BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Schubartgymnasium Aalen

gegründet 1912

 

Abiturjahrgang 1943

 

____________________________________________________________________

 

 

 

Inge Walter

geb. Stützel

Abiturjahrgang 1943

_____________

 

„Bubamädla“

_____________

 

Mit sechzehn wurden fünf aus unserer Mädchenklasse zu „Bubamädla“.

Diese typisch Aalenerische Bezeichnung ist für Nichteingeweihte durchaus irreführend! Man nannte uns nicht etwa so, weil wir nun bald mit der Tanzstunde beginnen sollten und deshalb ab und zu einen verstohlenen Blick nach der anderen Seite des Schulgebäudes wagten – das taten andere Klassenkameradinnen auch, und manche erfolgreicher! Wir fünf aber hatten Eltern, welche der Meinung waren, noch ein paar Jahre Latein, sowie der Umgang mit Logarithmentafel, Rechenschieber und Goethe könnte auch Töchtern nicht schaden, und nach dem Abitur sähe man dann schon weiter . . .

So stiegen wir also nach Ostern etwas bänglich die linke Steintreppe der Parkschule hoch, gingen durch die bekannten hohen, halbdunklen Gänge und meinten, der altvertraute Ölgeruch sei heute mit Fremdem vermischt. Würde nicht gleich der Hausmeister auftauchen und uns zuschreien: „Mädle müsset auf die ander Seit' nüber!“ Ach, wären wir vielleicht nicht doch besser auf der „andern Seite“ geblieben, um nähen und kochen zu lernen? Klopfenden Herzens nahmen wir in den hinteren Bänken des uns zugewiesenen Klassenzimmers Platz und fühlten uns als ungebetene Eindringlinge, während die Buben betont unbekümmert lärmten und lachten und sich in einem noch unverständlichen Jargon Scherze zuriefen. Wir waren froh, als die Stunde begann und das allgemeine Interesse auf neu anzuschaffende Bücher und Stundenplanänderungen gelenkt wurde. Übrigens, jeder Lehrer reagierte anders auf unser Dasein: manche behandelten uns überaus höflich (wie Damen, die wir noch nicht waren), was die Buben wiederum amüsierte, andere, sichtlich unangenehm berührt von dem weiblichen Zuwachs, duldeten uns grollend, wieder andere begegneten uns mit feinem, beißendem Sarkasmus. Wir spürten verwundert, daß wir die meisten Lehrer zunächst irritierten, und kosteten das auch ein bißchen aus. Jedoch waren wir vor allem darauf bedacht, bald in die Klassengemeinschaft aufgenommen zu werden. Die Lernatmosphäre war anders als in der Mädchenschule, weniger gespannt und erregt, dafür gelassener und toleranter. Und das kam uns zu Hilfe: Denn nachdem uns die Mitschüler genügend beäugt und eintaxiert hatten, gab's nicht etwa ein Tuscheln oder Spötteln, sondern sie gingen zur Tagesordnung über und unterhielten sich weiter über Sport, Briefmarken und Autos und über die kleinen Mädchen, welche mit wippenden Röcken die rechte Treppenseite in Scharen hinaufstiegen. Als wir zum erstenmal bei einer schwierigen Hausaufgabe zugezogen wurden, atmeten wir auf. Es ergab sich, daß wir in den Physik- und Mathematikstunden nicht alles verstanden (wie erschrak ich, als der Physiklehrer einmal sagte: „Heute sollten wir eigentlich den Verbrennungsmotor beim Auto durchnehmen, ich will Sie damit verschonen, das ist Ihnen ja alles bekannt, machen wir gleich beim Flugzeug weiter . . .“). Da mußten wir uns bei den Buben Rat holen. Diese wiederum ließen sich ganz gern mal eine englische oder französische Übungsarbeit durchsehen oder ein Gedicht interpretieren.

So fügten wir uns denn, so gut wir es vermochten, in die neue, härtere und hellere Umgebung ein und wurden langsam akzeptiert. Die Buben hatten sich am Anfang besonders burschikos gebärdet, benahmen sich aber allmählich höflicher und leiser. Nach Monaten half mir einer plötzlich verlegen in den Mantel. Und dabei blieb's auch: man half uns von da an in den Mantel.

Es wurde dann eigentlich immer schöner, freilich auch immer ernster. Der Krieg hing wie eine schwere, dunkeldrohende Wolke über diesen unseren letzten Schuljahren.

Als der Direktor uns das Reifezeugnis überreichte, waren die meisten unserer Mitschüler schon an der Front.

Der Schritt von der Bubenklasse zur Universität war dann eigentlich gar nicht mehr so schwer für uns Mädchen. Wir hatten manches gelernt von unsern Mitschülern, seit wir damals zögernd „auf die andere Seite“ gekommen waren. Weniger enthusiastisch, aber gelassener und nüchterner betraten wir nach dem Krieg die Universität, um weiter zu fragen und zu lernen.

Als ich Jahre später an einer Bubenschule unterrichtete, freute ich mich immer an der gewissen schöpferischen Unruhe, welche neue Mitschülerinnen in die oberen Klassen brachten.

Und jenen „Bubamädla“, die da keck oder verängstigt in den Bänken saßen, hätte ich am liebsten zugerufen: „Nur Mut, es wird schon recht werden! Schaut sie euch nur gut an, eure Herrn Mitschüler; vielleicht hilft euch das später, wenn es darum geht, eure Männer besser zu verstehn und eure Söhne . . .“

Dr. Inge Walter

Heidelberg

 

[aus: 50 Jahre Schubart-Gymnasium, Aalen: 1914 – 1964,

Hrsg.: Friedrich Heintzeler, Aalen: Schubart-Gymnasium, 1964, S. 146-147]