BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

____________________________________________________________

 

 

[1]

1.

Demokratie, Diktatur, Proletariat:

drei Begriffe des antiken Staatslebens.

 

Zwei große Strömungen treten gegenwärtig im politischen Leben Deutschlands auf: die einen, besonders in der Arbeiterschaft, streben die „Diktatur des Proletariats“ an, die anderen erklären die Demokratie für die wünschenswerteste Form der staatlichen Existenz. Aber die wenigsten von denen, die für die „Diktatur des Proletariats“ gegen die „Demokratie“ streiten, oder umgekehrt, wissen, daß die drei Begriffe, die hier auftreten, aus dem Altertum stammen: „Demokratie“ so gut wie „Diktatur“ und „Proletariat“ sind Vorstellungen, die aus dem antiken Staatsleben entlehnt sind.

Aber zunächst eine Vorfrage: Was ist „antik“, und was ist „Altertum“? Vor ungefähr 2000 Jahren war in Deutschland noch alles wild und wüst. In den Urwäldern zwischen Rhein und Oder hausten Menschen, deren Bildungszustand nicht viel anders war als der der heutigen Kongoneger. Ähnlich sah es im größten Teil von Europa aus. Dagegen im Süden Europas, in Griechenland und Italien, wohnten schon damals gebildete Menschen. Es gab dort Städte und Bücher, Wis­senschaft und Kunst. Diese frühe Zeit, in der Italien und Griechenland die einzigen Sitze einer höheren Kultur in Europa waren, nennt man „Altertum“. Die Verhältnisse und Dinge jener Zeit bezeichnet man als „antik“. „Antik“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet etwas, was „aus alter Zeit stammt“. Jedermann hat schon von „antiken“ Möbeln und ähnlichen Dingen gehört. Freilich stammen die „antiken“ Möbel und sonstigen „Antiquitäten“, die heute verkauft werden, in der Regel nicht aus dem Altertum, sondern sie sind viel jünger.

Die Bewohner Griechenlands im Altertum nennt man die „alten Griechen“ und ihre Sprache „Altgriechisch“. Ebenso könnte man auch von den „alten Italienern“ und „Altitalienisch“ reden; aber in diesem Fall ist der Sprachgebrauch anders. Wenn man die Einwohner Italiens im Altertum meint, sagt man gewöhnlich die „alten Römer“, und ihre Sprache nennt man „Lateinisch“. Griechenland und Italien bildeten nämlich im [2] Altertum ursprünglich keine einheitlichen Staaten, so wie heute, sondern sie zerfielen in unzählige Kleinstaaten. Jeder dieser Kleinstaaten bestand gewöhnlich aus einer Anzahl Dörfer und einer Stadt, und er hieß nach dieser Stadt. So war der wichtigste Staat des alten Griechenland: Athen, und des alten Italien: Rom; also die beiden Städte, die heute die Hauptstädte ihrer Länder sind. Nun ist es dem Staat Rom durch viele Kriege gelungen, alle anderen Kleinstaaten Italiens zu besiegen und in sich aufzusaugen, so daß am Ende alle Bewohner des alten Italien zu „Römern“ wurden. Deshalb spricht man heute von den „Griechen und Römern“ als den beiden Kulturvölkern des Altertums und nicht von „Griechen und Italienern“.

Von den Griechen und Römern haben nun die übrigen Völker Europas sehr viel gelernt, und die Spuren dieser Belehrung kann man noch in vielen Begriffen unserer heutigen Sprache auffinden. Und damit kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück: zu „Proletariat“, „Diktatur“, „Demokratie“. Alle drei Worte stammen aus dem Altertum: proletarius und dictator sind lateinisch, demokratia ist griechisch. „Proletarius“ bedeutete im alten Rom den „Besitzlosen“; im Gegensatz zu dem „Besitzenden“, dem „assiduus“; eigentlich der „Ansässige“, weil der wichtigste Besitz in der ältesten Zeit der Grundbesitz war. Seltsamerweise war „Proletarier“ im alten Rom ein amtlicher Begriff; jeder Römer wußte, sozusagen durch die Polizei, ob er Proletarier war oder nicht. Dies erklärt sich aus dem Militärwesen des Altertums. Im Altertum gab es ja noch kein Schießpulver und kein Gewehr; daher waren die wichtigsten Waffen des Soldaten für den Nahkampf eingerichtet: Säbel und Lanze für den Angriff, Helm und Panzer für den Schutz. Die Männer, die mit diesen Gegenständen ausgerüstet waren, die schwerbewaffneten Infanteristen, bildeten den Kern der antiken Landheere. Wehrpflichtig im Kriege war jeder gesunde erwachsene Mann. Aber seine Waffen bekam der Soldat in der Regel nicht vom Staat geliefert, sondern er mußte sie sich aus eignen Mitteln anschaffen. Nun kosteten Panzer, Helm usw. damals einiges Geld; wer nichts hatte, konnte sich die Waffen des „schweren Infanteristen“ nicht besorgen. So ergab es sich von selbst, daß nur der Besitzende bei der schwerbewaffneten Infanterie und natürlich auch bei der Kavallerie diente, der Besitzlose jedoch nicht. Damit war aber der Proletarier keineswegs militärfrei. Ihn benutzte man zunächst als Leichtbewaffneten. Der [3] Staat lieferte den Armen ganz billige kleine Speere und Schleudern. Damit betätigten sie sich auf Patrouillen, als Aufklärer und ähnlichem. Die militärische Hauptleistung des Proletariers im Altertum lag aber auf anderem Gebiet: die Kriegsschiffe der antiken Staaten wurden natürlich nicht durch Dampf bewegt, sondern man trieb sie durch Ruderkraft vorwärts, so wie die Galeeren der neueren Zeit. Der Ruderer auf dem Kriegsschiff brauchte gar keine Waffen und Ausrüstungsgegenstände, sondern nur seine kräftigen Arme. So war der Flottendienst unter den damaligen Verhältnissen die normale militärische Betätigung des Proletariers. Jetzt wird es begreiflich, daß im alten Rom bei jedem Mann schon in der Stammrolle vermerkt war, ob er Proletarier war oder Besitzender. In Griechenland lagen die Dinge ganz ebenso: in Athen hießen die Proletarier Theten. Man kann sich leicht erklären, daß eine solche Militärverfassung zu einer Klärung und Verschärfung der Klassengegensätze außerordentlich beitragen mußte. Jedermann wußte zu jeder Zeit, ob er zum Proletariat gehörte oder nicht, und in jedem der vielen Kriege des Altertums trat die Scheidung der Armen und der Besitzenden eindringlich hervor: der Wohlhabende zog ins Feld hoch zu Roß oder stolz mit Panzer und blankem Helm; der Arme dagegen als Schleuderer, wie der kleine David in der Bibel, oder als Ruderknecht. – Es sei übrigens daran erinnert, daß der Begriff „Proletarier“ vom Altertum zur Gegenwart eine Wandlung durchgemacht hat: im Altertum machte einfach die Besitzlosigkeit den Proletarier; heute versteht man unter Proletarier denjenigen, der seine eigene Arbeitskraft verkaufen muß, um so seinen Lebensunterhalt zu gewinnen.

Wenn wir jetzt zur „Diktatur“ übergehen, so bedeutete „dictator“ ursprünglich einen hohen Beamten des römischen Staats. Rom war 500 Jahre lang eine Republik. Diese Republik hatte genauso ihre Präsidenten wie die modernen Freistaaten. Die Römer hatten jedes Jahr Präsidentenwahl; aber sie wählten da nicht einen Präsidenten – sondern zwei zugleich. Diese beiden Präsidenten, Konsuln genannt, regierten gemeinsam den Staat auf ein Jahr. Die Römer fürchteten nämlich, daß, wenn es nur einen Präsidenten gäbe, dieser zu mächtig werden und die Freiheit der Bürger bedrohen könnte. Wenn aber zwei Präsidenten mit gleicher Macht nebeneinander standen, vermochte der eine auf den anderen aufzupassen. [4] Wenn der eine etwas tun wollte und der andere verbot es, durfte es nicht geschehen. Nun gab es aber doch Zeiten, wo der Staat mit besonders schwierigen Verhältnissen zu kämpfen hatte, z. B. im Kriege, und wo man doch, statt der beiden Köpfe, ein einziges Haupt der Republik haben wollte, und dann wählte man einen einzelnen, obersten Präsidenten. Ein solcher Einzelpräsident hieß in Rom: dictator und seine Tätigkeit: Diktatur. Es war jedoch vorgeschrieben, daß der Diktator nie länger als 6 Monate im Amt bleiben durfte; so stark war das Mißtrauen der Römer gegen den Präsidenten der Republik. Als aber später die römische Republik verfiel, kam es mehrfach vor, daß Generale an der Spitze der Armee die Macht an sich rissen und eine Gewaltherrschaft ausübten. Solche Männer nannten sich ebenfalls „Diktatoren“. Immer ist aber im Altertum die Diktatur die Herrschaft eines einzelnen über den Staat, sei es rechtmäßig, sei es unrechtmäßig. Dagegen bezeichnete man die Herrschaft einer Klasse oder eines Standes im Altertum niemals als Diktatur. Man sieht also, daß dieser Begriff heutzutage eine wesentlich andere Färbung angenommen hat als bei den alten Römern. Wenn im Altertum in einem Staat das Proletariat die Herrschaft hatte – also, um modern zu reden, die „Diktatur“ ausübte –, dann nannte man einen solchen Zustand – Demokratie. Wahrlich, auch die politischen Kampf- und Schlagworte haben ihre seltsame Geschichte.

Das griechische Wort „Demokratia“, von dem unser „Demokratie“ herkommt, zerfällt in zwei Bestandteile: Demo – kratia. Die zweite Hälfte: „kratia“, bedeutet die „Herrschaft“, der erste Teil: „demo“, stammt von „Demos“, „das Volk“. Danach wäre also „Demokratia“: die „Volksherrschaft“. Aber in der griechischen praktischen Politik hatte dieses Wort einen viel engeren Sinn: es war der Gegensatz zu „Oligarchia“. Die „Oligarchia“ war aber die „Herrschaft der Minderheit“ im Staat, also die Demokratie die „Herrschaft der Mehrheit“. Indessen war dies im Altertum niemals eine beliebige Minderheit und Mehrheit, sondern Oligarchie war stets die Herrschaft einer Minderheit der Reicheren, und Demokratie eine Herrschaft der Mehrheit der Ärmeren. Wo die Grenze zwischen den „Ärmeren“ und den „Reicheren“ gezogen war, das hing von den politischen und sozialen Verhältnissen des betreffenden Augenblicks ab. Entweder waren die Ärmeren nur die Proletarier, oder es war zugleich auch der Mittelstand. Andrerseits waren die Reicheren bald nur [5] die Großgrundbesitzer, bald aber auch die mittleren Landwirte, größeren Handwerksmeister usw. Genaueres über diese Klassenkämpfe des Altertums wird noch weiter unten zu sagen sein.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 1.

 

1. Was ist das Altertum?

2. Wer waren die alten Römer?

3. Wie sah der Infanterist im Altertum aus?

4. Wie sah das Kriegsschiff im Altertum aus?

5. Was wissen Sie von der Wehrpflicht im Altertum?

6. Woher kommt das Wort „Proletarier“?

7. Was bedeutete Diktatur im Altertum?

8. Was bedeutete Demokratie im Alterum?

9. Was war der Gegensatz zur Demokratie?