BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Erster Band

Erste Lehrzeit

Der polnische Aufstand

 

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Wer bin ich?

 

Der Aufstand lag in den letzten Zügen. Man sprach nicht mehr von Schlachten, sondern von einer Abschlachtung und von Menschenjagden. Es wurde erzählt, daß junge Adlige von Bauern die sie gefangen nahmen, lebendig begraben wurden, und ein solches Grab mit lebenden Toten sollte angeblich irgendwo bei Schitomir von Kosaken noch rechtzeitig geöffnet worden sein. Mein Vater bestritt die Glaubwürdigkeit solcher Gerüchte.

In der polnischen Gesellschaft flaute nun die Begeisterung ab, und eine bittere Enttäuschung griff um sich. Gleichzeitig wurde die romantische Schwärmerei für den Glanz und Rausch des ehemaligen Polens, wenn ich nicht irre, von einer neuen demokratischen Strömung abgelöst. Statt des prahlerischen „Noch ist Polen nicht verloren“ sang die Jugend nun das schwermütige und bittere Demokratenlied:

 

Habt Dank, o ihr Herren, ihr Fürsten, Prälaten,

Für das Blut, das unser Land befleckt ...

 

Zu jener Zeit pflegte ein Schriftsteller, Alexander Grosa, der sich in der damaligen polnischen Literatur bereits eines gewissen Ansehens erfreute, meinen Vater häufig zu besuchen. Der Mann besaß in Kompagnie mit einem gewissen Paziorkowski eine Druckerei, die nun konfisziert wurde. Es waren dazumal einfache Sitten: das Inventar der Druckerei wurde bei meinem Vater in der Wohnung untergebracht, und ich vertiefte mich begierig in die Lektüre.

Darunter befanden sich, wie ich mich erinnere, die „Denkwürdigkeiten Jan Chrysostom Passeks“, desgleichen eigene Werke Grosas. Während einiger Abende las er bei uns sein neues Drama in Versen vor, das, wenn ich nicht irre, „Popiel“ betitelt war. Das Stück behandelte den Kampf des einfachen Volkes mit den Rittern und dem Fürsten Popiel. Dieser grausame Herrscher soll laut der Volkslegende zum Schluß von Mäusen aufgefressen worden sein, worauf das Volk an seiner Statt sich den Bauern Piast zum König wählte. Über den Wert des Dramas vermag ich heute natürlich nichts zu sagen, doch sind in meiner Erinnerung einige Szenen haften geblieben, sowie das Leitmotiv des ganzen Stücks: der Gegensatz zwischen den schlichten Tugenden des Bauerntums und dem Hochmut des adeligen Rittertums.

Mein Vater hörte der Vorlesung sehr aufmerksam zu und sagte, als Grosa geendet hatte, in trüber Nachdenklichkeit:

„Wie ich Sie doch beneide, Herr Grosa. Der Dichter lebt eben ein eigenes Leben. Er versetzt sich in andere Zeiten und vergißt die Gegenwart mit all dem Niederdrückenden, das sie hat ...“

Das war das erste allgemeine Urteil über Poesie, das ich gehört habe, wie der Herr Grosa selbst – übrigens ein kleines rundliches Männlein mit stark ausgeprägten Zügen in einem ziemlich gewöhnlichen Gesicht – der erste „lebende Dichter“ war, den ich zu sehen bekam. Heute ist dieser Poet vergessen und verschollen, für die damalige Zeit jedoch waren seine Werke wirkliche Literatur, und ich folgte seinen Rezitationen mit atemloser Spannung. Er las mit großer Begeisterung vor, und mir war zuweilen, als verwandle sich das rundliche Männlein in einen anderen, großen, schönen und interessanten Menschen.

Der Zufall wollte, daß die russische Literatur sich mir zuerst bloß in Gestalt des „Boten des südwestlichen und westlichen Rußlands“ darbot, einer Revue, die von einem gewissen Goworski zu Russifizierungszwecken herausgegeben wurde. Ihr Abonnement war für Beamte obligatorisch, daher lagen in Vaters Zimmer ganze Berge des „Boten“ aufgestapelt; ich glaube jedoch, daß mein älterer Bruder und ich seine einzigen, obendrein nicht allzu eifrigen Leser waren. Inhaltlich war dies ein überaus rohes, tendenziöses Machwerk. Die Russen waren hier als lauter Tugendhelden geschildert, unter den Polen hingegen erschienen als ehrenwert nur diejenigen, die an ihren Landsleuten Verrat übten. All dies kam uns Buben abgeschmackt und verlogen vor.

Es versteht sich, daß dergleichen Literatur weder interessant noch überzeugend wirken konnte. Im Leben sah ich auf der einen Seite das ehrfurchtgebietende Drama im Rychinskischen Hause und die Hinrichtung Stroynowskis, auf der anderen Seite die hübsche geschniegelte Gestalt des grimmigen Gendarmen. Ich glaube deshalb, daß, wenn man mein Herz geöffnet hätte, man auch in dieser Periode meines Lebens sicher gefunden haben würde, daß den größten Raum in meinem Gefühlsleben jene Empfindungen, Gedanken und Eindrücke einnahmen, die ich von der Sprache, der Literatur und den Kultureinflüssen des Vaterlandes meiner Mutter empfing.

Wer aber war ich nach alledem? Dieses schwierige, ja schier unlösbare Problem sollte in meiner unfertigen Knabenseele zum Ausgangspunkt eines kleinen Dramas werden.

Um jene Zeit besuchte das Rychlinskische Pensionat zugleich mit mir ein Pole namens Kutschalski. Das war ein hochaufgeschossener schmächtiger Knabe mit etwas gebückter Haltung, engbrüstig und mit einem schmalen, leicht pockennarbigen Gesicht, wie ich denn überhaupt finde, daß man in der damaligen Zeit viel häufiger Leute mit Spuren dieser Krankheit sah als heutzutage. Ungeachtet seiner schlechten Haltung und des pockennarbigen Gesichts war er von einer undefinierbaren angeborenen Anmut, und seine kleinen, ein wenig schwermütigen, aber sehr lebhaften, schwarzen Augen hatten einen ungemein anziehenden, lieben Blick. Mir gefiel alles an ihm: der propre, auf seiner schlanken Figur gut sitzende Anzug, sein eigentlich etwas linkischer und doch eleganter Gang, sein stilles Lächeln, die eigentümliche Zurückhaltung, die er gegenüber der übrigen lärmenden Bande der Pensionäre an den Tag legte, und auch die Gebärde, mit der er, nachdem er an der Tafel seine Aufgabe hergesagt hatte, die schlanken Finger mit einem weißen Tüchlein abzuwischen pflegte.

Mir war er unter den Schülern sofort aufgefallen, und wir näherten uns allmählich, wie das eben Schulbuben tun: wir erwiesen uns kleine Gefälligkeiten, teilten miteinander Stahlfedern und Bleistifte; in den Freistunden pflegten wir, von den anderen Kameraden abgesondert, miteinander herumzugehen und über allerlei zu plaudern, worüber wir mit den anderen nicht hätten sprechen mögen.

Manchmal war es mir einfach angenehm, ihn zu betrachten, sein stilles sinnendes Lächeln aufzufangen. Daß er ein Pole, ich aber ein Russe war, dieser Umstand warf auf unsere aufkeimende Knabenfreundschaft nicht den geringsten Schatten.

Die Annäherung zwischen uns beiden dauerte auch fort, als der Aufstand ausbrach. Kutschalski war unerschütterlich überzeugt, daß die Polen siegen und das alte polnische Reich in seinem früheren Glanze wiederauferstehen würde. Einer von den russischen Schülern sagte einmal in seiner Gegenwart, Rußland sei der größte Staat in Europa. Mir war diese Eigentümlichkeit meines Vaterlandes damals noch nicht bekannt, und wir begaben uns beide unverzüglich zur Landkarte, um die kühne Behauptung nachzuprüfen. Ich sehe noch wie heute die ruhige Unerschütterlichkeit, mit der Kutschalski nach sorgfältiger Prüfung der Landkarte sagte:

„Das ist eine russische Landkarte. Und das ist unwahr.“

Diesem meinem Freunde erzählte ich unter anderem auch jenen Traum, in dem ich solche Angst um das Schicksal der russischen Soldaten und Afanassijs ausgestanden hatte.

„Glaubst du an Träume?“ frug Kutschalski.

„Nein,“ antwortete ich. „Mein Vater sagt, das sei Unsinn, und Träume verwirklichen sich nie. Auch ich denke so. Ich habe jede Nacht verschiedene Träume.“

„Ich aber glaube daran,“ erwiderte er. „Und dein Traum bedeutet, daß wir unbedingt siegen werden.“

Bald sollte sich zeigen, daß meinem Traum diese Bedeutung nicht zukam, und ich glaubte zu merken, daß Kutschalski mich zu meiden anfing. Mich betrübte das sehr, zumal ich mir ihm gegenüber keiner Schuld bewußt war. Im Gegenteil war er mir jetzt mit seiner schwermütigen Nachdenklichkeit noch anziehender als früher. Einmal in der Pause, als er abseits von den Kameraden auf und ab ging, trat ich an ihn heran:

„Höre mal, Kutschalski,“ sagte ich, „du hast wohl einen Kummer?“

Er blickte mich mit traurigen Augen an und antwortete, ohne seine Wanderung zu unterbrechen:

„Ja, ich habe einen großen Kummer ...“

„Aber, warum sagtest du mir's nicht? Und warum meidest du mich?“

„So ...“ entgegnete er. „Mein Kummer geht dich nichts an. Du bist ein Moskowite.“

Ich fühlte mich beleidigt und ging fort, aber meine Seele war verwundet. Seitdem bedrückte mich stets, – ob ich mich abends zu Bett legte, oder morgens aufstand, – das schmerzliche Bewußtsein der mir unerklärlichen Entfremdung Kutschalskis. Mein Knabenherz war tief verletzt und litt sehr unter der erfahrenen Kränkung.

Unter den Schülern des Pensionats war einer, dem ich die gleichen Gefühle einflößte, wie Kutschalski mir. Seinen Familiennamen habe ich vergessen, mag er meinetwegen Stozki heißen. Das war ein winziges, höchst bewegliches, ausgelassenes und gutmütiges Bürschlein, das oft als Dritter im Bunde mit Kutschalski und mir in den Pausen zu spazieren pflegte. Auch ihm fiel unsere Entfremdung auf, und ich erzählte ihm, welche Antwort ich erhalten, als ich Kutschalski über die Ursache seines Kummers befragt hatte. Das Bürschlein wandelte darauf mehrmals mit Kutschalski, wobei er seine prickelnde Munterkeit zu zügeln und den zurückhaltenden Ton meines ehemaligen Freundes zu treffen suchte. Endlich glaubte Stozki das Nötige herausgekriegt zu haben und meinte zu mir einmal während der Pause:

„Er sagt, du seist ein Moskowite ... du hättest im Traume geweint, weil die Polen über die Russen hätten siegen können, und er denkt, daß du dich jetzt ... freust ...“

Stozki fügte hinzu, offenbar sei jemand von Kutschalskis nächster Verwandtschaft gefallen, verwundet oder gefangen genommen.

Ich war verblüfft. Ich hatte also einen Freund verloren aus keinem anderen Grunde, als weil er Pole, ich aber Russe war, und weil mir der Afanassij und die russischen Soldaten leid taten, als ich dachte, sie könnten getötet werden! ... Der Verdacht, ich könnte mich freuen, daß jetzt Polen auf dem Schlachtfelde fielen, daß Felix Rychlinski verwundet war, daß Stassiek im Gefängnis saß und nach Sibirien verschickt werden sollte, verletzte und verbitterte mich tief, so daß ich beinahe zu weinen anfing.

„Ich freue mich nicht,“ sagte ich zu Stozki, „aber ... wenn es so steht ... Nun, meinetwegen, dann bin ich eben ein Russe, und er mag denken, was er will.“

Ich machte Kutschalski gegenüber keine Annäherungsversuche mehr. So bitter es mir war zu sehen, wie er allein oder von neuen Freunden umgeben einherging, ich hielt an mich, wenngleich ich das bohrende und nagende Gefühl nicht loswerden konnte, etwas Teures, Liebgewordenes, das meinem Knabenherzen zum Bedürfnis geworden war, unwiederbringlich verloren zu haben.

Bald trat in dieser Lage der Dinge eine Wendung ein, indem sich noch eine dritte Nationalität meldete, die mich gleichfalls für sich beanspruchte. Dies kam so. Einer unserer jungen Lehrer, der Pole Wysozki, war auf die Universität gegangen oder ins Ausland gefahren. An seine Stelle wurde ein neuer Lehrer berufen, wenn ich mich recht erinnere hieß er Butkiewitsch.

Das war ein junger Herr von kleiner Statur, mit sehr lebhaften Bewegungen und lustigen schwarzen Augen. Seine ganze Erscheinung kam uns absonderlich und befremdlich vor.

Vor allem fiel an ihm der lange dünne Schnurrbart auf, den er nach Kosakenart herunterhängen ließ, während das Haupthaar um den Kopf glatt herabgekämmt und kreisrund abgeschnitten war. Er trug eine blaue Kosakenjacke, die vorne offen stand und aus der ein ukrainisches buntgesticktes Hemd mit rotem Bändchen hervorguckte. Die weite blaue Pluderhose war um die Hüfte von einem bunten Gürtel zusammengehalten, unten aber in weiche Lackstiefelschäfte gesteckt. An einem Knopf der Jacke baumelte auf der Brust ein Tabaksbeutel aus Schweinsblase, der mit einem dünnen bunten Schnürchen zugebunden war. Die originelle Tracht krönte ein graues Lammfellmützchen, das er beim Eintreten in das Klassenzimmer auf das nächste Bett hinwarf.

Gleich zu Beginn des Unterrichts nahm Herr Butkiewitsch die Schülerliste vor und begann laut die Namen zu verlesen. Dabei frug er immerfort: „Pole? Russe? Pole? Pole?“ Endlich kam er auch an meinen Namen.

„Russe,“ antwortete ich.

Butkiewitsch richtete seine munteren Äuglein auf mich und sagte:

„Das schwindelst du, Brüderchen.“

Ich wurde sehr verlegen und wußte nicht, was ich antworten sollte. Nach der Stunde kam Butkiewitsch auf mich zu, fuhr mit den Fingern scherzhaft durch mein Haar, bog meinen Kopf zurück und sagte:

„Du bist kein Moskowite, sondern ein Kosakenenkel und -urenkel, aus einem freien Kosakengeschlecht, verstanden?“

„Ich verstehe,“ stotterte ich, obwohl ich, wie ich gestehe, herzlich wenig verstand und nur verwirrt war. Übrigens übte das Wort vom „freien Kosakengeschlecht“ eine undefinierbar verlockende Wirkung auf mich aus.

„Nun, warte mal, ich bringe dir ein Büchlein mit, aus dem wirst du noch mehr erfahren,“ sagte er zum Schluß.

Am nächsten Tage brachte mir Butkiewitsch in der Tat eine kleine Broschüre mit, – es war, glaube ich, eine Kijewer Ausgabe –, die den Titel trug: „Vom Tschupryna und Tschortowus“. Auf der Vignette des Umschlags war ein toter Kosake mit Haarzopf und riesenhaftem Schnurrbart, mit ausgebreiteten mächtigen Armen auf einem gefällten Baumstamm liegend, dargestellt. Es war dies eine Erzählung, die angeblich von einem heeresdienstpflichtigen, also sog. Registerkosaken vorgebracht wurde. Dieser schilderte, wie er an der Verfolgung einer von den Saporoger Rottenführern Tschupryna und Tschortous geführten Hajdamakenschar beteiligt war 1). Die Hajdamaken hatten einen Einfall gemacht, polnische Adelige, Juden und katholische Geistliche abgeschlachtet, polnische Gutshöfe und Schlösser niedergebrannt. Eine polnische Militärabteilung drängte sie schließlich mit Hilfe von Registerkosaken auf irgendeine zwischen dem Fluß und Sümpfen gelegene Insel zurück. Die Hajdamaken verschanzten sich und feuerten lange auf ihre Belagerer, bis nachts einer der Registerkosaken den Polen einen Übergang über die Sümpfe verriet. Am Morgen stürzte sich das polnische Heer auf die Verschanzung, die Hajdamaken leisteten verzweifelten Widerstand, bis sie schließlich alle wie ein Mann niedergeschossen wurden; als letzte fielen von der Hand ihrer Brüder die Rottenführer Tschupryna und Tschortous; einer von diesen Helden war es eben, der auf der Vignette dargestellt war. Die Geschichte schloß mit der entsprechenden Moral: der Registerkosake setzte seinen Kameraden auseinander, wie schlecht es von ihnen war, gegen die eigenen Brüder, die Hajdamaken, zu kämpfen, die doch für die Freiheit gegen ihre polnischen Bedrücker fochten.

Die Broschüre übte auf mich keineswegs den von Butkiewitsch erwarteten Eindruck aus. Die erzählende Ichperson war hier ein Registerkosake, ich aber war kein Registerkosake und wußte nicht einmal, was das für einer wäre. Die Moral lautete, daß man die Hajdamaken nicht vertilgen, sondern sie im Gegenteil unterstützen solle, aber es gab ja keine Hajdamaken mehr. Auch die glänzenden Bilder und Gestalten waren hier nicht zu sehen, die einst im polnischen Theater meine Einbildungskraft entflammt hatten. Da war nichts, als eine reichlich farblose Erzählung, wie die Hajdamaken kamen, um den polnischen Adel abzuschlachten, und wie der polnische Adel hinwiederum mit Hilfe der „Legistrischen“ die Hajdamaken abschlachtete. Der Erzähler fügte von sich aus hinzu, daß die Hajdamaken im Recht, die „Legistrischen“ aber im Unrecht waren, mich ließen jedoch die einen wie die anderen kalt.

Nur eine Schlußfolgerung schien sich aus der Butkiewitsch'schen Entdeckung in bezug auf meine wahre Nationalität zu ergeben: wenn ich kein Moskowite war, so hatte offenbar mein gewesener Freund Kutschalski keinen Grund, mich zu meiden. Dieser Gedanke tauchte bei mir auf, doch mein verletzter Stolz erlaubte mir nicht, den ersten Schritt zur Wiederaussöhnung zu tun. Diese unternahm für mich mein kleiner Freund Stozki. Einmal wandelten wir zwei im Hof, als zufällig der wie gewöhnlich einsame Kutschalski uns entgegenkam. Stozki faßte ihn mit affenartiger Behendigkeit am Ärmel und rief:

„Hör mal, Kutschalski. Komm mit uns. Er ist ja gar kein Moskowite. Butkiewitsch sagt, er sei ein Ukrainer.“

Kutschalski schien einen Moment zu schwanken, dann nahm sein Blick den gewohnten Ausdruck starrer Schwermut an.

„Das ist noch schlimmer,“ sagte er, indem er seinen Arm leicht befreite, „die begraben unsere Leute lebendig“ ...

Diese paar Worte machten mit einemmal alle Bemühungen meines ukrainischen Lehrers zunichte. Wenn nachher Butkiewitsch mich in seiner Mundart über den „Tschupryna und Tschortowus“ anzureden versuchte, senkte ich die Augen, errötete, preßte die Lippen zusammen und schwieg.

Es ist möglich, daß dabei noch ein äußerer Umstand mitwirkte. In unserem Hause herrschte die größte Aufrichtigkeit. Beim Vater habe ich nie einen gekünstelten Ton gehört. Bei der Mutter ebensowenig. Davon kommt es wohl, daß wir Kinder für alle Künstelei immer einen besonders scharfen Instinkt hatten. Nun kam mir die ganze Erscheinung des neuen Lehrers zwar nett, sogar interessant, aber ... unecht vor. Er kleidete sich, wie sich kein Mensch bei uns in der Stadt oder auf dem Lande kleidete. Die feine Kosakenjacke, der Tabaksbeutel am Schnürchen, das Pfeifchen in der Tasche der weiten Pluderhose, der Kosakenschnurrbart, all dies wirkte nicht einfach und natürlich, sondern geziert und gemacht. Auch sprach er nicht wie alle Menschen, sondern unterstrich gleichsam: merkt euch, ich spreche ukrainisch. Und ich fühlte, daß, wenn ich ihm, wie er wünschte, gleichfalls in ukrainischer Mundart antworten würde – die ich übrigens nur mangelhaft beherrschte – so würde auch das nicht echt, sondern nur gemacht sein, weshalb ich bei diesem Gedanken Scham empfand.

Herrn Butkiewitsch ärgerte mein Benehmen, wie ich glaube, ein wenig. Er schrieb meinen Starrsinn polnischen Einflüssen zu und ließ einmal eine Bemerkung über meine Mutter, die „Polakin“, fallen. Dies war so ziemlich das Unglücklichste, was er tun konnte. Ich liebte meine Mutter schon immer zärtlich, dazumal aber steigerte sich mein Gefühl für sie bis zur leidenschaftlichen Vergötterung ... Mit dieser kleinen Episode hören meine Erinnerungen an den Herrn Butkiewitsch auf.

Die glückliche Eigenschaft der Kindheit, immer nur von den Eindrücken des Tages zu leben, und sich vom glitzernden Strom der Geschehnisse weiter und weiter mitfortreißen zu lassen, erlaubte mir nicht, allzu lange bei jenen nationalen Wirrsalen meiner Seele zu verweilen. Die Tage jagten einander. Die Bekehrung zum Ukrainentum war mißlungen, das kleine Drama der zerrissenen Knabenfreundschaft war verschmerzt, und das Problem meiner Nationalität blieb vorerst ungelöst.

Doch auch ungeformt und ungelöst, wie es war, lag es irgendwo auf dem Grund meines Bewußtseins und stieg des Nachts, wenn die lauten Eindrücke des Tages schwiegen, als ein Reigen wirrer Traumbilder vor mir auf.

Einen dieser Träume habe ich noch lebhaft in der Erinnerung bewahrt. Es war früher Morgen, und ich hörte im Schlaf, wie meine Mutter aus dem Nebenzimmer sagte, man solle bei uns die Läden aufschließen. Das Zimmermädchen trat ins Schlafzimmer, zog den Riegel zurück und ging hinaus, um den Befehl auszuführen. In dem Moment aber, wie sie aus dem Zimmer trat, und die Tür hinter ihr knarrte, verfiel ich wieder in den unterbrochenen Morgenschlaf. Plötzlich sah ich mich als Napoleon. Ich hatte sein Gesicht, trug seinen grauen Rock, seinen Dreispitz und seinen Degen. Ich war nach Rußland gekommen, um hier irgendeine wichtige Angelegenheit zu erledigen, irgend jemandem unbedingt beizuspringen. Was das für eine Angelegenheit war, und wer meine Hilfe erheischte, war nicht klar. In einem wirren Knäuel unbestimmt schmerzlicher Bilder schwebten die Gestalten der Rychlinskis, der Soldat Afanassij, meine weinende Mutter, Stroynowskis Mutter ... Irgendwo waren vereinzelte Schüsse, Schreie und Stöhnen hörbar. Ich irre lange inmitten dieser unbestimmten Ängste und Gefahren herum, suche nach jemandem und kann ihn doch nicht finden. Schließlich werde ich von irgend jemand gefangen genommen und just in demselben Häuschen in der Wilnaer Straße eingesperrt, in dem das berühmte Fräulein Pustowoytow, die Johanna d'Arc des polnischen Aufstandes, gefangen saß. In dem Häuschen herrscht nach Dunkelheit, nur durch die Ritzen der Fensterläden dringen Sonnenstrahlen ein, vor der Tür aber höre ich Waffengeklirr. Plötzlich stürzen Soldaten ins Zimmer. Sie stellen sich in einer Reihe auf. Ich stelle mich ihnen gegenüber und öffne meinen Uniformrock. Die Salve kracht, in der Brust fühle ich einen jähen Schlag und Wärme, und blendendes Licht strömt von dort, woher ich den Schlag empfing ...

Ich erwachte. Der Laden wurde gerade geöffnet; das Sonnenlicht flutete ins Zimmer, und die krachende Salve rührte vom Fallen des eisernen Riegels am Fensterladen her. Ich konnte kaum fassen, daß mein ganzer langer Traum mit dem vielen Suchen, Irren, den verwickelten Abenteuern in den wenigen Sekunden Raum gefunden hatte, die das Dienstmädchen brauchte, um draußen den Laden zu öffnen.

Mein Herz schlug bange, und in der Brust spürte ich noch den Schlag und die Wärme. Diese Empfindung schwand natürlich bald, aber ich entsinne mich jetzt noch deutlich des Angstgefühls, mit dem ich im Traume nach etwas suchte, was mir so wichtig schien, und das doch nicht zu finden war, während um mich her im wirren Knäuel der Traumbilder jemand schluchzte und ächzte und rang ... Jetzt scheint es mir, daß jener Knäuel, der mich ängstigte und verwirrte, aus den drei „Nationalismen“ verflochten war, von denen jeder auf meine wehrlose Seele Anspruch erhob und ihr die Verpflichtung aufdrängen wollte, jemanden zu hassen und zu verfolgen.

 

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1) Die Kosaken wurden sowohl im alten Polen wie in Rußland zum Heeresdienst gepreßt, was jedoch bei der Ungebundenheit dieser zumeist aus polnischer wie aus russischer Leibeigenschaft entflohenen Elemente mehr schlecht als recht gelang. Am unbotmäßigsten waren die „Saporoger“ – hinter die Stromschnellen („Porogi“) des Dnjepr ausgewanderten Kosaken, die es vorzogen, als „Hajdamaken“ mit ihren Raubzügen die ganze Ukraine unsicher zu machen und der polnischen Adelsherrschaft zu trotzen. D.Ü.