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B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A

 

 

 

 
Reinhard Sorge
1892 - 1916
 


 






 



D a s   M ä d c h e n

1911

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I

Bei letzter Sonne noch gewohntes Schicksal,
Brachte der erste Stern den Wechsel? Eben
Umstrichen noch von der Luft der staubigen, öden
Steinbrüche, noch der grauen Flächen Lähmung,
5
Sprühte der Stein jetzt Funken, und erquoll
Ozon in Strömen von verschwenderischen
Himmeln. Zwar drohte schwanker die schon schwanke Bahn
Versteckten Gründen näher, doch jed' neuer Tod
Mehrt nur des Helden Herz.
10
So wichest du nicht aus. Mit weiten Nüstern
Sogst du den Rausch der Düfte und mit Händen,
Sehr wohl bereit einst Tränen aufzufangen
Für dieses Spielen, haschest du die Funken.

Der Schläfer findet sich des Morgens neu.
15
Die frohen Arme greifen in das Licht.
Sie sprechen ihre Sprache.

So war der Jüngling selig, als das Mädchen
Ihm Gold und Rausch bot. Jedes nahm er hin
Und haschte jedes neu.

20
                  Doch andern Abends
In seiner Einsamkeit gewahrt der Blick
Des Weibes Frage und das Wundertum.
Jetzt ist nicht Grund noch Forschung; Jede Pflanze
Schaut anderen Gesichts, und tiefe Scheidung
25
Furcht hin durchs All.

                  Da hemmt er seinen Schritt
Und sieht zu Boden. Kein Gefühl, das weist
Und wächst
Und rettet.

30
Er schritt nun tiefer zu. Des schwarzen Waldes erstem
Holze vorüber ging der Schritt, und drinnen
Floß Schweigen wie ein Traum von Baum zu Baum.
Die geraden Stämme standen dicht und wirr.
Der Weg war schmal. Es waren viele Wurzeln.
35
Dann kam der Platz. Den deckten hundert Rosen
In schönem Umkreis, und darüber hob sich
Steinern mit einem Antlitz, das aus allen
Adern und Herzen dieser Erde . . . Sehnsucht
Getrunken hatte: Halb Symbol, halb Tier:
40
Die Sphinx.

Wie er zum Himmel sah, der sich in flachen
Blitzen besprach, zischte durch Dunste glühend
Ein Meteor. Er wollte innerst jubeln,
Doch starb der Ruf im Mund. Schon das Gestirn
45
Fiel sausend erdwärts und verschloß den Wald
Schwerdumpfen Falles. Glanzlos. Herzhin fiel das Blut

15.-16. VIII. XI


II

Als er
Des Abends hinschritt, deutlicher drängte ihm
Als jemals alles Ding nah. Freudiger staunte er.
Der gelbbetupften Birken Zweige fächelten
5
Die Luft. Die roten Vogelbeeren prahlten.
Der junge Herbst entstieg dem Boden. Schleier noch
Und Duft.
                  Er schritt bergan; Er sprach:
Des Mädchens Küsse hatten Macht, zu reifen,
10
Stammelnde Triebe auszudeuten, seltsam
Schwankt Sinn und Ahnung, Zweifelsucht und Neigung.
Schweig still. Was sich erlebt in uns, gesichert
Vor engem Hirn und falscher Vorbesorgnis
Wird es.
15
Wir schaffen uns in dunkelstem Gewahr.
Wenn innerst Glück gesundet, schwankt vielleicht
Das Haupt in Nöten, und die Seele zagt.


III

Lebendige, du schüttest mir mehr Wunder
Als Stern und Meer. Der Einsame schenkt jenen
Hauch, Hall und Art von seinem Dichttum, deutet
Sie seiner Ahnung nach. Gewand und Klang
5
Sind sein, wenn sie durch obere Sphäre schreiten:
Sterne und Meer. Du bietest mir den Frühling
Im Kleid des andren Wesens mit Gesang,
Der nicht mein Echo. Du staunst meinen Schmuck.
Lebendige. Und andre.
10
                  Doch in höchster
Stunde umströmt die Seele nahe Seele
Und singt von sich. Dann wirbelnd mischen sich
Die Töne, und vergebens sucht der Eine
Des andren Orgel, da es Einklang ward.


IV

Nur Toren sehen Blitze wahllos zucken.
Des Vorgewitters dumpfe Muße
Erschloß ihm nicht den Sinn. Dann zäumten rot
Goldene Zügel die gehetzten Rosse.
5
Auch rann der Regen. Sturmdurch schwankten Felsen.

Die Feuer wählen die bestimmten Straßen.
Elektrisch wütend umschlingt Anverwandtes
Einander, tilgt das Störerische. Prachtvoll
Erfüllt sich die geheime Mitleidschaft
10
Von Raum zu Raum. Nicht Meer noch Lande trennen.

Das Mädchen wuchs ihm unter nächtigem Rasen,
Unter der Donner Pauke und der Blitze
Fackel aus Zufalls Tand zu Not und Wahl.
Staunend sah Auge die verborgnen Pfade.
15
Heimliche Wirbel reißen Mensch zu Mensch,
Lachend der Ferne trennende Gewalt
Gleich Blitzen.


V

Das grell und rote Licht der glüheri Drähte
Wob keinen Traum. Die Sünden glänzten schillernd
Um Mund und nackten Hals. Enttäuschung, Durste
Und Rausch von Macht und Spähen listiger Pfade,
5
Da bloßes Schwert die geraden all besetzt hielt,
Hatten in voller Schale nah dem Herzen
Zu Giften sich gemischt. Zischelnder Spiegel.
Beredte Lockung. Stirn und Braue aber
Kannten des Feuers und der Sehnsucht Weihen.

10
Krankheit ist Unrecht und Betrug am Leben.
So sprach der Jüngling; Aufhob er die Schale
Voll Gift und Wunde. Und er leert sie lachend!

Julianus
Apostata zerschnitt einst warmen Leib
15
Der Frau und forschte in den Eingeweiden,
Im Krampf des Herzens und im Dampf der Därme
Nach seinem Schicksal. Andern Tages starb er.

Christus,
Der Welterlöser heißt, war Sohn der Jungfrau,
20
Weihte die Jungfrau und starb hin jungfräulich.

Nietzsche -
Dionysos verkündete vom Felsen
Sich selbst als Einsamen und sang der Keuschheit,
Selber vom Weibe krank. Er starb im Irrsinn.

25
Das Mädchen war mir schön in ihrer Sehnsucht.
Ihr Antlitz war Gebet. Nachthaar umsäumte
Die Blässe, und mit tausend Sternen säumte
Nacht alles Haar.
Er sprach bei sich - sie ahnte dies vielleicht
30
An Atems Zittern und an wilderem
Schwung seiner Küsse -: Born und Wunsch und Wiege,
Ich tauche tief in dich. Sieh zu! Sieh zu!
Mein Wesen sinkt in deines schwer und selig,
Wie Nächte sinken in des Abends Traum.


VI

Der Abend flog schon nieder in die Täler.
Des Tages Gold und Glut starb ohne Trauer
In blaß Umdämmern hin. Wir ruhten schweigend,
Mein Haupt in deinem Schoß.

5
Als dann der ersten Sterne Blau erwachte,
Ward dir ein neu Gesicht aus frommen Küssen.
Nannt ich dich Mutter? Nanntest du mich Kind?
Des Dunkels zarter Rausch umfing uns ganz,
Unsere Liebe säumten zage Sterne.

Aus tiefen Bronnen stieg die Heiligkeit
10
Und lohte durch uns. Und dein Antlitz wuchs
Und wuchs in hohe Himmel wie gesegnet.
Ich stammelte: Madonna, und ich kniete!


VII

Weißt du: ich möchte meine grausigen Fieber löschen
In andren Welten;
Daß doch die Leiden und schwarzen Gestirne all
Am Lichte zerschellten!
5
Aber die Riegel sind fest und aus den Nähen all
Starren die Kälten.

Ahnst du: ich schaue aus Herz und Geist stets
Zum blauen Äther;
Ich möchte mich biegen um Sonne, im großen Werden
10
Ein Wundertäter!
Aber die Macht köpft jede Befreiung, der Tod sät
Und erntet später.

4. X. XI


VIII

Nach Tages Kampf faßt du die pochende Hand,
In letzter Sonne stille wandern wir
Durch das Schweigen und über das schlafende Land
Besänftigt.

5
Bald neigt sich Nacht, neigt sich mein Auge zu dir,
Und du erscheinst mir wie Engel vom Himmel gesandt,
Wie heilige Mutter im Geist erscheinst du mir.
Wir schweigen.

Wenn sich dein Leib mir wie atmende Blüte anschmiegt,
10
Fachst du Flamme um Flamme, fachst du das höhere Sein,
Traum von Umschlingung und Kuß, der uns sternean wiegt,
Glückselig.

Spende dem Stammelnden, spende vom ewigen Wein.
Schwinge geweihtester Lust, die zu Gottum entfliegt,
15
Hülle uns, hülle aufrauschend die Liebenden ein.
O Wunder!


IX

Die zarte Knospe schwankte im Mondschein.
Da rollte Sonne auf. Nun sprang der Kelch
Der Glut entgegen, und es kochten Säfte
Und strömte Duft. Als Abend niederkam,
5
Umfing in Winden eine andre Zartheit
Reifer und tiefer glückliches Gewächs.


X

Die stürmischen Bahnen
Hast du beruhigt,
Wolke, Wolke
Hüllst du segnend den Zerrissenen -
5
Die zuckenden Pfade
Tauchst du in Milde,
Wolke, Wolke
Birgst du die Verklärung.
Auf silbrigem Flaum
10
Gleitet die Sonne,
Und
Lichtschwer
Sinkst du ins suchende Herz.
 
 
 
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