BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Otto Pick

1887 - 1940

 

Texte in der Zeitschrift

«Die Aktion»

 

1916

 

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Seite 40

 

Der Dichter

 

Der Hausmeister steckte die erhaltene Nickelmünze ein, versperrte das Tor wieder und entfernte sich. Der Dichter stieg zur Wohnung seiner Eltern empor. Der Vollmond, blendend weiß, schüttete Strahlengarben auf die Stiege. Nicht mehr tastend stieg der Zwanzigjährige wie in ein Lichtbad hinan.

Im ersten Stockwerk hielt der Dichter inne und lehnte sich nachdenkend an die Wand. Eine Idee, die ihm den ganzen Abend hindurch vorgeschwebt war, begann feste Umrisse zu gewinnen. Ein warmes Dankgefühl, das er fast gleichzeitig empfand, machte ihn beinahe sentimental. Durch das blanke Stiegenfenster schaute er hinunter auf die lichten Gärten und schattenbedeckten Höfe. Ein Hund bellte zornig irgendwo. Dann ertönte ein schriller Pfiff, ein dumpfes Knurren, und in der eintretenden neuen Stille störte das ferne Spiel einer Violine kaum.

Vor der Wohnungstür warf der Dichter einen langen letzten Blick auf die Mondlandschaft.

„Strahlenverklärte Alltäglichkeit, im rüden Treiben zwischen Morgen und Abend übersehen, wie bist du nun eingestimmt in meinen Gedankenlauf…“ Entschlossen öffnend, entzündete er ein Streichholz.

Unverändert die Unordnung im Vorzimmer. Der alte Glasschrank mit zerbrochenen Scheiben, dahinter viele seiner älteren Bücher, auch Schulhefte und Zeitungen. Daneben die Wasserleitung, ein offener Kleiderkasten und der alte, große Koffer mit Eisenbeschlag. Unmutig wandte er sich ab. Ein Geräusch kam aus dem Innern der Wohnung.

„Wer kommt? – Bruno …? Franz …? Schieb' den Riegel vor!“

Immer wieder diese furchtsame Mahnung. Als wenn jemand keine wohlhabendere Familie und vornehmere Wohnung zu bestehlen fände!

„Zum Teufel! Ins versperrte Haus kommt doch niemand, und zu uns erst recht nicht! –“ Dann schob er den Riegel vor, öffnete die Türe neben dem Zimmer, aus dem die Mahnung erschollen, und strich ein neues Hölzchen an. Die Lampe war nicht zu finden.

„Natürlich, der hat wieder im Bett gelesen.“

Mit geringschätzigem Gesichtsausdruck trat er gegen das Fenster zu, wo die Lampe auf einem Sessel neben dem Bett seines älteren Bruders stand. Dieser lag halb entblößt da, die Decke berührte den Fußboden, die Kissen waren faltig und schweißfeucht.

Von rechts her sagte jemand verschlafen: „Bruno, laß ihn und geh endlich schlafen. Wie spät ist's? Leg' dich doch auch nieder!“

Der Jüngling schwieg hartnäckig. Rechts ward es still. Schnarchen ertönte. Er stellte die Lampe auf den Tisch. Als die gelbe Helle sich zögernd ausbreitete, schlich er in das andere, dunkle Zimmer. An sein Büchergestell hin. Natürlich erwachte man.

„Bruno? … Ja …? So sprich doch! Mutter, wer ist hier …?“

Jetzt erwachte auch die alte Frau.

„Schweig doch, Mädchen, Franz liegt ja schon. Bruno, so antwort' ihr doch. Immer erschreckst du sie.“

Er knurrte etwas, und sie schwiegen.

Zeitschriften, Briefbögen und Löschpapiere lagen auf, zwischen und unter den zahlreichen Büchern. Voll Hast zerrte er alles durcheinander, einen bestimmten Band suchend. Staub und winzige Papierflocken stiegen auf, wimmelten nieder.

„Bruno, geh doch schlafen!“ rief wieder die Mädchenstimme. „Keine Nacht haben wir Ruhe, du kannst ja morgen lesen.“

„Schweig!“

Mit zwei Schritten war er in dem anderen Gemach.

Laut: „Franz, wo ist das Buch!?“

Ein schlafgeröteter Kopf hob sich aus den Kissen. Blinzelnden Blickes die Frage: „Was willst du?“

„Mein Buch will ich haben, wo ist's?“

„Was erlaubst du dir, Junge! Was kümmern mich deine Scharteken!“

Der Dichter bebte schon:

„Wo hast du das neue Buch? Ein unaufgeschnittenes Buch wegzunehmen! Her damit!“

Franz stierte ihn an und überlegte verlegen. Dann fuhr er trotzig wütend mit der Hand unter das Kopfkissen.

„Da, nimm deinen Schmarren! Friß es auf, du Schuft! Mich zu wecken … Ich werde doch deine Bücher lesen dürfen, du …“

„Kinder, nehmt doch Rücksicht!“ klagte es wieder von nebenan. Franz schrie: „Na warte, wie viel von meinen Sachen hast du schon gehabt, Bücher und anderes, und ich hab' kein Wort gesagt.“ Er schrie sich in wachsende Erregung hinein.

Der Jüngere nahm das Buch und setzte sich gemächlich an den Tisch. Die Situation reizte ihn.

„Reg' dich nur ab, morgen folgt Fortsetzung. Ich will dich lehren, Bücher von meinem Gestell fortzutragen. Ein neues Buch, das ich speziell vor dir versteckt hatte. Natürlich hat's dir wieder jemand gezeigt …“

„Aber, Bruno!“ ruft's gequält aus dem Nebenzimmer; „er hat es selbst gefunden. Franz, ich habe dich gewarnt.“

Der Radau ist unabwendbar, ja eigentlich schon vollkommen. Alles schreit durcheinander. Der Dichter kämpft mit sich: Fassung, Sammlung! Wäre das Gekeife schon vorüber …

Laut: „Hätte er es gelesen und wieder an Ort und Stelle geschafft – kein Wort hätte ich gesagt. Aber sich's unters Bettkissen zu legen, damit ich es nur ja nicht finde! Na warte, von morgen ab wird jedes Buch eingesperrt!“

– „Du Frechling, was alles hätte ich vor dir einsperren müssen! Meine Anzüge hast du getragen, ohne mich überhaupt zu fragen, meine Kragen und Krawatten … Von morgen ab hüte dich! Wehe, wenn ich dich erwische. Nicht eine Stecknadel kriegst du mehr von mir.“

Franz reckt sich im Bett empor und ballt die Hand, während er den Bruder fixiert. Indem er vergangene Missetaten aus Brunos Knabenzeit heraufbeschwört, will er mit erhobener Stimme den Ton des Gerechten erklingen lassen.

„Ruhe!“ kommt es vom Tische her. Das Buch aufgeschlagen vor sich, hält der Dichter die Finger in die Ohren und will lesen. Jetzt aber verstummt das mahnende, ängstliche Zureden aus dem Zimmer der aufgestörten Schläfer nicht so bald.

Seine Gedanken irren ab. Er sieht einen Mondstrahl durch eine Türritze blinken und als Silberfaden sich bis an des Bruders Bett hinziehen. Wehmut und ein Wille zur Milde werden in ihm rege. Die Mondstunde bannt ihn. Doch hört er seine Stimme sagen:

„Schweig' doch, Franz. Das tun wir morgen alles ab. Ich will noch schreiben.

„Bruno, um Gottes willen, was habt ihr angestellt, schlaft doch!“ wimmert es aus dem anderen Zimmer. Etwas schnürt ihm die Kehle zusammen, wirft einen Schleier rostrot vor seine Augen. Und er klappt das Buch verzweifelt zu. In der Küche räuspert sich das horchende Dienstmädchen.

Bruno bläst das Lampenlicht aus, tastet in das andre Gemach, sein Buch an sich gedrückt. Er entkleidet sich. Das Buch hat er unter das Kopfkissen gesteckt. – Es wird ihm, gleichsam gegen seinen Willen, beinah wohl zumute.

„Noch habe ich meinen traumlosen Schlaf. Oh, nicht denken zu müssen! – Wie ekelhaft war der ganze Auftritt. Hätte er das Buch draußen gelassen, alles wär' gut gewesen …“

Sein weiches Gemüt läßt ihn die Öde des gehabten Streites schmerzlich empfinden. Schon fühlt er sich mitschuldig, fast allein schuldig. Stille. Er möchte vergessen und an den dichterischen Einfall, den er auf der Treppe gehabt hat, denken, um ihn am Morgen niederschreiben zu können. Da: ein Geräusch, als bäumte sich im ersten Zimmer jemand gegen die Wand.

„Mutter, ich halt' es nicht mehr aus, mich von dem Jungen schikanieren zu lassen. Ob ich ihm je was gesagt habe, wenn er meine Sachen hatte?! Was zuviel ist, ist zuviel. Um ein lumpiges Buch …“

Bruno hört zu, und ihn belustigt der Jammer des Bruders. Die milde Regung ist vorüber; er muß sticheln. Kurze und scharfe Zwischenrufe:

„Lumpiges Buch? Natürlich, weil es kein Sherlok Holmes ist …“

Franz rast:

„Nun, hört ihr ihn! Du Lümmel, ich kann lesen, was ich will. Und wenn ich keine Bücher lese, kannst du nur froh sein. Mutter, wenn ich dem Burschen das ewige Sticheln austreiben könnte! Aber ihr unterstützt ihn ja noch. Warte nur, morgen –“

Der Dichter liegt ruhig. Die Bruderrede setzt sich fort. Die dünnen Stimmen flüstern, rufen, beschwören …

Er lauscht, wie im Theater, und läßt plötzlich eine wuchtige Einrede ertönen:

„Lutz' Kriminalromane, – ,Der Hund von Baskerville' . . ., warum nicht ,Die blutige Jungfrau um Mitternacht'.“

Kichern die im andern Zimmer nicht?

Franz beherrscht sich nicht mehr und springt auf: „Wart', ich werde dir etwas beweisen. Sicher hast du meine Krawatte angehabt!“

Er tastet zum Tisch und schwankt mit der angezündeten Lampe ins andre Zimmer.

„Weh ihm, Mutter, wenn ich sie finde. Das ist genau so wie vorhin; jetzt kann ich auch Lärm schlagen, weil er meine Sachen versteckt.“

Er tastet auf dem Tisch herum, schaut unter die Zeitung, welche die Mutter über Brunos kaltes Abendessen gebreitet hat, und zieht sich stumm wütend zurück …

Der Dichter schläft lächelnd ein. Aber ein müder, herber Zug umspielt im Schlaf seine Lippen. Franz wettert weiter. Die klagenden Stimmen flehen, wimmern aus dem Dunkel der Wohnung. Es schlägt zwei Uhr. Allmählich tritt Stille ein.

Der Mond ist weitergewandert. Darum sind alle Zimmer finster geworden.