BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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19.

Die demokratischen Gemeinden und die kapitalistische

Reichsregierung in der römischen Kaiserzeit.

 

Die sogenannten römischen Kaiser sind in den ersten beiden Jahr­hunderten nach Christus von Rechts wegen gar keine Monarchen gewe­sen, sondern Präsidenten der Republik auf Lebenszeit. Das Römische Reich umfaßte damals den größten Teil von Europa, Nordafrika und das westliche Asien. Die Ausbreitung und Unterdrückung der Reichs­bewohner, wie sie unter der späteren römischen Republik an der Tagesordnung gewesen war, hörte auf. Die Steuern, welche die Bevölkerung zu tragen hatte, waren sehr mäßig. In der ganzen Kulturwelt herrschte Frieden, so daß Bildung und Wohlstand überall zunahmen. Die römische Kaiserzeit hatte Verwaltungsgrundsätze, die so großzügig waren, wie wir es später in der Geschichte kaum wieder finden. Das ganze Reich war auf der vollen Selbstverwaltung der Gemeinden aufgebaut: das Riesengebiet von Schottland bis Palästina zerfiel in einige tausend Selbstverwaltungsbezirke. Das war in der Regel eine Stadt mit einer Anzahl umliegender Dörfer. Diese Städte hatten ihre eigenen Finanzen, ihre eigene Polizei, ihre eigenen Gerichte, und die Reichsregierung ließ sie, soweit es nur irgend ging, in Ruhe. Das Militär lag an den Grenzen, um die wilden Stämme, die draußen wohnten, abzuwehren. Nur die Garde stand in der Hauptstadt Rom. Sonst bekam man in den zivilisierten Provinzen des Reichs überhaupt keinen Soldaten zu sehen: es gab dort auch keinen kaiserlich römischen Schutzmann, keinen kaiserlichen Gendarmen, keinen Landrat und Landgerichtsrat. In normalen Zeiten merkte man von der Reichsregierung überhaupt nichts, sondern die Gemeinden machten alles selbst. Nur Todesurteile durften die örtlichen Gerichte nicht aussprechen. In Frankreich war z.B. die Reichsregierung nur durch drei Statthalter vertreten. Einer von ihnen saß in Lyon und regierte das halbe Frankreich. Er hatte in Lyon sein Schloß und seine Büros. Aber er hatte unter sich nicht etwa ein Netz von Unterbeamten, das sich über das ganze Land erstreckte, sondern unter ihm kamen gleich die Gemeinden. Auch wenn ein Statthalter den besten Willen gehabt hätte, die Gemeinden dauernd zu stören, wäre es ihm nicht gelungen, weil er gar nicht die Organe dazu hatte und weil das Gebiet viel zu [88] groß war, das unter ihm stand. Überdies hatte fast jede römische Provinz ihren Landtag, der sich aus Vertretern der einzelnen Gemeinden zusammensetzte. Der Landtag stand dem Statthalter zur Seite und konnte sich über ihn bei der Reichsregierung beschweren, wenn er dazu Anlaß gab.

Die ganze politische Leidenschaft der Massen, vor allem in Italien, aber auch in den anderen zivilisierten Ländern des Reichs, verlegte sich in der Kaiserzeit in die Kommunen. Die Bürgerversammlung wählte alljährlich nach gleichem Stimmrecht zwei Bürgermeister, die zugleich auch Recht sprachen, und zwei Polizeidirektoren. Wenn dann ihr Amts­jahr abgelaufen war, traten die vier in den Stadtrat ein. Die Wahlkämpfe in den Gemeinden waren alle Jahre überaus lebhaft. Die laufenden Stadtgeschäfte erledigten die Bürgermeister zusammen mit dem Stadtrat; die wichtigsten Dinge kamen vor die Bürgerversammlung.

Man sieht, daß diese Städteverfassung der ärmeren Bevölkerung einen starken Einfluß einräumte. Zwar waren die städtischen Ämter alle unbesoldet und dadurch in der Hand der Besitzenden; aber die Ärmeren, Handwerker, Bauern, Arbeiter, überwogen in der Bürgerversammlung und stellten alljährlich durch ihre Wahl die Männer an die Spitze der Gemeinde, zu denen sie Vertrauen hatten. So sehen wir denn auch in der Gemeindepolitik eine lebhafte Sorge um die Interessen der Ärmeren. Die Stadt baute Theater, Zirkusse, Bade­anstalten, Sport- und Spielplätze zur unentgeltlichen Benutzung für jedermann und sorgte auch für billige Lebensmittel. Vor allem fühlten sich aber die reichen Bürger verpflichtet, ihr Vermögen in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, um so Ansehen bei den Ärmeren zu gewinnen. Sie veranstalteten Speisungen für ihre Mitbürger, richteten gute Schulen ein, deckten die Unkosten für Volksfeste und bezahlten sogar öffentliche Bauten. Hätten aber die Armen nicht die Ämter und Ehren in der Stadt zu vergeben gehabt, so würden sich die Reichen nicht so eifrig um ihr Wohlwollen bemüht haben.

Während also die Verwaltung der Gemeinden auf demokratischer Grundlage ruhte, war die Reichsverwaltung ganz anders geartet. Die ärmere Bevölkerung verlor schon zu Anfang der Kaiserzeit jeden wirklichen Einfluß auf die Regierung des Reichs. Der Kaiser regierte vielmehr zusammen mit dem Senat, der jetzt eine Art von Oberhaus wurde, in dem von Rechts [89] wegen nur Millionäre Aufnahme fanden. Auch sonst wurden zu den höheren Reichsämtern nur die Angehörigen wohlhabender Familien zugelassen. Die reichen Römer, die Großgrund­besitzer, Rentiers, Bankiers usw., wurden zu einer Sonderklasse, den sogenannten „Rittern“, zusammengeschlossen. Und nur die Ritter waren fähig, an der Reichsregierung teilzunehmen. Über den Rittern stand dann eine noch höhere Klasse: die adligen Millionäre, die dem Oberhaus angehörten, der sogenannte „Senatorenstand“. Das Römische Reich als Ganzes war also seit Augustus ein kapitalistischer Klassenstaat krassester Form. Aber in der Praxis war der Druck auf die ärmere Bevölkerung nur gering, weil der Klassenstaat ja bloß den Rahmen für Tausende freier Stadtgemeinden darstellte. Nur einer einzigen Stadt des Reichs fehlte die Selbstverwaltung; das war gerade die Hauptstadt Rom, weil der Kaiser und die herrschenden Klassen vor den 800000 Großstädtern – auf diese Zahl war allmählich die Bevölke­rung der Hauptstadt angewachsen – Angst hatten. Eine demokratische Stadtverwaltung in Rom, gestützt auf die Urversammlungen der Bürger, hätte für die kapitalistische Reichsregierung eine Gefahr bedeutet. Deshalb wurde die Stadt Rom von einem kaiserlichen Polizeipräsidenten regiert und stark mit Militär und Polizei belegt. Zum Ausgleich dafür hat aber die kluge Reichsregierung alles aufgeboten, um wenigstens die materielle Lage der Hauptstädter so günstig wie nur möglich zu gestalten. Das Reich lieferte der breiten Masse ihr Brot ganz umsonst, und großartige Volksfeste und Theateraufführungen wurden oft und unentgeltlich veranstaltet.

Eine große Leistung der Reichsregierung war es, daß sie alles vermied, was an eine Militärdiktatur erinnern konnte. Dadurch, daß man die Armee an die fernen Grenzen des Reichs verlegte – abgesehen von den 10000 Gardisten der Hauptstadt –, sie unter straffer Disziplin hielt und sie nicht stärker machte, als es unbedingt nötig war, wurde die Militärherrschaft vermieden. Die General- und Statthalterposten wur­den mit Mitgliedern des Oberhauses und nicht mit Berufsoffizieren besetzt, so daß die zivile Reichsregierung stets die oberste Gewalt behielt.

Im Laufe der Entwicklung hatte aber doch die Klassenscheidung, wie sie in der Reichsregierung zutage trat, ihre bedenklichen Folgen. So ging die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz verloren: es wurde üblich, daß für dasselbe Verbrechen ein Angehöriger der reichen, herrschenden Klasse nur in eine [90] andere Provinz verschickt wurde, der Arme aber ins Zuchthaus wanderte. Gegen Ende des 2. Jahrhunderts war man soweit, daß Angehörige der armen Klasse unter besonderen Umständen gefoltert werden durften, die Reichen aber nicht! So schwand die persönliche Unantastbarkeit des Staatsbürgers und die Gleichheit aller vor dem Gesetz allmählich unter dem Einfluß der Klassenherrschaft im Reich dahin. In derselben Zeit glich sich der Gegensatz zwischen den herrschenden Römern und den beherrschten anderen Völkern des Reichs aus: es gab jetzt überall nur noch Reiche und Arme.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 19.

 

1. Welche Verdienste hatte die Regierung der römischen Kaiserzeit?

2. Welche Rechte hatten damals die Srädte?

3. Wie wurden die Städte verwaltet?

4. Wer wählte die Bürgermeister, und wie lange waren sie im Amt?

5. Welche Rechte und Vorteile hatte die ärmere Bevölkerung der Stadtgemeinden?

6. Wie wurde damals die Hauptstadt Rom regiert?

7. Welche herrschenden Stände gab es im Reich?

8. Welche Vorzüge genossen die Angehörigen der herrschenden Klassen vor Gericht?

9. Welche Stellung hatte das Militär in der römischen Kaiserzeit?