BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Erster Band

In der Kreisstadt

Lehrjahre

 

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Der erste Eindruck des neuen Gymnasiums.

 

Ich wurde also doch aufgenommen. Bald nach der Prüfung, an einem leuchtenden Sonntagsmorgen, da ich nicht wußte, was ich anfangen sollte, schlenderte ich auf den polnischen Friedhof. Er lag auf der Vorstadt „Wola“, wo die Stadt unmerklich in plattes Land überging. Ein kleines gemütliches Kirchlein stand in nächster Nachbarschaft mit strohgedeckten Bauernhütten inmitten von Gräbern und Kreuzen. Es lag etwas ungemein Anheimelndes in diesem kleinen weißen Tempel, seinen helltönenden Glöckchen und den klangvollen Tönen der Orgel, die durch die bunten Fensterscheiben ins Freie drangen und über den Gräbern schwebten. Wenn die Orgel verstummte, konnte man das leise Rauschen der schlanken Birken vernehmen und das Flüstern der Betenden, die in der kleinen Kapelle keinen Platz mehr gefunden hatten und draußen am Eingang der Kirche knieten.

Ich schlenderte lange zwischen den Grabsteinen, als mir plötzlich an einer Stelle, die mit Gras und Gesträuch dicht bewachsen war, ein merkwürdiger dunkler Fleck auffiel. Ich trat näher und gewahrte ein kleines Männlein in blauer Uniform mit Messingknöpfen. Es lag auf einer Grabsteinplatte und kratzte angelegentlich mit einem Federmesser darauf herum, wobei es dermaßen in sein seltsames Tun vertieft war, daß ihm mein Herannahen unbemerkt blieb. Kaum hatte ich aber Zeit, zu dem Schluß zu kommen, daß es für mich auf alle Fälle besser sei, den Rückzug anzutreten, als der Unbekannte aufsprang, seinen von der Erde beschmutzten Rock beklopfte und dabei meiner ansichtig wurde.

„Wer ist denn das?“ fragte er mit einem kreischenden hohen Tenor. „Aha, ein Neuling? Wie heißest du? Nimm dich in acht, du!“

Und mir aus irgendeinem Grunde mit dem Finger drohend, entfernte er sich mit einem lächerlichen holprigen Gang. Die kleine Gestalt verschwand bald hinter dem Grün der Gräber. Kaum war der Mann fort, als hinter dem nächsten Grabgewölbe drei Schüler hervorsprangen.

„Was hat er zu dir gesagt?“ fragte einer von ihnen, Kroll, mit dem ich bereits bekannt war. Die beiden anderen stürzten sofort zur Grabplatte und fingen ihrerseits an, darauf fleißig zu kratzen. Als sie mit ihrer Verrichtung fertig waren, und sich mit befriedigten Mienen erhoben, betrachtete ich neugierig ihre Leistung. Auf der Platte stand unter den traditionellen Buchstaben R. I. P. (requiescat in pace) ein Knabenvorname und ein Familienname (sagen wir: Hänschen Jankiewitsch), dann Geburts- und Todesdatum. Darüber waren in einer tiefen Furche der Platte, mit Nagel und Taschenmesser ausgekratzt, zwei polnische Worte zu lesen: Ofiara srogosci (Das Opfer der Strenge). Meine neuen Kameraden erzählten mir die Bedeutung der Inschrift.

Die Begebenheit hatte sich schon vor mehreren Jahren ereignet. Der kleine Jankiewitsch war bei der Gymnasialobrigkeit unbeliebt und sollte einmal wegen „Unaufmerksamkeit beim Unterricht“ im Karzer nachsitzen. Der Knabe erklärte, er fühle sich krank, und bat, nach Hause gehen zu dürfen, ihm wurde jedoch kein Glauben geschenkt. Der Karzer befand sich im zweiten Stock, im hintersten Winkel des Gebäudes, zu dem ein besonderer abgeschlossener Korridor führte.

Nachmals hatte auch ich mit diesem gastlichen Raum Bekanntschaft zu machen und jedesmal, wenn sich der Pförtner mit Schlüsselgerassel entfernte und seine Schritte in dem langen leeren Korridor verhallten, mußte ich an den kleinen Jankiewitsch denken, wie ihm wohl, dem kranken Knaben, in dieser Einsamkeit schrecklich zumute gewesen sein mochte. Irgendwo knarrte weit unten die Blocktür am Ausgang; bange verworrene Geräusche huschten über die Korridore und fingen sich in den Winkeln. Dann erstarb alles. Durch die obere Luftklappe des Karzers hörte man die Kastanienbäume des dichten Schulgartens rauschen. In den feuchten kalten Winkeln kroch die schwarze Dämmerung eines frühen Abends herauf ...

Als der Pförtner abends kam, um den kleinen Jankiewitsch zu befreien, fand er ihn besinnungslos in einem Knäuel dicht an der Tür liegen. Der Mann schlug Lärm und rief die Gymnasialobrigkeit herbei. Diese ließ den Knaben in einem Wagen nach Hause transportieren und seiner Mutter übergeben. Er erkannte aber niemanden, fieberte, wälzte sich in größter Angst, schrie, verbarg sich immerzu vor einer eingebildeten Gefahr und starb schließlich, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben.

Als mir diese Begebenheit berichtet wurde, befanden sich weder die Schuldigen noch die Kameraden des Opfers mehr auf dem Gymnasium. Doch ging die traurige Überlieferung von Generation auf Generation über, und die Schüler hielten es für ihre Pflicht, die Inschrift auf der Grabplatte des kleinen Märtyrers immer wieder zu erneuern. Dieses Gehaben gestaltete sich um so interessanter, als der Pedell Ditjatkiewitsch – im Pennälerjargon Didonus genannt – es seinerseits als Pflicht betrachtete, die aufrührerischen Worte von Zeit zu Zeit wegzukratzen. Die Furche der Platte vertiefte sich durch diesen Wettstreit immer mehr, aber die Inschrift erstand aus ihr immer wieder und erhielt das Gedenken an die schulobrigkeitliche „Strenge“ und an ihr Opfer lebendig ...

Derart war der erste Gruß, mit dem mich das Realgymnasium von Rowno bewillkommte.