BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Zweiter Band

Neue Strömungen

 

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Was soll ich werden?

 

Ich war in der letzten Klasse, als im Pensionat meiner Mutter zwei Brüder Konachewitsch, Ludwig und Ignaz, wohnten. Sie waren, ungeachtet des polnischen Vornamens des älteren, beide griechisch-orthodox. Trotz der Sticheleien des Schulgeistlichen Krjukowski wollte Konachewitsch seinem Vornamen nicht entsagen und antwortete in der Masse auf alle Fragen hartnäckig: „Ich heiße Ludwig. So bin ich getauft worden.“

Das war ein Jüngling von reiferem Alter, der sich auf dem Gymnasium etwas über Gebühr verweilt hatte. Untersetzt, breitschultrig, mit steiler Stirn und krummen Beinen, erinnerte er an einen Hunnen und wurde manchmal in der Schule auch so genannt. Mich interessierte an ihm die eigentümlich überlegene Haltung, die er sich seinen kleinen Klassenkollegen gegenüber zu geben wußte, außerdem pflegte er sich oft in dunklen Andeutungen zu ergehen, als berge er irgend ein tiefes Geheimnis in der Brust.

Einmal, als alle im Pensionat bereits zu Bett waren, und die Dunkelheit des Zimmers von leisen Atemzügen der Schlafenden erfüllt war, wälzte ich mich noch lange auf meinem Bett herum, ohne einschlafen zu können. Ich sann darüber nach, wohin ich mich nach Beendigung des Gymnasiums wenden sollte. Die Universität war mir verschlossen, meine Mutter hatte aber keine Mittel, um mich noch ein Jahr zu erhalten, damit ich mich für das Abiturium vorbereitete.

„Sie schlafen nicht?“ rief mich leise Konachewitsch an.

„Nein.“

„Sie machen sich Gedanken? Worüber denn?“

„Ich habe schon manches, worüber ich nachdenken muß.“

„Ach ja, Sie beendigen ja das Pennal ... Sie sind wohl dabei, eine Karriere zu wählen?“

„Ja, das stimmt,“ gab ich zur Antwort.

Er schwieg eine Weile, gleichsam den Atemzügen der schlafenden Kameraden lauschend, dann sagte er mit gedämpfter Stimme:

„Sie sind doch ein glücklicher Sterblicher ...“

„Wieso denn?“

„Wieso?“ – Er seufzte tief. – „Sie haben kleine Wünsche und kleine Aufgaben vor sich. Deshalb werden Sie auch alles im Leben erreichen: Sie werden den Kursus absolvieren, eine Anstellung bekommen, heiraten ... Und Ihr Leben wird auf glatter Bahn dahinlaufen ...“

„Und das Ihrige?“ frug ich unwillkürlich in der Dunkelheit lächelnd.

„Das meinige?“ Er ließ wieder einen tiefen stürmischen und schwermütigen Seufzer hören. „Mir ist ein anderes Los beschieden. Mich lockt das Unerreichbare. Mein Leben wird einen stürmischen Verlauf nehmen, es wird auf seinem Wege alles vernichten, allen, die das grausame Geschick an mich ketten wird, Leid bereiten. Vor allem denen, die mich lieben ...“

„Begreife nicht,“ versetzte ich naiv, „weshalb Sie eine Karriere wählen, die mit solchen Unannehmlichkeiten verbunden ist ...“

Konachewitsch lächelte bitter und setzte sich auf seinem Bett aufrecht.

„Ihre Frage beweist, daß Sie in Ihrer glücklichen Ahnungslosigkeit nicht einmal eine Natur von meiner Art zu begreifen imstande sind. Karriere? Nur für Glückspilze wie Sie gibt es eine Karriere, so etwa eine schnurgerade Landstraße, hübsch rechts und links von Meilensteinen eingefaßt. Mein Lebensweg – das sind einsame Felsen, Schluchten, Abstürze, Irrlichter ... Eine schwarze Wolke, in der man nichts unterscheiden kann, die aber gewitterschwanger ist ... Glauben Sie an Gott?“

Irgend etwas hinderte mich, mich in Offenherzigkeiten einzulassen, und ich gab kurz zurück:

„Ja.“

„Nun und ich,“ erwiderte Konachewitsch finster, „ich habe den Glauben der Kinderjahre längst verloren ...“

Ich war begierig zu erfahren, was hinter diesem Nebel düsteren Unglaubens und gewitterschwangerer Wolken stecken mochte, doch da ließ sich auf dem benachbarten Bett Bewegung vernehmen, und der jüngere Konachewitsch mischte sich ins Gespräch. Das war ein nicht sonderlich begabter, aber ernster und fleißiger Junge. Der Ältere war früher sein Abgott gewesen. Jetzt hatte er ihn eingeholt, und beide waren in einer Klasse.

„Ach Ludwig, Ludwig,“ sagte er vorwurfsvoll, „wieder redest du allerlei Unsinn, und Algebra für morgen hast du sicher nicht präpariert. Wolken, Gewitter ... und morgen gibt es sicher eine schlechte Note.“

„Geschwätz,“ erwiderte ärgerlich der Ältere. „Ich kann's besser als du.“

„Du kannst?“ bezweifelte Ignaz. „Wann hast du denn präpariert? Paß auf, im Quartalszeugnis gibt es wieder schlechte Noten. Es ist mir direkt fatal, mit dir nach Hause zu fahren, was soll man bloß wieder den Alten vorreden?“

Ludwig ließ darauf ein demonstratives Schnarchen vernehmen, Ignaz jedoch fuhr fort, sich auf seinem Bett herumzuwälzen und zu brummen.

„Auch das mit dem Herrgott ist Schwindel. Erst gestern hast du ja auf Knieen gebetet. Glaubst du, ich hab's nicht gesehen? Ach Gott, hättest du bloß nicht diesen Slowazki gelesen ... Newtons Binom vornehmen wäre gescheiter gewesen.“

Endlich schwieg auch er. Dann steckte Ludwig wieder den Kopf unter der Decke hervor und sagte zu mir leise:

„Sie lachen wohl über mich?“

„Nur ein klein wenig,“ erwiderte ich.

„Sie sind gescheiter, als ich dachte. Ich wollte Sie zum besten haben.“

„Ich danke Ihnen.“

Am andern Morgen schämte er sich ein wenig und wendete die Blicke ab, verfiel jedoch bald wieder in seinen großartig-rätselhaften Ton à la Byron. Er fühlte sich gleichwohl zu mir hingezogen, und wir gingen oft zu dritt spazieren. Der Dritte war ein gewisser Kordezki.

Das war ein sehr hübscher Jüngling mit aschblondem Haar, mattem Teint und ausdrucksvollen Augen. Er war erst vor kurzem aus Bielaja Zerkoff auf unser Gymnasium zugezogen und hatte in seiner Klasse noch keine Freunde. In den Pausen pflegte er mit sinnendem Gesicht allein einherzuwandeln. Die Augenbrauen zog er dabei gewöhnlich ein wenig in die Höhe, wodurch sich seine Stirn in kummervolle Falten legte und seinem hübschen Gesicht einen besonderen melancholischen Nimbus verlieh.

Ich weiß nicht mehr, wie unsere Bekanntschaft zustande kam, genug, er interessierte mich, ebenso wie Konachewitsch, und oft wandelten wir in den Pausen selbdritt, obwohl die beiden einander eigentlich nicht recht leiden mochten.

Es währte nicht lange, da bekam ich auch von Kordezki allerlei dunkle Andeutungen zu hören. Bedrückte meinen Konachewitsch seine düstere Zukunft, so litt Kordezki hinwiederum unter einer schaudererregenden Vergangenheit... wüßte ich um ihn alles, meinte er, dann würde ich mich sicher mit Abscheu und Grauen von ihm abwenden. Übrigens sei es auch jetzt noch nicht zu spät. Ich sollte ihn nur seinem Schicksal überlassen, obwohl ich der einzige Mensch sei, den er lieb habe ...

„Sie sollen es wissen,“ erklärte er einmal, als wir allein waren: „ich bin ein entsetzlicher Schuft, ein namloser Lump ... ein Verbrecher ...“

Seine Brauen hoben sich dabei in die Höhe, und die Kummerfalte auf der Stirn vertiefte sich. Zugleich kam es mir aber vor, als spreche er die Worte „Schuft“ und „Verbrecher“ gleichsam schmelzend aus, als genieße er seine Ruchlosigkeit und sei stolz auf sie.

Einmal erschien er nach den Ferien in besonders düsterer Verfassung und lüftete zum Teil den Vorhang seiner abgrundtiefen Verworfenheit: in finster-reumütigen Bekenntnissen machte er Andeutungen auf ein junges Wesen ... ein Naturkind... ein Mädchen aus einer armen Familie. Sie vergötterte ihn. Er aber habe sie umgebracht ... Diesen Sommer, nachts ... in einem tiefen Teich ...

Ich hörte ganz ruhig zu, zumal ich nicht ein Wort von alledem glaubte, vielmehr die aufrichtige Melancholie, die aus seiner Stimme hervorklang, auf die ihm bevorstehende Nachprüfung in der französischen Sprache zurückführen zu müssen glaubte.

„Wenn ich obendrein morgen durchfalle,“ fügte er finster hinzu, wobei er mir ein versiegeltes Kuvert hinhielt, „dann schicken sie diesen Brief ab ...“

„An sie?“ frug ich unschuldig. Er warf mir einen raschen mißtrauischen Blick zu und versetzte ärgerlich:

„Sie liegt im Grabe.“

„Warum wollen sie denn den Brief nicht selber aufgeben?“

„Morgen werden sie den Grund erfahren.“

Am anderen Morgen begab ich mich in die Schule, um mich über das Schicksal Kordezkis zu erkundigen. Auch Konachewitsch hatte leider Gottes eine Nachprüfung. Kordezki fiel als erster durch. Er trat aus der Klasse und drückte mir traurig die Hand. Sein Gesichtsausdruck war schlicht und sprach von aufrichtigem Kummer. Als wir den Korridor verließen und auf den Hof traten, hielt ich doch nicht an mich und zog das Kuvert aus der Tasche.

„Soll ich's aufgeben?“

Er nahm mir das Kuvert aus der Hand, schleuderte es fort und sagte mit leichtem Erröten.

„Ich bin Ihnen wohl gestern sehr albern vorgekommen? Sie haben über mich gelacht?“

„Ein wenig schon,“ antwortete ich, „aber albern sind Sie mir nicht vorgekommen.“

„Ich bin nicht dumm, ich weiß. Aber hol's der Teufel, ich bin ein unverbesserlicher Schwadronneur.“

Mir kam es vor, daß er das Wort „Schwadronneur“ wieder so schmatzend und selbstgefällig aussprach, wie am Tage vorher den „Schuft“.

In diesem Augenblick schlug die Blocktür der Schule zu und auf der Brücke wurden eilige Schritte hörbar. Es war Konachewitsch, der uns einholte und dabei so energisch mit seinen Hacken auftrat, als wollte er mit jedem Schritt irgendeinen Feind klaftertief in den Erdboden hineinstampfen. Kordezkis Augen blitzten schelmisch auf.

„Was, Väterchen, auch durchgefallen?“

„Durchgefallen ... O diese Schufte!“ rief jener mit Nachdruck. „Aber, ich werde mich rächen, ich werde mich furchtbar rächen!“

Kordezki warf mir einen spöttischen Blick zu.

„Na, Konachewitsch,“ sagte er, „ich bin ein Schwadronneur, Sie aber ein zehnmal ärgerer.“

„Schwadronneur? Was ist ein Schwadronneur?“ frug Konachewitsch rasch. Kordezki zuckte lächelnd die Achseln. Er war sichtlich stolz auf den Ausdruck, den er nicht einmal kannte.

„Ich habe vor Ihnen den Vorzug,“ sagte er mit seinem schwermütigen Nimbus um die Stirn, „daß ich mir dessen bewußt bin, was ich bin.“

Die Jugend hat einen besonderen, fast instinktmäßigen Widerwillen gegen ausgetretene Pfade und starre Lebensformen. An der Schwelle des Lebens stemmt sie sich gleichsam in den Boden und sträubt sich dagegen, die ausgetretenen Pfade zu betreten, von den unrealisierten Möglichkeiten Abschied zu nehmen. Die Literatur entfacht häufig diese Stimmung, wie der Wind den glimmenden Scheiterhaufen zur Flamme entfacht, und ganze Generationen werden vom Fieber der Negation gegenüber der realen Wirklichkeit geschüttelt, die ihre Individualität zu verwischen und sie in das graue Einerlei der Alltäglichkeit einzuspannen droht.

Mein Konachewitsch war begeisterter Leser des polnischen Dichters Slowazki. Kordezki wußte den Lermontoffschen „Held unserer Tage“ auswendig und kannte zum Teil den Byronschen „Don Juan“. Beide waren Romantiker. Lieber ein Verbrecher sein als ein Durchschnittsphilister! Der Byronsche Lara war auch ein Verbrecher. Lieber sogar ein Schwadronneur sein! Der Turgenjewsche Rubin war auch ein Schwadronneur. Dabei fühlt man sich wenigstens über den großen Haufen erhaben, der nicht einmal weiß, wer Lara und was ein Schwadronneur sei.

Der Romantizismus und die Petschorin-Mode à la Byron waren aber eigentlich für die damalige Jugend bereits überwundene Standpunkte. Neue Vorbilder schwebten ihr vor, Vorbilder, welche die junge russische Literatur in dem Bestreben, an ihrem Teil die brennenden Fragen des sozialen Lebens zu beantworten, in den Vordergrund geschoben hatte.

Die Gesellschaft im ganzen erlebt, ganz wie der Einzelmensch, ihre Stimmungen und Ahnungen. Eine solche Stimmung, die, so ungreifbar sie ist, sich jedoch allen auf einmal mitteilt, macht dasjenige aus, was man gewöhnlich den „Zeitgeist“ nennt. Zu Anfang der 60er Jahre hatte die Abschaffung der Leibeigenschaft in Rußland das ganze soziale Leben von Grund aus umgewälzt, allein die Welle der Gesellschaftlichen Erneuerung begann alsbald eine rückläufige Bewegung, was stürzen sollte, war nicht endgültig gestürzt, was aufkommen sollte, kam nicht ganz zum Durchbruch. Die gesellschaftliche Entwicklung blieb auf einem toten Punkt stehen, und diese Unbestimmtheit der Situation warf ihre Schatten auf die allgemeine Stimmung. Der Weg, den die russische Gesellschaft zu Beginn des Jahrzehnts so freudig betreten hatte, verlor sich in eine Sackgasse. Die bevorstehende Krise und die Unvermeidlichkeit von Erschütterungen und heroischen Anstrengungen war für jeden mit den Händen zu greifen.

Einstweilen gab es keine Mittel, die Krise zu überwinden. Es blieb nur übrig, auf die Zukunft zu hoffen und vor allem auf das neue Menschenmaterial, das aus dem Schoße der jungen Generation hervorgehen sollte.

Die Jugend wurde somit ein Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit und besonderer Erwartungen, und dies war es, was den gestrigen Junkern, Gymnasiasten und Studenten einen so frischen Glanz und Schimmer verlieh. Ein blutjunger Leutnant in nagelneuer Uniform schien viel interessanter zu sein als ein Hauptmann oder General, ein Stud. jur. interessanter als ein fertiger Staatsanwalt. Diese waren lauter Leute, die bereits in die Räder des alten Mechanismus geflochten waren, aus jenen konnte noch ein zweiter Marschall Hoche und ein Danton hervorgehen. Im Nebel einer, wie es schien, nahe bevorstehenden Zukunft tauchten die Umrisse des „neuen Typus“, des „Bannerträgers des Fortschritts“, des „Helden“ auf.

Im wirklichen Leben gab es einstweilen diese Heldenmenschen noch nicht; sie konnten deshalb auch noch nicht erschaut, nicht künstlerisch festgehalten werden. Statt solche Typen bloß literarisch nachzubilden, mußte man sie vielmehr erfinden und die Lebenswahrheit der Gestalten durch erwartungsvollen Glauben und Begeisterung ersetzen. Daher traten auch erstklassische Künstler an solche Aufgaben nicht heran. Auf dem ersten Plan des künstlerischen Schaffens tummelten sich immer noch die Turgenjewschen Lawrezkis und Rudens mit ihrer melancholischen Negation der Wirklichkeit und ihren nebelhaften Vorahnungen. Turgenjew hat in seinem „Am Vorabend“ diese erwartungsvoll gespannte Stimmung der russischen Gesellschaft in genialer Weise geschildert, seinen „Helden“ verpflanzte er aber doch nach dem Auslande. Der russischen Wichtigkeit entnahm man aber nach wie vor nur die negativen Typen, und selbst Dobroljubow wußte nur bitter zu fragen: „Wann kommt denn der ersehnte Tag? ...“

Dafür nahm den zweiten Plan der schönen Literatur seit Mitte der 60er Jahre ein erhaben nebelhaftes Heldengeschlecht von Riesendimensionen ein. Und zwar war dies auf beiden Seiten der Fall: gegen die Heroen der fortschrittlichen Romanliteratur, die der alten Welt Zerstörung ankündigte, führte die konservative Literatur ebenso heroische Verfechter des Bestehenden ins Feld ... Das Kommende warf seine Schatten voraus, und die Nebelgestalten lieferten einander in der Luft heiße Schlachten, lange bevor der Kampf im Leben selbst entbrannt war.

In jener Literatur ragten besonders zwei Romane hervor: „Die Zeichen der Zeit“ von Mordowzew und „Schritt für Schritt“ von Omulewski. (Den Roman „Was tun?“ von Tschernyschewski habe ich erst viel später gelesen.)

Mordowzew war ein nicht ganz aufrichtiger, sehr raffinierter Herr. Die Jugend berauschte sich an seinen „Geschichtlichen Bewegungen des russischen Volkes“, ohne zu merken, daß jenes Werk beinahe mit einer Apotheose der Staatsgewalt schloß, an deren Füßen der Verfasser die Volkswellen wie an einem Felsen ohnmächtig zerschellen läßt.

Auf Mordowzew schworen allerlei „Grenzmarkenpatrioten“ und „Ukrainophilen“, derselbe Mann konnte aber plötzlich einen blendenden Artikel loslassen, in dem er nachwies, daß die Zentralisation das Lebensgesetz, die „Grenzmarkenbestrebungen“ hingegen dem Scheitern geweiht seien. Seinen berühmten Roman begann er mit dem effektvollen Fiebertraum eines Kranken. In den Gesichten dieses Traumes wollte man Anspielungen auf die Hinrichtung Karakosoffs erkennen. Das verlieh dem ganzen Roman einen für die Zensur ungreifbaren, aber dem Leser sichtbaren „revolutionären“ Anstrich. Man konnte sich einbilden, daß dem Verfasser wie seinen Helden der Ausweg aus der derzeitigen politischen Situation ganz klar wäre, und daß sie ihr Geheimnis nur unter dem Zwange der Zensur nicht preisgaben. Dieser Roman hatte damals einen enormen Erfolg. Man riß sich um ihn, kommentierte ihn, suchte die Anspielungen, die höchstwahrscheinlich für den Verfasser selber ein Rätsel waren, zu enträtseln. Als der revolutionäre Schlüssel zu einer besseren Zukunft schwebte der damaligen Jugend übrigens, wenn ich nicht irre, so etwas wie der Artel vor. 1) Viel einfacher und aufrichtiger war Omulewski. Aus seinem Roman wehte uns ein jugendlicher Glaube und eine eigenartige zukunftsfreudige Stimmung an. Selber ein schwachmütiger, durch den Trunk verkommener Mann, wußte er sich gleichsam in seinem Werk zu vervielfältigen, sich selber hat er in der Gestalt des Arztes verkörpert, eines düsteren Hypochondrikers, den die Trunksucht und die Hoffnungslosigkeit des sozialen Milieus bereits rettungslos zugrunde gerichtet hat, der aber seinen jungen Freund Swjetloff für ein neues Leben und für den Kampf den Segen gibt. Swjetloff, der „Lichtvolle“, personifiziert in sich, wie schon sein Name andeutet, den Glauben an die Zukunft. Er ist munter, stark, heiter. Unter seinen Händen gedeiht alles, vor seinem Wissen, Charakter, seiner Tüchtigkeit verneigen sich alle. Er lebt in einem weltabgelegenen sibirischen Nest (offenbar in Verbannung), ist Mitarbeiter verschiedener Petersburger Revuen und dringt gleichzeitig in die unerforschten Tiefen des Volkslebens ein. Seine Freunde sind die „Raskolniks“, d. h. Sektierer und Dissidenten, kluge Bauern, Arbeiter. Diese haben für ihn Verständnis, wie auch er für sie Verständnis hat, und aus diesem Bunde wächst irgend etwas Großes und Geheimnisvolles hervor. Alles, was man von Swjetloffs Tätigkeit äußerlich wahrnimmt, ist ihm nur Mittel. Und was ist sein Zweck?

Darüber befragt ihn die junge Frau, die er „zum bewußten Leben erweckt hat“. Allein er will ihr das Geheimnis erst entschleiern, wenn die Zeit gekommen sein wird ... Endlich einmal, als er von ihr Abschied nimmt, um sich nach Petersburg zu begeben, wo irgendeine wichtige Mission seiner harrt, beugt er sich zu ihr hin und flüstert ein Wort ... Sie erblaßt. Sie vermag der Last des Geheimnisses nicht standzuhalten. Sie erkrankt und ruft im Fieber oft seinen Namen, den Namen des Helden und künftigen Märtyrers.

Das Wort, das die Helden Mordowzews in allerlei Euphemismen und Rätsel einhüllten und das Swjetloff der geliebten Frau ins Ohr flüsterte, war natürlich die „Revolution“. Sie war es, die wie eine Gewitterwolke am Horizonte Rußlands stand und durch fernes Wetterleuchten das Land mit Flammenschein übergoß, das die wirtschaftliche Leibeigenschaft abgestreift hatte und nun auf dem Wege zur Abstreifung der politischen Leibeigenschaft aufgehalten worden war ... Wie wird das vor sich gehen? Wann wird das erfolgen? All das war unklar. Irgendwie ... bald ... Die „Neuen“ aus der jungen Generation werden es schon vollbringen. Ihnen wird aus fernen Dörfern, aus Wäldern, aus den Kreisen der Sektierer und Dissidenten, aus dem Schoße der alten ländlichen „Obtschina“ die rätselhafte unbekannte „Volksmasse“ folgen ...

Es war viel Naives dabei, und selbst die Revolutionspläne ernster Leute aus jener Zeit muten uns heute ganz kindisch an. Und doch schritt der „Zeitgeist“ unerschütterlich seinen Weg vorwärts. Beide Parteien wiesen in der Literatur auf jene drohende Gewitterwolke hin: die Konservativen mit Angst, die Fortschrittler mit Hoffnung. Der Instinkt der Jugend sträubte sich immer heftiger gegen ausgetretene Pfade, der Widerstand gegen das Versinken in der Alltäglichkeit wuchs. Eine Generation nach der anderen verließ die Mittelschule des Ministeriums Tolstoj und stürzte sich in das Universitätsleben wie in einen reißenden Strudel. Diejenigen, denen es gelang, den Strudel bis zu Ende glücklich durchzuschwimmen, pflegten später ganz brave Bürger abzugeben. Die gestrigen „Aufwiegler“ wandelten sich in tüchtige Staatsanwälte, Ingenieure, Verwalter und liebten als solche, ihre Erinnerungen an die „Jugendeseleien“ in der Gesellschaft lächelnd zum besten zu geben. An ihrer Statt flammten schon andere Jünglinge lichterloh und entrichteten so ihrerseits den eigentlichen Tribut an den Geist der Zeiten ...

Die „Zeichen der Zeit“ und „Schritt für Schritt“ habe ich während der Sommerferien in Harnyj Lug kennen gelernt. Beide Romane wurden laut vorgelesen, und selbst die alten Herrschaften – der Hauptmann und seine Frau – lauschten mit einer gewissen Ehrfurcht der Kunde von der „neuen Jugend“. Da diese Lektüre zum Teil mit den religiösen Disputationen zusammenfiel, so verhielt ich mich anfänglich der neuen Literatur gegenüber ablehnend, Awdjew hatte mir auf meine Frage über Pissarew gesagt, dieser sei nur ein junger Frechdachs. Für mich blieben also Bjolinski und Dobroluboff die höchsten Autoritäten, Turgenjew gar liebte ich abgöttisch, seine Helden waren wirkliche Menschen, im Vergleich mit denen die Gestalten eines Mordowzew sich wie Holzpuppen ausnahmen. Einer von diesen Helden z. B., ein Jüngling, der von seinen Freunden den Beinamen „gedrechselter Kopf“ erhalten hat, bietet einem Fräulein den Stuhl an. Das Fräulein ist über diese altmodische Galanterie entrüstet: wie, hält sie denn der Herr nicht für einen „gleichen Menschen“? Der Jüngling sucht sich zu rechtfertigen: er habe ja nur im eigenen wohlverstandenen Interesse gehandelt; wie, wenn das vom stehen ermüdete Fräulein etwa plötzlich in Ohnmacht fiele? Dann hätte er ja nur Scherereien ... Oder ein anderes Beispiel: ein junges Mädchen macht mit jemandem Bekanntschaft und gibt sich dabei selbst das Attest, sie sei bereits geistig über die Wjera Pawlowna (die berühmte Heldin des Tschernyschewskischen Romans „Was tun?“) hinausgewachsen ... All dies kam mir gekünstelt und abgeschmackt vor. Der Omulewskische Swjetloff mit seiner abstrakten Tüchtigkeit mutete mich auch manchmal wie ein blankgeputztes Becken an, und das ewige Entzückttun des Verfassers über seinen eigenen Helden wirkte auf mich stark unkünstlerisch.

Überhaupt waren das alles nicht Personen, wie bei Turgenjew, Pissewski oder Gontscharoff, sondern „Persönlichkeiten“, mit dem unvermeidlichen Zusatz: „vielverheißende“. sie vermochten deshalb auf meine Einbildung keine Macht auszuüben, wiewohl ein gewisser besonderer Hauch, den jene Literatur atmete, auf mich dennoch nicht ohne Wirkung blieb, war auch das positive darin gemacht und nebelhaft, so das Negative desto lebendiger und wahrer.

Als wir nach jenen Romanen „In Reih und Glied“ lasen, das in der Übersetzung Blagaswjetloffs in der Revue „Djelo“ erschien, war der Eindruck enorm. Überhaupt eroberte sich Spielhagen auf den ersten Hieb die damalige russische Jugend. seine Helden waren schon nicht mehr „Persönlichkeiten“, sondern lebendige „Personen“ und das Milieu ihres Kampfes unzweifelhaft der Wirklichkeit entnommen. Und so wie früher die entlegensten Provinznester Rußlands von Child Harolds, Amalat Beks und Petschorins wimmelten, so tauchten jetzt zu Dutzenden Spielhagens Leos und Tschernyschewskische Rachmetoffs auf. Es gab sogar „Leos auf rachmetoffschem Untergrund“ ...

Gegen Schluß des Gymnasialkursus begann in meiner Seele aus all jener Gärung eine gewisse, freilich noch reichlich nebelhafte Vorstellung darüber sich zu bilden, was ich denn jenseits der Schule und unseres Städtchens werden wollte. Die realistische Literatur tat dabei ihre Wirkung: aus Reaktion gegen die Romantik lehnte ich von vornherein in bezug auf mich selbst jede übertriebene heldenhafte Illusion ab. Das Vorbild Leos erkannte ich gleich als über mein Maß hinausgehend. Ich war von ihm entzückt, meine Phantasie beherrschte aber eine andere Spielhagensche Gestalt: der Held des Romans „Die von Hohenstein“. Dieser ließ sich eher in Rußland denken ...

Irgendwo gehen im Lande große Dinge vor. An ihnen nimmt tätigen Anteil ein junger Mann von etwa 25 Jahren, von kleinem Wuchs, intelligentem Gesicht und festem Blick. Er erinnert zum Teil an meine Wenigkeit, aber nur eben zum Teil. (Ich war nämlich mit meinem Äußeren höchst unzufrieden und nahm an ihm in meiner Phantasie einige Korrekturen vor.) Nach der unglücklichen ersten Liebe hat er auf „persönliches Glück“ verzichtet (freilich nicht ohne eine entfernte Möglichkeit einer unverhofften glücklichen Wendung des Schicksals). Er ist kein Held, erfreut sich keines weitschallenden Ruhmes. Tritt er aber in eine Gesellschaft von Leuten ein, die sich jener bewußten wichtigen und gefahrvollen Sache ergeben haben, so antworten diejenigen, die ihn kennen, auf etwaige Fragen solcher, die ihn nicht kennen: „Das ist N. N.... ein aufgeweckter Kopf. Auf den kann man sich verlassen ...“ Zuweilen begibt sich der Betreffende in große Gefahren oder er ist nahe daran, unter der Last der Arbeit zusammenzubrechen. Dann taucht er für einige Zeit irgendwo in der Provinz unter. Er besitzt, ganz wie der Spielhagensche Held, irgendeine Werkstatt, die er seinen „Freunden aus dem Volke“ übergeben hat. Nun stellt er sich neben sie an die einfache Arbeit; abends pflegen sie miteinander Bücher zu lesen, oder er enthüllt ihnen, was drüben in Petersburg und Moskau am Werke sei. Sie zollen dem Gehörten Beifall und weihen ihn ihrerseits in dasjenige ein, was in der Tiefe der Volksweisheit heranreift. Alle diese Leute haben intelligente Physiognomien, obzwar ... von unbestimmter Nationalität und ähneln trotz der größten Anstrengungen meiner Phantasie am ehesten den deutschen Arbeitern der Märzrevolution...

Jene alten Heldenphantome vom Typus Amalat Beks, Child Harolds, Petschorins oder der Dämonen waren im Grunde genommen recht harmlos: von ihren geheimnisvoll finsteren Höhen traten sie gewöhnlich direkt in den Staatsdienst. Konachewitsch wurde nachmals Eisenbahnbeamter, Kordezki hat bei der Akzise Karriere gemacht und ist aus einem Vertilger unschuldiger Wesen ein vorbildlicher, sogar etwas sentimentaler Familienvater geworden.

Ein ganz anderes Los war häufig den russischen Leos und Rachmetows beschieden ... Doch damit greife ich vor. Über dieses Kapitel wird in den weiteren Aufzeichnungen meines Zeitgenossen noch manches zu sagen sein.

 

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1) Artel ist eine alte russische Form der Arbeiterverbindung zur gemeinsamen Übernahme von Arbeiten für eine Pauschalsumme bei gleicher Verteilung der Mühe und des Lohnes. D. Ü.