BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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15.

Die Übervölkerung Griechenlands

und ihre Folgen.

 

Griechenland ist ein kleines Land und fast durchweg von Gebirgen durchzogen. Da ist es begreiflich, daß dort nicht allzu viele Menschen Platz fanden, zumal es ja große Fabriken modernen Stils nicht gab, die allein eine Menge Menschen auf engem Raum nähren können. Die meisten Kantone Griechenlands lebten von der Landwirtschaft und etwas Handwerk; in diesen Gebieten wurde die Übervölkerung besonders drückend. Wenn ein kleiner Bauer ein Stückchen Land hatte, von dem er sich mit Mühe und Not ernährte, und es wuchsen ihm drei Söhne heran; was sollten die jungen Leute dann machen? Es blieb ihnen meistens nichts anderes übrig, als in die Fremde zu gehen.

Einen Teil dieses Bevölkerungsüberschusses verbrauchten die Handels- und Industriestädte. So stieg die Zahl der Bürger, also der erwachsenen Männer Athens, im Laufe des 4. Jahrhunderts wieder auf 20000. Daneben gab es aber nicht weniger als 10000 Fremde, die ständig in Athen lebten. Unter je drei erwachsenen Männern, die dauernd in Athen existierten, war also immer ein Ausländer! Ein außerordentlich hoher Prozentsatz Fremder, der uns zeigt, wie viele Menschen das blühende Geschäftsleben Athens an sich zog. Ähnlich wird es in den anderen größeren Städten Griechenlands wie Korinth und Kerkyra (Korfu) ausgesehen haben. [67]

Aber diese Zuwanderung in die Großstadt verbrauchte doch nur einen mäßigen Teil des Bevölkerungsüberschusses, den die Landgebiete dauernd erzeugten. Es ist schon oben betont worden: hätte Griechenland eine einheitliche Wirtschaftspolitik gehabt, so hätte der Gedanke auftauchen können, durch Abschaffung der Sklaverei in den größeren Städten den erwerbslosen Freien vom Land Existenzen zu schaffen. Aber erstens gab es eine solche einheitliche griechische Wirtschaftspolitik nicht, und zweitens wäre es für die Bauernsöhne des Peloponnes alles andere als verlockend gewesen, an Stelle der abgeschobenen Sklaven der Athener sich als Bergarbeiter oder Dienstboten zu betätigen. Was diese Leute anstrebten, war vielmehr eine neue kleinbürgerliche Existenz: irgendwo in der Fremde ein Stückchen Land oder auch die Gelegenheit, sich als Handwerksmeister niederzulassen. Solche Köpfe, die noch höher hinaus wollten, wünschten in der Fremde Kaufmann, Bankier, Arzt oder Baumeister zu werden. Wieder andere wollten sich im Ausland als Söldner vermieten und träumten von dem Marschallstab, den sie dann im Tornister trügen.

Um die Mitte des 5. Jahrhunderts beginnt diese Übervölkerung Griechenlands sich zuerst bemerkbar zu machen. Athen suchte der Erscheinung durch Gründung verschiedener neuer Städte entgegenzuwirken, so von Thurioi in Süditalien und von Amphipolis in Mazedonien. Gegen Ende des Jahrhunderts sehen wir den ungeheuren Andrang von arbeitslosen Griechen zum Söldnerdienst. Wenn die Peloponnesier oder Athener Matrosen für ihre Kriegsschiffe suchten, meldeten sich Tausende und Abertausende kräftiger Männer aus allen Teilen Griechenlands. Das eigentliche gelobte Land der griechischen Auswanderung wird aber seit dem Jahre 400 der Orient, das Perserreich.

Die riesige persische Monarchie, die sich damals von den Dardanellen bis nach Indien, von Ägypten bis Turkestan erstreckte, bot dem griechischen Unternehmungsgeist einen geradezu unbegrenzten Spielraum. Griechische Kaufleute und Handwerker, Ärzte und Techniker, aber auch Abenteurer beiderlei Geschlechts fand man im Osten überall. Dazu kam dann der griechische Soldat und Offizier. Denn die einheimische persische Armee war ebenso versumpft wie die Verwaltung, und wenn irgendein Statthalter dem König den Gehorsam aufsagte oder ein Prinz als Kronprätendent auftrat, dann wurden Griechen angeworben. Im Jahre 401 wollte ein persischer Prinz namens Kyros die [68] Krone erkämpfen. Da er das nötige Bargeld hatte, gelang es ihm ohne Mühe, für sein Unternehmen 12000 griechische Soldaten anzuwerben. Um zu ermessen, was diese Zahl damals bedeutete, sei darauf hingewiesen, daß die Landarmee Athens im 4. Jahrhundert 6000 Mann betrug. Es gibt also kaum ein besseres Zeugnis für die Übervölkerung des damaligen Griechenland als diesen Aufstand des persischen Prinzen Kyros.

Wie die Dinge lagen, waren die griechischen Einwanderer im Perserreich doch nur geduldet; wie mußte sich aber alles ändern, wenn erst einmal die Griechen im Orient die politische Macht eroberten! Dann konnte man neue Städte gründen, man konnte sich aus den beschlagnahmten Riesendomänen des Königs so viele Güter herausschneiden, wie man wollte. Die ganze Verwaltung und Armee war dann griechisch, was allein schon vielen Tausenden einträgliche und angesehene Stellungen verschaffte. Wenn dann der griechische Kaufmann und Unternehmer seine Geschäfte machte, stand der herrschende Staat dauernd hinter ihm. Es ist unter diesen Umständen begreiflich, daß im griechischen Volke der Gedanke entstand, das Perserreich zu erobern und so aller Not ein Ende zu bereiten. Zwar hatten alle griechischen Landschaften um das Ägäische Meer herum zusammen nur etwa 5 Millionen Einwohner, und das persische Riesenreich hatte zehnmal so viel. Aber die persische Staatsmaschine war völlig verrostet, und die Einwohner waren der Waffen entwöhnt, weil die persische Reichsbeamtenschaft keine wehrkräftigen, sondern gehorsame Untertanen wollte. Bei den Griechen dagegen gab es Hunderttausende von Männern, die zum Kriegsdienst geeignet und bereit waren.

Seit dem Jahre 400 beginnt dieser Gedanke, mit vereinten Kräften das Perserreich zu erobern, den Geist des griechischen Volkes zu erfassen. Eins war klar: dieses Unternehmen, das den überschüssigen Menschen aller griechischen Landschaften eine neue Heimat und dem gesamten Volke mächtigen Gewinn bringen sollte, konnte nur von einem geeinigten Griechenland durchgeführt werden. Wer sollte nun aber diese Einigung zustande bringen? Athen war dazu nicht imstande, weil es stets sein Bürgerrecht eifersüchtig gehütet hatte, weil es die anderen Griechen nur ausbeuten, aber nicht mit ihnen zusammenarbeiten wollte. Das athenische Proletariat hätte den Raubzug in den Orient gern mitgemacht; aber auf eigene Rechnung. Die athenische [69] Verfassung, wie sie einmal war, konnte sich einer Einigung aller Griechen, einer gemeinsamen griechischen Kolonial- und Wirtschaftspolitik, nicht anpassen. Die Griechen waren damals durch die Übervölkerung in einer Zwangslage, aus der nur die imperialistische Eroberungspolitik sie retten konnte. Ob wir heute das schön finden oder nicht, ist eine Sache für sich. Wir müssen nur die wirtschaftlichen Triebkräfte erkennen, die das griechische politische Leben bestimmten. Da das athenische Proletariat zur Einigung der Griechen nicht imstande war, mußte diese Einigung von bürgerlich-bäuerlicher Seite kommen. Dies entsprach auch dem Sinn der ganzen Bewegung; denn es handelte sich ja nicht darum, einer proletarischen Klasse als solcher zu helfen, sondern den Söhnen von Kleinbürgern und Bauern neue bürgerliche Existenzen zu schaffen.

Die Einigung Griechenlands ging aus, und das ist auch ganz begreiflich, von dem größten und stärksten Einzelstaat: das war Makedonien. Wir nennen heute diese Landschaft gemäß der lateinischen Aussprache des Worts im Ausgang des Altertums: Mazedonien. Heute wird Mazedonien fast vollständig von Slawen bewohnt; damals waren die Makedonen ein griechischer Stamm, der ungefähr von Saloniki bis herauf nach Monastir saß. In diese nördlichen Gebirge drang die Kultur im Altertum erst spät ein. Im 5. Jahrhundert war Makedonien noch halb wild und spielte deshalb auch politisch keine Rolle. Im 4. Jahrhundert breitete sich auch dort die Bildung aus, und nun beanspruchten die Makedonen die Stellung, die ihrer Größe und Volkszahl zukam. Makedonien war einer der wenigen griechischen Staaten, in denen es noch Könige gab. Aber der König von Makedonien war kein absoluter Herr, sondern über ihm stand die Stammesversammlung, die auch die oberste richterliche Gewalt ausübte. Der Kern des makedonischen Volkes war ein kräftiger Bauernstand; daneben gab es Großgrundbesitzer, die aber keinerlei Herrenrechte über die Bauern ausübten – wenigstens im 4. Jahrhundert nicht mehr –, und eine schwache städtische Bevölkerung. Makedonien hatte ungefähr eine halbe Million Einwohner, es konnte also mindestens 40000 schwerbewaffnete Soldaten aufbringen. Kein anderer griechischer Staat konnte sich im Landkrieg auch nur im entferntesten mit Makedonien messen.

König von Makedonien war seit 359 Philippos, ein hervorragender Staatsmann und General. Er trat mit dem Programm [70] hervor, alle griechischen Kantone in einem gerechten Bund zu einigen, und dann sollten die Griechen den gemeinsamen Krieg gegen Persien führen. In weiten Kreisen des griechischen Volkes fand Philippos begeisterten Anhang, aber ein starker Gegner trat ihm selbstverständlich in den Weg: das war Athen. So wächst sich der Kampf um die Zukunft der Griechen zu einem Duell aus zwischen der Proletarierrepublik Athen auf der einen Seite und der militärisch-agrarischen Monarchie Makedonien auf der anderen Seite. Aber Athen stand von vornherein auf verlorenem Posten, weil die wirtschaftliche Entwicklung fast das gesamte griechische Bürger- und Bauerntum, das heißt die große Mehrheit der Nation, hinter Makedonien führte.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 15.

 

1. Welche Teile Griechenlands waren übervölkert?

2. Welche Abflußquellen gab es für den Überschuß an Arbeitskräften?

3. Welches Gebiet übte auf die griechischen Auswanderer eine besondere Anziehungskraft aus?

4. Welches Heilmittel gegen die Übervölkerung bot sich den Griechen?

5. Wie stand es mit der militärischen und politischen Leistungsfähigkeit des Perserreichs?

6. Warum konnte Athen die Einigung der Griechen nicht durchführen?

7. Welcher andere griechische Staat hat diese Aufgabe gelöst?

8. Welche Umstände befähigte Makedonien, die Führung der Griechen zu übernehmen?

9. Welcher Klassengegensatz verkörperte sich in dem Kampf Athen – Makedonien?

10. Aus welchem Grunde mußte Makedonien über Athen siegen?

11. Wie waren die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Makedonien?