BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Otto Pick

1887 - 1940

 

Die Probe

 

1913

 

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Der Saal der Erfüllung

 

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Weit hinter ihm ragten die Bahnhofstürme zum schneeschwange­ren Himmel empor. Der Atem des Jünglings, hell wie Zigarettenrauch, mischte sich mit dem warmen Hauch der Vorübergehenden und stieg auf und zerfloß. – Die Gedanken des jungen Mannes hatten ein gleiches Schicksal. Sie verweilten nicht länger in der Kleinstadt, die er verlassen, ungewisse Schlüsse aus Erlebtem, Erlittenem ziehend; Kummer und Zorn schmolzen und wurden bewußte Resignation, die seinen Blick ruhig, nichts erwartend auf den Menschen der Großstadt haften ließ.

Und das Gedränge verdichtete sich, die Straßen wurden weiter und das lebendige, zielbewußte Gehen und Schauen der Vorübergehenden übte seinen Einfluß auf den müden Jüngling aus: Die Lebendigkeit ihrer Mienen floß über auf sein Gesicht, seine Gedanken vermißten das Alleinsein mit sich selber und wurden umschauhaltend, erregt und suchend. Er fühlte eine leise Hoffnungsfreude in sich und richtete sich empor aus seiner scheinbar trübseligen Haltung.

Wohl, jetzt – da die Brücke zur Rückkehr gesunken war – jetzt galt's Wege zu suchen, die ihn alles Durchwanderte vergessen lassen sollten: Die kindlichfolgenschweren Enttäuschungen des Zwanzigjährigen, die einigen winzigen Zurücksetzungen und Beleidigungen, [60] durch die sein weiches Herz stets für Monate zu verhärten und ungerecht zu werden drohte … und die Wünsche, diese umrißlosen Gebilde, diese stolzen Luftschlösser, deren Fackelglanz in der Winterluft der ernsten Straßen zu komisch strahlen würde, um nicht verlöschen zu müssen.

Eine Wohnung suchen. Die Häuser sind hoch, vier Stockwerke und mehr, sehen aber kahl und unwirtlich aus, die mißglückten Zieraten sind Auswüchse an bleichen Mauern, die den armen, ausdruckslosen Mienen der Großstadtkinder gleichen. Armselige Baumeister haben hier und da bunte Flecke hingekleckst, über und neben den Fenstern; die Wirkung ist die von schlecht angebrachter Schminke auf gelbsüchtigen Wangen.

Manchmal steht ein kleineres Gebäude, das vertrauensvoll aussieht … Doch ein Balkenkäfig umschließt es, man reißt es nieder, um aus denselben Ziegeln einen Großstadtbau zu errichten. Rotgelbe Laternen leuchten durch die Latten, hilfeheischende Augen sterbender Vergangenheit.

Der junge Mann hält verzweifelt inne … Unschlüssig, mißtrauisch betrachtet er die Häuser. Er steht plötzlich auf einem weiten Platze. Die Uhren zweier Türme strahlen aus dem blauen Dunkel, dazwischen ist der Mond. Ein Kaffeehaus ist grell erleuchtet, fröstelnde Herren treten heraus. – Es ist die Woche vor Weihnachten. In dunklen Tonnen schwimmen große müde Karpfen. Rohe Weiber schreien den Passanten Preise entgegen.

Der Jüngling aus der Fremde fühlt sich müde und ruhebedürftig. Kurz entschlossen überquert er den [61] Marktplatz und tritt unter einer blassen Laterne in ein Haus.

Kühle Luft schlägt ihm entgegen. Sie wirkt beruhigend und glättet seine mißmutige Stirne. Eine breite Treppe. Aus dem Dunkel glühen zwei rote Kugeln, wie Purpuraugen. Er gewahrt zwei kupferne Sphinxgestalten, die mit großen Rubinenaugen den Aufgang zu bewachen scheinen … Er glaubt, in einen herrschaftlichen Palast geraten zu sein und wendet sich dem Tore zu, entschlossen, sein Glück in dem Nebenhause zu versuchen. Ein heller Klingelton läßt ihn innehalten und in der Hand eines rüstigen Mannes strahlt ihm das Licht einer Lampe entgegen.

Der Mann, mit braunem Vollbart und ruhigen Augen, scheint nicht verwundert und reicht dem Jüngling die Hand.

„Sie suchen Unterkunft. Wohl; Sie sind am rechten Orte, wenn er auch anders aussieht als ein Mietshaus.“

Der sanfte Blick des aufrechten, unstolzen Mannes verwandelt den Mißmut des Jünglings in Vertrauen. Er vergißt zu danken und weiß sich nicht zu wundern über das Seltsame, das ihm diese Begegnung bringt.

Sein Führer durchschreitet die Vorhalle und öffnet eine schmale Türe, die er hinter dem Gaste sorgfältig abschließt.

Die Lampe verlöscht. Sie stehen in einem weiten Saale.

Und nun erscheint dem Jüngling alles, was seine leuchtenden Augen erschauen, selbstverständlich, beruhigend selbstverständlich, fast vertraut. Sein Führer ist verschwunden. Er vermißt ihn nicht. [62]

Er durchwandert den Saal. Wunderbares Licht ist über die vielen, vielen Menschen gegossen, die einzeln oder in Gruppen stehn, lustwandeln oder in heimlichen Winkeln ruhn.

Das Licht ist tausendfältig. Ueber einer Gruppe ist es blendend, gelb wie Julisonnenstrahlen; in den Winkeln zittert es wie Mondschein auf tiefgrünem Rasen, hier ist es dämmergrau, wie aus Schneewolken dringend, dort klar, durchsichtig, von kühlem Winde durchflogen und an anderen Stellen ruhig, satt und selbstverständlich, wie an Sommernachmittagen.

Die Menschen in dem Saale wissen nichts von der Gegenwart ihrer Nachbarn, jede Gruppe fühlt sich ungestört und atmet andere Luft als die andern und ihre Augen schauen ein anderes Licht.

Der Jüngling aber sieht alle und lauscht ihren Reden.

Ueber ihm sitzen in einer Nische zwei junge Menschen. Ein blasser Jüngling und ein Mädchen. Der Jüngling ist ein reicher Kaufmannssohn, ein vornehmer Herr. Er blickt liebreich das junge Mädchen an. Sie hält vertrauensvoll ihre Hand in der seinen und schaut ihm glücklich in die Augen.

In dem wüsten Treiben der Winternächte sehnen sich Jünglinge aus den Prunksälen der Bälle weit hinweg in stille Nischen, zu einfachen Mädchen im Hauskleide, in hochgeschlossener Bluse und bescheidener Haartracht.

Nun sitzt ein armes Mädchen, ein Kleinbürgerkind, auf weichem Fauteuil dem eleganten Herrn gegenüber und sie plaudern. Und seine Zunge kann sich keiner Zweideutigkeit mehr entsinnen, die sie vor kurzem [63] wie unter einem Zwange dekottelierten Dämchen im Taumel der Walzermelodie zugezischt hat. Der Mund des Mädchens vergißt die Worte des Mißmuts, der Kränkung und der Empörung, die sie in geringer Stube den kahlen Wänden, dem Spiegel und dem Stickrahmen zugerufen. – –

Ein Strandkorb steht auf feinem Sande. Ein junges lahmes Mädchen sitzt zufrieden da. Ihre Blicke umarmen jede Welle, die über die Kieselsteine des Ufers hüpft; die Augen blicken liebreich, unnennbar gefärbt, in die Ferne, mit jenem warmen Leuchten, das ein Mädchen seinem Ideal weihen wollte – wenn es auf Erden erreichbar wäre.

Es sind in den Städten arme lahme Mädchen und Jünglinge, die sich nach der Ferne sehnen, zum Meere, vor das Unendliche, das auch der Gesunde, Aufrechte nicht überwinden kann. – Und die Mädchen haben innige Augen und weiße Wangen, aber die Menschen wollen nur ihre Lahmheit gewahren. Jünglinge humpeln verkrüppelt durch das gefahrvolle Gedränge der Straßen und sehnen sich nach Ruhe und Anerkennung und – Liebe …

Das lahme Mädchen sitzt in dem Strandkorb. Vor ihr kniet ein junger Mann, lahm. Ihre Blicke sind ein Leuchten. Die Wogen rauschen näher.

Sie sehen einander: jung, aufrecht und schön! –

Die Brandung übertönte die Stimmen, die sprachen: „Wir waren ausgeschlossen, wir sehnten uns einst den Aufrechten entgegen. Nun wir uns fanden, sind wir schön und gesund.“

Mattes Licht kleiner Petroleumlampen ruht auf einem eifrigen glückselig bewegten Gesichte und gleitet [64] still über die gelben Seiten eines Buches. Ein junger Mann liest. Seine Stirn ist der Spiegel, von dem der Beobachter die Handlung des Buches ablesen kann. Die Stirne runzelt sich besorgt: O weh, geliebte Heldin, dein Held wird von Zweifeln verzehrt … Doch bange nicht, die Stirne glättet sich und ruhigen Schrittes tritt der Held heran, seine Heldin in Empfang zu nehmen. – – –

Oh Jünglinge der großen Stadt, in trübem Lichte der Kontors Zahlen auf Zahlen schreibend, Abschlußstriche ziehend und zu nächtlicher Stunde mit trockener Zunge Zahlen, Zahlen stammelnd:

Ein Buch! Es entrückt Euch dem Fluch des Kontorstaubs, Euer zermürbter Geist erlebt die bewegenden Taten des Romanhelden im Halbtraume mit und lächelnd werdet Ihr erwachen zum Dämmergrau der Arbeitstage – –

Und da steht ein Anderer: Lebhafte Teilnahme aus dem geistvollen Antlitz, kluge, bedächtige Worte sagend, die wohlgefällig aufgenommen werden von einem kleinen Kreise junger Menschen. Die Schalheit der Kleistadt ist vergessen, der Einsame hat Freunde gefunden. Gespräche wiegen sich im herben Dufte eines Herbstabends. Vorbei die Sommerabende der unerfüllten Sehnsucht nach Menschen, nach Worten … Vorbei die Sommerabende auf dunklen Höhen, hilfesuchende Blicke in die Tiefe gerichtet, im Gewirr der beleuchteten Fenster das eine suchend, dahinter eine Seele wäre, die Mitteilung empfangen und geben möchte – – –

– – Ein schwerer Körper lehnt gegen das Geländer [65] eines Quais. Eisige Novemberluft treibt ihm entgegen.

In den Augen der Einsamen ist der Glanz der Weihnachtskerzen entzündet. Plötzlich; sie ahnt nicht, warum. Die Sehnsucht nach dem Ende ist über die Brüstung gesprungen. Nun dünken dem schweren Körper die kalten Eisenstäbe ein weiches Kissen. Die Stadt flüstert weit, weit hinter ihr: „Ich harre.“

Lächelnd kehrt Eine zurück, in Arbeit und Ehrlichkeit. – – –

„So können Leiden, kann Gram und Sehnsucht Erlösung finden, hienieden noch Erlösung finden,“ denkt unser Held.

Der Führer steht wieder vor ihm – der Saal ist verschwunden und die Rubinen der Sphinxaugen bluten – und spricht:

„Nicht jedem wird Erlösung zuteil, und alle Erlösung, die du sähest, war nur eine zeitliche. In einsamen Stunden, wenn die Sehnsucht die Herzen zu sprengen droht, wenn unwürdige Not die Herzen zerfrißt, wenn Kummer in Ungerechtigkeit ausarten will und zu Rachsucht werden – – dann nimmt mein Saal die Sehnsüchtigen, die Gepeinigten, die Verkannten auf – für Augenblicke, die sich zu einem Leben dehnen können.

Sie erwachen an dumpfen Wintermorgen, in Sommerschwüle, in Palästen, Ballsälen und Kontors, auf Reisen und in kahlen Stuben – und nur eine leise Erinnerung an meinen Saal zittert in ihren Gedanken, blaß und duftig wie Birnblüten im Frühlingswinde.

„So bin auch ich bei dir zu Gast gewesen,“ jubelte [66] der Jüngling dankbar. „Ja, damals als die Liebe, die achtzehnjährige Liebe in mir war und loderte und sich bäumte unter Zweifelsqualen und ich vor einer grausamen Gewißheit stand und nicht glauben, nicht zurück wollte, damals –"

– „Habe ich dich in meinen Saal geführt," lächelte der ernste Mann. „Oh, an deiner Leidenschaft drohte die Macht meiner Wunder zu versagen. Und du mußt mir verzeihen, daß ich dir nicht Erfüllung, sondern nur Erlösung spenden konnte. Du standest geblendet an der Pforte und sahst das Idealbild deiner Träume, die Körperlose, das duftige Märchenbild aus Silbergedanken geformt – – – nackt, nackt vor dir. – Lange bangte mir um dich, um deine Rettung.“

„Und ich bin gerettet worden," flüsterte der Jüngling, „mein Eigensinn, der sich an ein Phantom gefesselt geglaubt hatte, an das Huldbild einer Unirdischen, er wurde weich und demütig, als sie in ihrer Blöße vor mir stand. Mein Herz wußte: Nun ist sie nur noch die Körperliche, der Zauber deiner Liebe ist hinweggeweht und deine Sehnsucht floh mit ihm.“

„Ja, du bist mein Sorgenkind gewesen." Der würdige Mann sah den Iüngling liebevoll an. "Durch Träume nur konnte ich dir den Weg weisen, dir und deiner Seele, die zerbrechlich und leicht gekränkt war.“

„Und denen, die ich liebte, hast du beigestanden, du Guter. Jetzt entsinne ich mich: Meine Freundin, die ich verehrte, die Strebende, Suchende, Mutige saß einst in der Dämmerung zweifelnd da und grämte sich, weil sie kein Ziel absehen konnte. Ihre Züge waren schlaff, die Stirne so weiß und die blauen Schläfen [67] schmerzten … Denn ihr Geist kämpfte um das Unmögliche. –

Sie sah kein Vorwärts, kein Zurück und ihre künftigen Tage lauerten öde vor dem Fenster. Da sah sie sich in einem Saale – in deinem Saale, du Gütiger – und sah …: Sie sah sich selbst als Greisin in altem Lehnstuhle, welken Antlitzes, die bleichen Lippe wirre Worte lallend – – – wirre Worte, die die junge Sehnsucht einst gejauchzt hatte … Und sie sah, wie es einst sein wird und daß der Weg der Sehnsucht, der in solchem Alter endet, über die Trümmer ihrer Jugend gehen würde.

Du hast sie ihrer Jugend, du hast ihr ihre Jugend wiedergegeben. Du hast sie vor dem Uebermaß der Wünsche gewarnt. Nun lebt sie wie Eine, die eine Sehnsucht trägt, die geheimnisvoll zu genießen, nicht auszuschöpfen ist.“

– Der Mann lächelte zufrieden und sanft.

„Mein Sohn, bald bist du wieder in den Straßen dieser Stadt, in ihrem Lärm und ihrer zuckenden Schönheit, ihrem Haß, ihrer Gier, ihrem Leide und ihrer – seltenen Liebe. Dir wird sich mein Saal nicht mehr öffnen müssen.

Wisse, Eine, der ich die Jugend geschenkt habe, wird einst im Brausen des Großstadtlebens an deiner Seite stehen, deinen Arm berühren und Euere Augen werden sprechen: „Heil uns, wir haben den Saal des würdigen Mannes erschaut. Wir senken unsere Blicke ineinander und sehen ihn ewig vor uns strahlen …“ Das Licht verlöschte. Die Rubinenaugen klebten in der Finsternis. Als der Jüngling auf die Straße trat, leuchteten seine Augen wie der junge Schnee der Straße.