickelte Intrigue. Der Verfasser erzählte mit Wärme, aber schlicht und sachlich, wie der kleine Thomas aus Sandomir sich mühselig den Weg durchs Leben bahnte, wie er sich als Diener beim Lehrer einer Klosterschule vermietete, wie er später die Erlaubnis erhielt, mit anderen Schülern am Unterricht teilzunehmen, wobei er fortfuhr, seinem Lehrer Stiefel zu putzen und das Zimmer aufzuräumen, wie ihn die stolzen Adelssöhnchen im Anfang verhöhnten, und wie er sie Schritt für Schritt im Wissen überholte, um endlich das Schulexamen als Erster zu bestehen.

Eine glänzende Laufbahn eröffnete sich nun dem Jüngling, er jedoch, der gelehrte Bauernsohn, kehrte aufs Land zurück, um Dorfschullehrer zu werden. Hier begegnete er wieder der Freundin seiner Kindheit. Der etwas sentimentale Schluß schildert, wenn ich mich recht entsinne, das bescheidene Glück zweier rechtschaffener Menschenkinder.

Ich gedenke auch jetzt noch mit Dankbarkeit jenes Buches wie der polnischen Literatur jener Zeit überhaupt. Sie war schon damals von dem ersten Hauch einer freilich noch ganz naiven Volkstümelei belebt und betonte nachdrücklich, ohne noch auf die eigentlichen Zeitprobleme der damaligen Gesellschaftszustände direkt einzugehen, die Idee der Gleichheit aller Menschen.

Über diesem Buche verbrachte ich ganze Tage, mitunter auch Abende, bei dem schwachen Schein eines Talglichtes – Stearinkerzen waren damals noch Luxus – Seite um Seite mühsam entziffernd. Ich erinnere mich auch noch, daß die Erwachsenen mir mehrmals mit freundlicher Herablassung versicherten, ich verstände ja doch gar nichts von dem so eifrig Gelesenen, worauf ich verwundert bei mir dachte: was war denn da Besonderes zu verstehen? Sah ich doch einfach mit eigenen Augen alles, was der Verfasser schilderte: den kleinen Hütejungen im Felde, das Pfarrhäuschen mitten in blühenden Fliedersträuchern, die langen Korridore der Klosterschule, in denen der kleine Thomas aus Sandomir die blank geputzten Schuhe des Herrn Lehrers eilig dahintrug, um dann in das Klassenzimmer zu laufen; ich sah endlich auch die schon erwachsene Jungfrau, die den „gelehrten“ Thomas, ihren ehemaligen Schüler, schüchtern errötend begrüßte ...

Die Vorstellungen vom Dorfleben, die ich mir aus dieser Lektüre erworben hatte, waren freilich naive Bücherweisheit. Auch die Erinnerungen an das Kolanowskische Landgut waren nicht geeignet, sie realer zu gestalten. Doch wer weiß, ob ich eine lebenswahrere Vorstellung gewonnen hätte, wäre es mir passiert, damals mitten in den schrillen Dissonanzen des leibeigenen Dorfes zu leben. Meine Auffassung wäre in diesem Falle vielleicht konkreter, kaum aber vernünftiger und weitherziger geworden.

Wie dem nun sei, jedenfalls lebte in meinen Gedanken neben dem finsteren und feindseligen Dorfe, von dem man irgendein Unheil unklar erwartete, doch zugleich schon ein anderes Bild der ländlichen Verhältnisse. Und die imaginäre Gestalt des kleinen Thomas war mir direkt ans Herz gewachsen.

Einmal, während der Vater noch auf dem Gericht war, die Mutter aber mit ihren Schwestern und einigen Freundinnen bei irgendeiner Handarbeit fröhlich plauderte, wurde vor dem Hause Wagengerassel hörbar. Eine der Tanten blickte durch das Fenster und rief mit banger Stimme:

„Der Degert!“ ...

Die Mutter erhob sich rasch vom Stuhl, räumte – ich weiß nicht weshalb – ihre Handarbeit eilig vom Tische weg und sagte aufgeregt:

„Jesus, Maria und Joseph, ist das ein Kreuz! Wäre doch wenigstens mein Mann zu Hause“ ...

Degert war ein Gutsbesitzer und irgendwie weitläufig mit uns verwandt. In unserer Familie waren über ihn ganze Legenden im Umlauf, die seinen Namen mit finsteren Schrecken umgaben. Man erzählte von unmenschlichen Grausamkeiten, die er an seinen Bauern verübte. Er hatte zahlreiche Kinder, unter denen er geliebte und verhaßte unterschied. Letztere lebten in der Gesindestube und wurden von ihm, wenn sie ihm unter die Augen kamen, wie Hunde mit Fußtritten bedacht. Seine Frau, ein völlig gebrochenes Geschöpf, wagte nur insgeheim zu weinen. Eine Tochter, ein schönes Mädchen mit traurigen Augen, lief vom Elternhause fort, ein Sohn hatte sich erschossen ...

Alles dies vermochte offenbar auf den Wüterich nicht den geringsten Eindruck auszuüben. Er war ein Herrentypus der Leibeigenschaft in Reinkultur, ein roher Gewaltmensch, der außer seinem Ich und seiner ungezügelten Willkür nichts in der Welt gelten ließ. Die Stadt war ihm zuwider: hier fühlte er gewisse Schranken, und das erregte in ihm ständig eine kochende Wut, die jederzeit auszubrechen drohte. Eben dies war es, was ihn zu einem äußerst lästigen, ja unheimlichen Gast machte.

Diesmal erklärte er, kaum daß er von seiner Kalesche geklettert war, der Mutter kategorisch, er sei am Sterben. Er war nämlich um seine liebe Gesundheit außerordentlich besorgt und pflegte bei der geringsten Unpäßlichkeit alle Welt auf die Beine zu bringen. Ohne Umstände nahm er jetzt Vaters Zimmer in Beschlag, und von dort ertönte bald im ganzen Hause sein Ächzen, Schreien, seine Befehle und Flüche. Als der Vater vom Gericht heimkam, fand er sein Zimmer mit Becken, Kompressen, Kühlwassern, Phiolen erfüllt. In seinem Bette lag der „Sterbende“, der bald dumpf stöhnte, bald laut brüllte, wie ein Wachtmeister auf dem Exerzierplatz. Mein Vater zuckte die Achseln und ergab sich in sein Schicksal.

An die wenigen Tage, die dieser originelle Kranke bei uns zubrachte, erinnere ich mich wie an einen schweren Traum. Niemand im Hause vermochte auch nur für einen Augenblick zu vergessen, daß in Vaters Zimmer der enorme, unheimliche, sterbende Degert lag. Bei seinen rohen Schreien pflegte die Mutter zusammenzufahren und kopfüber zu ihm hinzustürzen. Manchmal, wenn das Schreien und Stöhnen verstummte, war es noch unheimlicher: dann ertönte hinter der verschlossenen Tür ein kentaurisches Schnarchen. Alles ging dann auf Fußspitzen, uns Kinder aber schickte die Mutter aus der Wohnung fort.

Die Krankheit nahm übrigens ein ziemlich unerwartetes Ende. Der Vater brachte einmal, als er vom Gericht heimkam, den lustigen Onkel Peter mit. Onkel Peters Augen lachten, als er meiner Mutter die Hand küßte, und seine Schnurrbartspitzen bewegten sich.

Mit ungezwungener Stimme, wie man sie schon seit mehreren Tagen in unserer Wohnung nicht gehört hatte, frug er sie:

„Nun, wo ist denn euer Kranker?“

Die Mutter blickte ihn ängstlich an und sagte mit flehender Stimme:

„Um Gottes willen, was habt Ihr vor? Nein, nein, bitte, gehen Sie nicht hinein“ ...

Der Vater aber, der die lästige Geschichte satt hatte, öffnete ruhig die Tür, und sie traten beide in sein Zimmer.

Peter ging ohne Umstände an das „Krankenbett“ und sagte laut auf polnisch:

„Ich höre, du liegst im Sterben! Ich bin gekommen, um von dir Abschied zu nehmen ...“

Der Kranke ächzte und fing an sich zu beklagen, daß er Stiche in der Seite verspüre, daß er keinen Stuhl habe und sich überhaupt ganz miserabel fühle.

„Nun, da ist nichts zu machen,“ sagte Peter, „ich sehe's ja selbst: es geht mit dir zu Ende. Sterben müssen wir ja alle. Heute dir, morgen mir ... Laßt doch den Geistlichen kommen, damit er sich vorbereiten kann, wie einem Christenmenschen geziemt ...“

Degert ächzte wieder; Peter indes trat zwei Schritte zurück und fing an, den Sterbenden von Kopf zu Fuß mit den Blicken zu messen.

„Was schaust du mich denn so an?“ brummte Degert weinerlich.

„Nichts, gar nichts ...“ beruhigte ihn Peter und dann, ohne ihn zu beachten, geschäftsmäßig zum Vater:

„Aber ein Sarg wird da nötig sein, – na, ich sage dir, – ach du meine Güte!“ ...

Bei diesen Worten fuhr Degert in die Höhe.

„Anspannen!“ brüllte er so laut, daß sein Kutscher wie eine Bombe aus der Küche stürzte und zu den Pferden lief.

Degert kleidete sich an, wobei er schrie, er werde unterwegs den Geist aufgeben, aber nicht eine Minute länger wolle er in einem Hause verbleiben, wo man sich über einen sterbenden Verwandten lustig mache. Im nächsten Augenblick fuhr die Kalesche vor, und er kletterte, verbunden und in Tücher gewickelt, ohne Abschied zu nehmen hinauf und rasselte davon. Das ganze Haus atmete auf. In der Küche unterhielt man sich abends darüber, wie es den „Leuten“ wohl unter einem solchen Pan ergehen möge, und verschiedene Beispiele herrschaftlicher Unmenschlichkeiten wurden angeführt.

Lange zeigte sich Degert in unserem Hause nicht wieder, nur neue Gerüchte von seinen Ausschreitungen in der Familie und im Dorfe kamen von Zeit zu Zeit zu unseren Ohren.

Seitdem mochte ein Jahr verflossen sein. Der Nebelstreif am Horizont: „Es kommt was“ wuchs, entfaltete sich, nahm feste Umrisse an. Der Vater arbeitete schon in irgendwelchen „neuen Komitees“, doch wurde von dem eigentlichen Sinn und Zweck dieser Arbeit nur wenig und vorsichtig gesprochen.

Einmal saß ich im Eßzimmer mit einem Buch in der Hand, Vater aber las, in einen weichen Lehnstuhl zurückgelehnt, im „Sohn des Vaterlandes“. Es war wohl kurz nach Tisch, denn Vater war noch im Schlafrock und Hausschuhen. Er hatte in irgendeinem neuen Buch gelesen, es sei schädlich nach Tisch zu schlafen, und wollte sich gewaltsam diese Unsitte abgewöhnen; hin und wieder überraschte ihn aber doch der tückische Schlummer im Lehnstuhl. So war es auch diesmal. Im Eßzimmer herrschte tiefe Stille, in der nur von Zeit zu Zeit abwechselnd das Rascheln der Zeitung und ein leises Schnarchen des Vaters zu hören war.

Plötzlich ließen sich im Nebenzimmer schwere eilige Schritte vernehmen, die Tür ging, oder richtiger: flog auf und auf der Schwelle erschien die hagere, große Gestalt Degerts.

Wie ein Gespenst tauchte er auf: mit bleichem Gesicht, zerzaustem Bart und gesträubtem Haar, ein düsteres wildes Flackern in den Augen ... Ins Zimmer getreten, blieb er stehen, dann fing er an auf und ab zu rennen, als wollte er die kochende Wut in seinem Innern bemeistern.

Ich drückte mich in meinen Winkel, um mich möglichst unbemerkbar zu machen, doch hielt mich etwas davon ab, mich aus dem Zimmer zu stehlen: es war die Angst um den Vater. Degert sah so groß und böse aus, während mein lahmer Vater so schwach und hilflos schien ...

Nachdem er ein paar Mal jäh umgekehrt war, blieb Degert plötzlich mitten im Zimmer stehen und sagte:

„Hör mal! Das soll also wahr sein?“

„Was denn?“ frug der Vater, der ihm mit lachenden Augen folgte.

Degert fuhr ungeduldig auf und schrie:

„Hol' euch der Satan! Nun, du verstehst doch, – das, was jetzt an allen Straßenecken geschwatzt wird ... Sogar die Bauernkanaille unterhält sich schon laut darüber ...“

Der Vater fuhr fort, ihn mit heiteren Augen zu betrachten und nickte schweigend mit dem Kopfe.

Degerts Brust entrang sich ein Ächzen oder vielmehr ein dumpfes Brüllen. Er fing wieder an im Zimmer auf und ab zu rennen, dann hielt er schroff inne:

„Soso also ... Nun, dann sage ich euch ... Solange sie mir noch gehören ... Solange ihr noch eure niederträchtigen Projekte ausbrütet ... Ich ... ich ...“

Er hielt inne, vor Wut erstickend. Im Zimmer wurde es unheimlich still. Dann wandte er sich zur Tür, aber gleichzeitig ertönte von Vaters Stuhl der trockene Schlag mit dem Stock auf den Fußboden. Degert blickte sich um, auch ich wandte mich unwillkürlich zum Vater. Sein Gesicht war ruhig, in den großen ausdrucksvollen Augen lag aber ein mir wohlbekanntes Blitzen. Er machte eine Anstrengung, um sich zu erheben, fiel dann in den Stuhl zurück und sagte, Degert fest ins Auge fassend und seinen Jähzorn sichtlich bemeisternd, auf polnisch:

„Hör mal, du – wie nennt man dich gleich ... Wenn du jetzt ... auch nur einen Menschen in deinem Dorf anrührst, dann schwöre ich bei Gott: man wird dich unter Konvoi nach der Stadt bringen. –“

Degerts Augen rundeten sich wie bei einem verwundeten Raubvogel. Grenzenloses Erstaunen blickte aus ihnen.

„Wer ... wer wird wagen?“ keuchte er heiser.

„Das wirst du schon sehen,“ sagte der Vater, wobei er seine Schnupftabakdose ruhig hervorlangte.

Degert betrachtete ihn noch eine Weile mit starrem Blick, dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Von seinen mageren Schultern schien der Mantel plötzlich schlapp und hilflos herabzuhängen. Er schlug nicht einmal die Eingangstür zu und verschwand ungewöhnlich leise ...

Der Vater aber blieb in seinem Lehnstuhl sitzen. Unter dem offenen Schlafrock erzitterte leicht sein mit Tabak bestreutes Hemd. Der Vater lachte sein unhörbares gutes Lachen, das stille Lachen eines beleibten Mannes; ich aber betrachtete ihn entzückt, und freudiger Stolz regte sich in meinem Kinderherzen.

Die Mutter stürzte ins Zimmer und frug ängstlich:

„Was ist mit ihm los? Ist er fort? Um Gottes willen, was habt ihr miteinander gehabt?“

Als Vater das Vorgefallene kurz wiedergab, schlug sie die Hände zusammen:

„Jesus, Maria! Was wird jetzt werden ... Die armen Leute! ...“

„Er wird's nicht wagen,“ antwortete der Vater bestimmt. „Die Zeiten haben sich geändert ...“

Einmal stellte mir der Vater die „philosophische“ Frage: ob man ohne Worte denken könne? Im Zusammenhang mit der geschilderten Szene taucht in meiner Erinnerung ein Abend auf, an dem ich auf der Treppe vor unserem Hause saß, den Himmel über mir betrachtete und über alles, was um mich vorging, „ohne Worte“ nachdachte ... In meinem Hirn waren keine aus Worten geformten Gedanken oder allgemeine Schlüsse vorhanden. „Es kommt was“, – dieses Phantom entfaltete sich vor meinem geistigen Auge in einem Reigen von Bildern. Das geborstene Kreuz ... Die Bauern der Frau Kolanowska ... Die Bauern Degerts ... Seine ohnmächtige Wut ... Die ruhige Sicherheit meines Vaters ... All dies schmolz schließlich durch eine eigenartige Logik der Bilder zu einer starken Empfindung zusammen, die so klar und deutlich war, daß sie heute noch in meinem Gedächtnis lebt.

Kurz zuvor war für Frau Kolanowska ein enormes Klavier in einer Schutzkiste gebracht worden. Sechs Mann mußten zugreifen, um das Möbel vom Wagen abzuladen, und während sie es trugen, dröhnte und klang etwas dumpf im Innern des Kastens. Als er auf den Wagenrand gestellt wurde, und die Männer gerade daran waren, sich ihn auf die Schultern zu laden, gab es eine Sekunde lang eine Verwirrung. Die über den Leuten schwebende Last schwankte plötzlich und schien auf ihre Köpfe niederstürzen zu wollen ... Eine Sekunde lang ... Dann gaben kräftige Arme noch einen Ruck, und die tote Last fing an gehorsam die Treppe hinaufzuschweben ...

Nun wurde mir auf einmal an jenem stillen Abend zu Mute, als ob irgendwo hoch oben in dem nächtlichen Dunkel, über unserem Hof, über der Stadt und weit über dem platten Lande und der ganzen vorstellbaren Welt, eine enorme Last unsichtbar schwebe, dröhne und schwanke und herabzustürzen drohe ... Ein Starker hält sie fest und dirigiert sie und sucht sie auf dem rechten Platz aufzustellen. Wird es ihm gelingen? Wird die Kraft ausreichen? Wird sich die Last heben und aufstellen lassen oder stürzt sie donnernd und krachend auf diese mir bekannte Welt herab?

Nun, die damalige Zeit ist mit ihrer Aufgabe schlecht und recht fertig geworden. Die Last wurde am rechten Platz aufgestellt, und das Leben hat durch den festen Menschenwillen eine neue Richtung erhalten. Seitdem ist bald ein halbes Jahrhundert verflossen... Und jetzt, während ich diese Erinnerungen aufzeichne, schweben über unserem Lande wieder schwere Aufgaben einer neuen Zeit und wieder erdröhnt und schwankt eine Last, die schon angegriffen und hochgehoben, aber noch nicht am rechten Platz niedergestellt ist. Und in meiner Seele entstehen bange Fragen: ob die Kraft ausreichen wird? Ob es gelingt, die Last zurechtzurücken und fest aufzustellen? Wo ist der gute Wille, der dazu gehört, wo das klare Verständnis, wo der einmütige Angriff und wo die starken Arme? ...

In unserer schönen Literatur pflegt die Schilderung jener Zeiten gewöhnlich mit einer Apotheose der Bauernbefreiung gekrönt zu werden. Ein Gedränge freudig erschütterter Volksmassen, Weihrauch, Dankgebete, überschwängliche Hoffnungen ... Ich für mein Teil habe nichts Derartiges zu sehen bekommen, vielleicht weil ich in der Stadt lebte. Allerdings entsinne ich mich einer offiziellen Feierlichkeit, die, sei es aus Anlaß der Bauernbefreiung, sei es aus Anlaß der Eroberung des Kaukasus, in Schitomir stattgefunden hat.

Zur öffentlichen Verlesung des betreffenden „Manifests“ wurden Vertreter der Bauernschaft aus der Umgegend in die Stadt „zusammengetrieben“, und schon am Vorabend wimmelten die Straßen von Bauernkitteln aus grobem Hausmachertuch. Es waren darunter viele Muschiks mit Medaillen auf der Brust, desgleichen viele Weiber und Kinder vom Lande zu sehen.

Der letztere Umstand erklärte sich dadurch, daß im Volke ein unheimliches Gerücht umging: die Gutsherren hätten angeblich beim Zaren Oberhand bekommen und die ganze Bauernbefreiung zu hintertreiben gewußt, das Landvolk werde nunmehr zu dem Behufe in die Stadt getrieben, um daselbst ... massenweise niedergeknallt zu werden! ... In Gutsbesitzerkreisen wiederum wurde gemurmelt, es sei höchst unvorsichtig, in so unruhigen Zeiten solche Massen Landvolk in der Stadt zusammenströmen zu lassen. Auch bei uns wurde darüber am Vorabend der Feier gesprochen. Mein Vater winkte in gewohnter Weise ab: „Belehre Kranker den Medikus!“

Am Tage der Festlichkeit war auf dem großen Platz im Zentrum der Stadt Militär im Carré aufgestellt. Innerhalb des Vierecks standen auf der einen Seite blanke kupferne Kanonen, auf der anderen, ihnen gegenüber, die „freien“ Bauern. Auf ihren Gesichtern lag der Ausdruck einer finsteren Ergebung in das Schicksal. Die Bauernweiber aber, die von der Polizei hinter den Militärkordon zurückgedrängt waren, seufzten bald schwer, bald jammerten sie laut und weinten. Als nach der Verlesung des offiziellen „Papiers“ die Böller losgingen, kreischte die Menge hysterisch auf, und eine Panik entstand ... Die Bauernweiber dachten nämlich, man fange an ihre Männer niederzuknallen ...

So vermachte die alte Zeit der neuen einen Rest ihrer traurigen Erbschaft ...