BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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[18]

5.

Die Anfänge der Herrschaft des Bürgertums in Griechenland.

Die Tyrannen und Tyrannenmörder.

 

Der Adelsstaat wurde in Athen um die Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus von den Bürgern und Bauern zerschlagen. Ebenso ging es um diese Zeit in den meisten anderen Staaten Griechenlands. Aber die Frage war nun, was der siegreiche Mittelstand an die Stelle der alten Ordnung setzen sollte. Die Volksversammlung blieb nach wie vor die höchste Autorität im Staate. Diese Einrichtung der Urzeit hat sich in den Staaten des Altertums mit größter Zähigkeit behauptet. Es war dies möglich, weil die Staaten des Altertums meistens ganz klein waren. Der Staat Athen hatte in der Zeit, in der wir stehen, ungefähr 30000 erwachsene Bürger, die in der Volksversammlung stimmberechtigt waren. Von diesen wohnten ungefähr ⅓ in der Stadt Athen selbst und ⅔ in einer größeren Zahl von Kleinstädten und Dörfern, die zum Staatsgebiet Athen gehörten, aber alle nicht allzu weit von der Stadt Athen entfernt lagen. Es war also zur Not möglich, daß alle stimmberechtigten Bürger zur Volksversammlung in die Hauptstadt kamen. Praktisch kamen freilich nie alle 30000 in die Versammlung, sondern nur die Hälfte, ein Drittel oder noch weniger. Die Volksversammlung war nunmehr von den Fesseln befreit, in die sie die Adelszeit geschlagen hatte. Der Bauer und Handwerker brauchte sich nicht mehr vor dem Stock des Ritters zu fürchten, wenn er ein freies Wort reden wollte. Aber es ist doch ganz klar, daß eine Massenversammlung von 10000–20000 Köpfen den Staat nicht regieren und all die politischen und Verwaltungsfragen nicht entscheiden konnte, wie sie jeden Tag auftauchten. Die Bürger und Bauern brauchten also Vertrauensleute, die in ihrem Namen und Auftrag die Regierung ausübten. Aber dem Mittelstand fehlte, da er bisher von der Regierung völlig ferngehalten worden war, jede praktische Kenntnis dieser Dinge. Es gab einfach keinen Bauern oder Handwerker, der imstande gewesen wäre, das Heer zu befehligen, sich den Staatshaushalt zu überlegen, mit den fremden Staaten zu verhandeln und vor allem die geheimen Anschläge des Adels zunichte zu machen, der immer noch davon träumte, seine alte Herrlichkeit wieder zu gewinnen. Das Proletariat vollends [19] war damals noch ganz unwissend, unorganisiert und ohne Klassenbewußtsein.

Bei dieser Sachlage blieb dem griechischen Mittelstand nur eine Möglichkeit: er mußte sich den einen oder anderen Adligen aussuchen, der mit seinen Klassengenossen zerfallen und bereit war, als Führer des Bürgertums eine Rolle zu spielen. Eine solche Persönlichkeit übernahm dann, als Vertrauensmann der nichtadligen Bevölkerung, die Regierung. Die Bürger und Bauern Athens hatten das Glück, einen sehr geeigneten Mann dieses Charakters zu finden: dies war Peisistratos.

Die Stellung, die Männer wie Peisistratos in den griechischen Staaten des 6. Jahrhunderts vor Christus einnahmen, nannte man „Tyrannis“ und sie selbst „Tyrannen“. Dieses Wort hat eine sehr seltsame Geschichte durchgemacht: es bezeichnet heute einen brutalen Gewaltherrscher. Bei den Griechen dagegen war „Tyrannos“ ursprünglich eine Bezeichnung wie „Fürst“ oder „König“. Dann verstand man besonders darunter einen Mann, der in einem äußerlich republikanischen Staat die tatsächliche oberste Gewalt inne hatte. Diese ältesten „Tyrannen“ waren durchaus keine brutalen Gewaltmenschen und Unterdrücker des Volkes, sondern im Gegenteil die Vertrauensleute der Massen und die Vorkämpfer des Bürgertums in seiner Auseinandersetzung mit dem Adel. Erst später, als die Einrichtung der Tyrannis sich überlebt hatte und als sie in Widerspruch mit dem Volkswillen geriet, hat das Wort den häßlichen Beigeschmack bekommen, der ihm bis zum heutigen Tag anhaftet.

Peisistratos übte seine Gewalt in der Form aus, daß das Volk alljährlich entweder ihn selbst oder einen seiner Verwandten und Strohmänner zum Präsidenten der Republik wählte, so daß er selbst stets die wirkliche Regierung ausüben konnte. Nun verschwand die adlige Klassenjustiz, und jedermann kam zu seinem Recht; kein Gutsbesitzer durfte mehr einen benachbarten Bauern schädigen oder belästigen. Nach den Unruhen und der Verwirrung der späteren Adelszeit kam nun eine Zeit des Friedens, die das Bürgertum eifrig benutzte, um Geschäfte zu machen. Die Manufakturen Athens blühten mächtig auf, und die Waren Athens eroberten die ausländischen Märkte vor allem in Italien. Zum Schutz des athenischen Außenhandels gegen seine Konkurrenten schuf Peisistratos zum erstenmal eine leistungsfähige athenische Flotte, und er erwarb auch für Athen wertvollen Kolonialbesitz in der Gegend der Dardanellen. Man sieht also, [20] daß Peisistratos, ein kluger und gewandter Mann, erfolgreich im Sinne seiner Auftraggeber, der Bürger und Bauern Athens, gehandelt hat. So erfreute er sich bei der Bevölkerung großer Beliebtheit; dennoch hatte er sich zur Sicherung seiner Stellung eine geworbene militärische Leibwache zugelegt.

Männer vom Schlage des Peisistratos gab es im 6. Jahrhundert in vielen Republiken Griechenlands. Aber der klügste und erfolgreichste von ihnen war Polykrates, der „Tyrann“ von der Insel Samos. Polykrates ist in Deutschland bekannt durch Schillers Gedicht von seinem „Ring“. Aber wir wollen den Mann lieber nicht als Romanhelden betrachten, sondern als den energischen und rücksichtslosen Vorkämpfer der Bourgeoisie von Samos. Er baute den Hafen von Samos aus, legte der gleichnamigen Stadt eine Wasserleitung an, deren Reste noch heute vorhanden sind, und sorgte dafür, daß der Wohlstand in Samos sich mächtig hob. In Athen starb Peisistratos im Jahre 528, und sein Ansehen war so fest gegründet, daß seine beiden Söhne die väterliche Stellung übernehmen konnten. Sie hießen Hippias und Hipparchos; beides verständige Männer, die aber an die geistige Begabung ihres Vaters nicht heranreichten. Sie suchten in Athen im Sinne des alten „Tyrannen“ weiter zu wirken; aber die Zeiten hatten sich inzwischen geändert.

Ursprünglich war das griechische Bürgertum froh gewesen, Männer zu finden, die ihm die Last des Regierens abnahmen. Aber allmählich begann es das Unwürdige dieses Zustandes zu empfinden. Angeblich lebte man in einer Republik, wo das Volk sich selbst regierte; tatsächlich entschieden aber ein bis zwei Männer über alle Angelegenheiten des Staates, und wenn sich jemand widersetzte, wurde er von den Söldnern der Herrscher gefangengesetzt. So entstand der Wunsch, die Tyrannen zu beseitigen. Das Bürgertum Athens fühlte sich erwachsen und wollte von seinen Vormunden nichts mehr wissen. Es bildeten sich Verschwörungen zur Erkämpfung der wirklichen Republik. Hippias und Hipparchos wollten die Macht nicht aus der Hand geben; sie erkannten nicht, daß die Voraussetzungen nicht mehr da waren, die seinerzeit zur Tyrannis des Peisistratos geführt hatten. So kam es zur blutigen Entscheidung: zwei leidenschaftliche Republikaner, Harmodios und Aristogeiton, versuchten, durch ein Attentat die beiden Gewaltherrscher zu beseitigen. Aber der Streich glückte nicht: zwar wurde Hipparchos getötet, aber Hippias rettete sich und behauptete sich mit Hilfe seiner Leibgarde. [21] Die beiden Attentäter mußten den Versuch mit ihrem Leben büßen. Das war im Jahre 514 vor Christus. Jedoch hat die Tat des Harmodios und Aristogeiton den Bestand der Tyrannis in Athen aufs tiefste erschüttert. Das gemütliche Verhältnis, das zwischen dem alten Peisistratos und den Bürgern und Bauern Athens bestanden hatte und das sich dann auch auf seine Söhne vererbt hatte, war endgültig erledigt: das Blut, das geflossen war, trennte von nun ab den Tyrannen und das Volk. Hippias konnte sich nur noch durch die Gewalt behaupten, und eine solche offene Gewalt-Regierung muß stets – früher oder später – zusammenbrechen. Vier Jahre nach dem Attentat war die Tyrannis in Athen bereits abgetan, und Hippias flüchtete ins Ausland.

Das athenische Volk hat stets das Bewußtsein dafür behalten, daß zu seiner politischen Befreiung die Tat von Harmodios und Aristogeiton wesentlich beigetragen hat. Das Andenken der beiden „Tyrannenmörder“ blieb hochgeehrt. Ein berühmtes Denkmal wurde ihnen in Athen gesetzt, und es entstand ein Lied zu ihren Ehren, das gewissermaßen die Marseillaise der athenischen Republik geworden ist. Es bestand eben damals in Athen von 520–510 eine eigentümliche politische und soziale Lage, bei der ein solches Attentat weittragende Folgen haben mußte. Wenn zwei Klassen miteinander ringen, hat die Tötung einer einzelnen politischen Persönlichkeit keinen ernstlichen Einfluß auf die Entwicklung. Wir werden später noch einen Fall aus Athen kennenlernen, wo der bedeutendste Führer des Proletariats auf Veranlassung des Bürgertums umgebracht wurde, ohne daß sich die politischen Machtverhältnisse dadurch irgendwie verschoben. Aber im Ausgang des 6. Jahrhunderts war ja die Lage ganz anders: es kämpften keine Klassen miteinander; denn der Kampf zwischen Adel und Bürgertum war schon entschieden, und die Auseinandersetzung zwischen Bürgertum und Proletariat hatte noch nicht begonnen, sondern das Bürgertum wollte einfach seine Vertrauensmänner abberufen, zu denen es kein Vertrauen mehr hatte, und als sie nicht willig gingen, brauchte man Gewalt.

Seit dem Jahre 510 war das Bürgertum im Vollbesitz der politischen Macht in Athen. Wenn der Adel 510 einen Augenblick daran gedacht hatte, in der Verwirrung die Herrschaft wieder an sich zu reißen, so sah er bald ein, daß solche Hoffnungen trügerisch waren. Seitdem hat sich der Adel Athens, [22] die Gutsbesitzer auf dem Lande und die reichen Herren in der Stadt, politisch dem Bürgertum angeschlossen. Einzelne Adlige sind sogar später die Führer des Proletariats geworden.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 5.

 

1. Was wissen Sie von der Volksversammlung Athens?

2. Warum konnte die Volksversammlung nicht die wirkliche Regierung führen?

3. Was waren die „Tyrannen“?

4. Was tat Peisistratos für die Bürgerschaft Athens?

5. Wer war Polykrates?

6. Wodurch überlebte sich die Tyrannis in Athen?

7. Welche Folgen hatte das Attentat von Harmodios und Aristogeiton?

8. Welche politische Rolle spielte der athenische Adel nach dem Jahre 510?