BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Emerenz Meier

1874 - 1928

 

Aus dem bayrischen Wald

 

Aus dem Elend

 

____________________________________________________

 

 

[1]

Aus dem Elend.

 

1. Kapitel.

 

――――――――――――

 

Itta stammte aus dem Elend.

Wie sie von jenem schmutzigen böhmischen Grenzort, der seinen Namen in jeder Hinsicht rechtfertigt, zum Hof des Reutbauern im Dorfe Kaltwasser gekommen war, das hatte sich auf folgende Weise zugetragen.

Überall im Wäldlerland ist es Sitte, am Tage Allerseelen eine Unmenge kleiner Brötchen zu backen und sie an die in hellen Haufen aus Böhmen herüberkommenden und auch an die einheimischen armen Leute zu verschenken und dafür ebensoviele „Vergelt's Gott für die armen Seelen“ einzusammeln. Es ist ein schöner Brauch, der heute noch gerade so gut gehalten wird wie vor vierzig Jahren, als die Wälder noch dichter und darum die Bauern noch wohlhabender waren.

Die Reutbäuerin erfreute sich zu jener Zeit eines besonders guten Rufes hinsichtlich ihrer „Seelwecken“, die an Größe und Weiße ihresgleichen kaum fanden. Sie [2] hatte daher auf zahlreichen Zuspruch zu rechnen und that dies mit Freuden, obgleich es nicht gerade angenehm sein mag, den ganzen Tag überm Trog gebückt oder am heißen Backofen zu stehen.

„Man thut es ja für die armen Seelen. Und am Ende ist es doch leichter als das Laufen von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf, während der Böhmwind schier mit Messern schneidet und Regen mit Schnee untermischt durch die Kleider bis auf die Haut dringt.“

So dachte sie und lächelte mit hochrotem Gesicht ihrem Manne zu, der ihr emsiges Treiben sinnend beobachtete, während er an seinen Spänen schnitzte und hie und da einen Zug aus der Pfeife that.

Die Knechte saßen auf dem Boden inmitten der Stube und verfertigten Besen aus Heidelsträuchern und Birkenreisern; zwei Mägde spannen silberschimmernden Flachs und eine ältliche Frau mit feinem blassen Gesicht und schlanker Gestalt war am Eichentisch mit Nähen beschäftigt. Sie sah dem Bauern ziemlich ähnlich, was den Schnitt der Züge, die Farbe der Haare und der Augen anbetraf, doch war ihr Ausdruck weicher, ihr Blick sanfter, als der des Bruders. Seit ihren Mann, den königlichen Grenzaufseher Hiller, in den böhmischen Bergen die Kugel eines Schleichhändlers getötet hatte, lebte sie wieder, wie einst, in ihrem Vaterhaus. Eigentlich bewohnte sie ein paar helle Stuben des Hintergebäudes, aber die meiste Zeit verbrachte sie in der Reutbauerischen Familie, sich durch ihre geschickte Hand jedermann nützlich machend. Obwohl sie selten lachte – sie hatte es bei dem größten Unglück ihres Lebens verlernt – lag doch eine stets gleichmäßige, ruhige Freundlichkeit in ihrem Wesen, die ihr die Liebe und das Zutrauen aller erwarb, die mit ihr in Berührung kamen. Der Bruder hatte sogar einen großen Respekt vor der seit ihrer Verheiratung etwas feiner und vornehmer [3] gewordenen Schwester und achtete ihr Wort als entscheidend in den meisten Fragen. Dazu kam, daß er ihr Dank schuldete, denn als er vor zwei Jahren, durch Mißernten und andere Unglücksfälle heimgesucht, nahe daran gewesen war, vom Hof zu kommen, hatte sie ihm unbedenklich ihr beträchtliches Vermögen übergeben und ihn dadurch gerettet.

Neben Burgl, so hieß die freundliche Witwe, saß noch ein zwölf Jahre alter schwarzhaariger Knabe tief über ein Buch gebeugt, aus dem er mit leiernder, tiefklingender Stimme vorlas. Von Zeit zu Zeit unterbrach sie ihn berichtigend, denn er legte besonders längeren Sätzen einen oft unmöglichen Sinn unter und stolperte über manche Wörter wie ein Deutsch lernender Franzose. Wäre es eine andere Geschichte als die von Ali Baba und den vierzig Räubern gewesen, so würde Gottfried, der Sprößling der Reutbauerischen Eheleute, wohl kaum bis zur fünfzehnten Buchseite gekommen sein, wie das nun der Fall war. Daß er aber bei der sechzehnten plötzlich abbrach, geschah nicht aus Mangel an Interesse, sondern weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte.

Es war dies ein kaum fünf Jahre altes Mädchen mit blau gefrorenem Gesicht und ebensolchen Händen und Füßen, die nackt in Holzschuhen steckten, an die sich schwere Schneeklumpen geballt hatten. Die kleine, zierliche Gestalt bedeckten notdürftig alte Lumpen und ein schwerer, an ihrem Rücken festgebundener Brotsack beugte sie fast darnieder.

Schon seit geraumer Zeit stand das zerlumpte Persönchen an der Thür und blickte mit großen blauen Augen in der Stube umher, ohne die von den Anwesenden erwartete Bitte um einen Seelwecken auszusprechen.

„Was willst du, Kloane?“ fragte die Bäuerin endlich.

„Wärma möcht' i mi“, war die fast unverständliche Antwort.

„Na, so sitz dich zum Ofa hin, du armer Narr. Warum ziehst dich denn auch net besser an, wennst in d' Seelweck'n gehst?“ [4]

„I hab' halt sunst nix“, lallte die Kleine mit schwerer Zunge, indem sie eiligst der Aufforderung nachkam und sich an den heißen Kachelofen schmiegte.

„Wie hoaßt denn?“ ging nach einer Weile das Fragen weiter.

„Itta.“

„Itta? des is ja a böhmischer Nam'. Bist' leicht a kloane Böhmin?“ 1)

Itta schwieg und starrte auf ihre blauen Händchen nieder. Sie befürchtete offenbar, durch die Bejahung der Frage die ihr zugewandte Gunst zu verlieren, denn sie wußte trotz ihres kurzen Daseins schon aus Erfahrung, wie sehr man hier alles verachtete, was sich böhmisch nannte.

Gottfried war näher getreten und seine dunklen Augen blitzten sie neugierig an.

„Wo bist denn her, Dirndl?“

„Vom Elend.“

„Also a Böhmin, denn's Elend liegt ja schon enterhalb der Grenz“, sagte der Knabe in geringschätzigem Ton und zog sich zurück.

„Wer is denn bei dir?“ fuhr die Bäuerin zu fragen fort.

„Neamd.“

„Ja, du wirst doch um Gott'swill'n net alloa so weit furtganga sein von dahoam! Warum is dei Mutter net mit dir?“

„Weil s'ferd 2) gestorbn is.“

„Und dei Vater?“

„I hab koan solchen.“

„Na ebban 3) hast dennerst 4), bei dem du ess'n und schlafen thust?“ [5]

„Ja, des is d'Elendmüllnerin. Sie hat aber nächt 5) gsagt, sie kunnt mi nimmer derhalt'n, i soll drum über d'Granitz in d'Seelweck'n gehn.“

„O – geht's ihr leicht so schlecht, der Elendmüllnerin?“

„Na, ihr net, aber mir.“

„Dös glaub' i dir von Herz'n gern, mei arm's Kind. Du bist wirkli vom doppelt'n Elend her.“

Bei diesen mitleidigen Worten fing Itta herzbrechend zu weinen an und beruhigte sich erst allmählich unter den Liebkosungen der Bäuerin, der die Thränen selbst in den Augen standen. Sie setzte ihr eine Schüssel mit Milch und Brot vor und näherte sich dann ihrem Mann.

„Sag', was wir jetzt mit dem Dirndl thun“, flüsterte sie ihm zu. „Wir können's doch net wieder in das schlecht' Wetter außischicken.“

Der Bauer zuckte mißmutig die Achseln und machte sich an seiner Pfeife zu schaffen. Nach einer Pause stieß er ärgerlich hervor:

„Um solche Kinner soll sich halt d'Gemeinde annehmen und sie derhalt'n, statt daß man s'auf'n Bettl ausschickt.“

„O mei lieber Himmel, d'Gemeinde!“ rief sie.

„Was is denn's Elend für a Gemeinde? Der Burgamoasta hat zwo Goaß' 6) im Stall wenns ihm guat geht, und gehts ihm schlecht, so legt er sich selber eini auf d' Strah.“

Er nickte zornig.

„So ist's mit die verd– Grenzböhm'. Auf d'Letzt kommen s' nachher zu uns außa und fall'n uns zur Last. Man kann ohnehin net acht Schritt' mehr machen, ohne daß ein'm so a czechisch' Lumpeng'sicht begeg'nt.“

„Geh, sei net gar so harb, Alter“, beschwichtigte sie ihn. „Es is ja wahr, daß man s'net leid'n kann und daß s'veracht wer'n, aber Leut' sand s'halt doch auch wie wir.“ [6]

Unbedacht hatte sie das Wort ausgesprochen, das ihn jedesmal in Harnisch brachte, denn ihm war das im Wald ebenso populäre wie ungerechte Sprichwort: „Ein Böhm' und ein Stier sand wilde Thier“, mehr wie jedem andern der Ausdruck der innersten Überzeugung.

„Leut' wie wir?“ fuhr er auf. „Scham' dich, Alte, daß du so was nur sag'n magst! Die Rass', die falsch', die hoamatückisch'! Wenn a Böhm' in a Haus ei'geht, zittert der Nagl an der Wand, hoaßt's Sprichwort und sitzt sich oana auf an Acker roa, so wachst neun Jahr' koa Gras mehr drauf.“

Burgl war bisher anscheinend teilnahmslos geblieben. Nun aber legte sie hastig ihre Näherei zusammen und erhob sich.

„Kram' deine schlecht'n Sprichwörter an ander's Mal aus, Sepp“, sagte sie in so zürnendem Tone, wie man ihn selten von ihr zu hören bekam. „Das G'schöpf dort, das so ängstli und bittend dreinschaut, hat dir wahrhafti noch koan Anlaß zum Aufdrah'n' geb'n. Willst du's um Gott'slohn net g'halt'n, so hoaß's wieder weiter gehn, aber verbitter' ihm des kloa Herz net lang, des ohnehin arm g'nug is.“

Der Reutbauer blickte mehrere Sekunden lang verdutzt auf die Schwester, dann stieg langsam eine dunkle Röte in seine Wangen. Ihm war vorhin das fremde Kind für den Augenblick aus dem Gedächtnis gekommen und seine Worte hatten sich nur auf die von ihm wie von jedem Wäldler gehaßten Grenznachbarn im Allgemeinen bezogen. Doch er fühlte sich durch diese Zurechtweisung in Gegenwart der Dienstboten beschämt und sich in seiner Würde als Haupt der Familie gekränkt. Heftiger Zorn erfaßte ihn; er richtete sich vor allem gegen die unschuldige Ursache des Streites.

„Um Gott'slohn g'halt'n!“ rief er höhnisch. „Fallt mir net ein, daß i mir an Hund aufziag, der mi später in d' Füass' beißt. Oder bin i nimmer Herr in mein' Haus! [7] Aft 7) derf des böhmisch' Mensch dableib'n und i hab nix mehr z'sag'n.“

In der Nähe des Kachelofens stehend und heftig gestikulierend, stieß er unvermutet an eine Stange des darüber aufgebauten Dörrgerüstes und mit einem Krach fiel es nieder, Töpfe und Schalen mit sich nehmend und zertrümmernd.

Während die Weiber erschrocken herbeieilten, die Knechte sich murrend in eine Ecke drückten, rutschte das kleine Unglücksgeschöpf Itta von der Bank und schlüpfte leise weinend zur Thüre hinaus.

Niemand sah dieses als der Knabe, der den stürmischen Auftritt gleichmütig beobachtet hatte und sich nun ebenfalls entfernte.

Als Burgl ein paar Minuten später fand, daß die von ihr in Schutz Genommene entflohen war, sank sie erbleichend auf die Herdbank nieder. Doch schnell raffte sie sich wieder empor und lief hinaus auf die Dorfstraße, des eisigkalten Windes nicht achtend, der durch ihre leichte Kleidung fuhr und ihr den Schnee gleich scharfen Nadeln in das Gesicht trieb. Von Haus zu Haus suchte und fragte sie vergeblich, und als es dunkel wurde, kehrte sie erschöpft und betrübt nach ihrer Wohnung zurück.

„Na, kimmst endlich doch daher, Burgl!“ tönte es ihr dort aus der Thüre entgegen. „I beit 8) schon an Ewigkeit auf dich mit dem Dirndl da, des zittert, wie dem Forstg'hilf'n sei Dachsel.“

„Gottfried! Ist's wahr, hast du's g'fund'n?“ schrie sie fast weinend auf.

„I hab's net gsuacht, – bin ihm nur nach, hab's beim Kragl' packt und daher g'weist.“

„Und hast dir net g'fürcht' weg'n dein' Vatern?“

„Ah – der is morg'n froh, daß wir's net ausg'jagt hab'n. [8] Sei Zorn kränkt'n ja doch bald, man muß nur thun, wie wenn man's net kenna thät'. Und's Böhmerl muß ihn bitt'n um d'Hoamat, damit er schön „ja“ sag'n kann.“

„Schau, der pfiffi Bua!“ lächelte sie. „Aber 'gelt's Gott tausendmal, daß's da is. I hätt' mir mei Lebtag an Vorwurf g'macht weg'n dem Kind; denn was ein'm unser Herrgott ins Haus schickt, soll man net ausschaffen.“

Gottfried lief pfeifend davon und Burgl machte sich frohen Herzens daran, Licht und Wärme in die freundliche, bequem eingerichtete Stube zu bringen.

 

――――――――

 

1) Die Namen Itta, Kamilla, Adelheid sind bei den Grenzböhmen auffallend häufig, weshalb die Bäuerin unschwer Ittas Nationalität feststellen konnte. 

2) voriges Jahr 

3) Jemanden 

4) doch 

5) gestern, vorgestern 

6) Ziegen 

7) dann 

8) warte