BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kurt Tucholsky

1890 - 1935

 

Schloß Gripsholm.

Eine Sommergeschichte

 

2. Kapitel

 

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Zweites Kapitel

 

 

All to min Besten, sä de Jung – dor slögen

se em den Stock upn Buckel entzwei.

 

 

1

 

 

Das Kind stand am Fenster und dachte so etwas wie: Wann hört dies auf? Dies hört nie auf? Wann hört dies auf?

Es hatte beide Arme auf das Fensterbrett gestützt, das durfte es nicht – aber es war für einen Augenblick, für einen winzigen, gestohlenen Augenblick, allein. Gleich würden die andern kommen; man spürte das zuerst im Rücken, der nun der Tür zugewendet war, der Rücken kitzelte erwartungsvoll. Wenn die andern kommen, ist es aus. Denn dann kommt sie.

Das kleine Mädchen schüttelte sich: es war wie die schnelle leise Bewegung eines Hundes, der Wasser abschüttelt. Das, was das Kind bedrückte, brauchte es nicht erst zu überdenken: es saß inmitten seiner kleinen Leiden wie auf einem Lotosblatt, zwischen andern Lotosblättern, und alle runden Blätter sahen es an – das Kind in der Mitte. Und es kannte sie alle, seine Leidensblätter.

Die andern Kinder – sein Spitzname «Das Kind» – dieses Kinderheim in Schweden – der tote Will, und nun stieg die Kurve der Furcht siedend-rot nach oben: Frau Adriani, die rothaarige Frau Adriani – und dahinter dann das Traurigste: Mutti in Zürich. Es war zuviel. Das Kind zählte neun Jahre – es war zuviel für neun Jahre. Nun weinte es das bitterste Weinen, das Kinder weinen können: jenes, das innerlich geweint wird und das man nicht hört.

Trappeln. Schurren. Türenklappen. Kein Wort: eine stumme Schar näherte sich. Also war sie dabei. Du großer Gott –

Die Tür öffnete sich majestätisch, als habe sie sich allein aufgetan. Im Rahmen stand die Frau Direktor, der «Teufelsbraten»: die Adriani. Ihren Beinamen hatte sie von ihrem Lieblingsschimpfwort.

Sie war nicht sehr groß: eine stämmige, untersetzte Person, mit rötlichem Haar, graugrünlichen Augen und fast unsichtbaren Augenbrauen. Sie sprach schnell und hatte eine Art, die Leute anzusehn, die keinem gut tat . . .

«Was machst du hier?» Das Kind duckte sich. «Was du hier machst?» Sie ging dabei auf die Kleine zu und gab ihr eine Art Knuff gegen den Kopf – es war nicht einmal eine Ohrfeige; der Schlag ignorierte, daß da ein Kopf war: er verfügte nur über das vorhandene Material. Zufällig war es ein Kopf. «Ich habe . . . ich . . . ich bin . . .» – «Du bist ein Teufelsbraten», sagte die Adriani. «Drückst dich hier oben herum, während unten geturnt wird! Heute abend kein Essen. In die Schar!» Das Kind schlich unter die andern; sie machten ihm hochmütig und mit artigem Abscheu Platz.

Dies war eine Kinderkolonie, Läggesta, in der viele deutsche Kinder waren und auch einige schwedische und dänische. Frau Adriani nützte ihr Besitztum am Mälarsee auf diese Weise gut aus. Zwei Nichten halfen ihr bei der Arbeit: die eine, wie ein Ableger der Tante, gehaßt und gefürchtet wie sie; die andre sanft, aber unterdrückt und furchtsam; sie versuchte zu mildern, wo sie konnte – es gelang ihr selten. Wenn die Alte ihre Tage hatte, waren die beiden Nichten nicht zu sehen. Sie hatte vierzig Kinder. Sie hatte keine Kinder. Und die vierzig hatten es nicht gut. Die Frau plagte sich viel um die Kinder; aber sie war hart zu ihnen, sie schlug. Schlug sie gern . . .? Sie herrschte gern. Jedes Kind, das die Kolonie vor der Zeit verließ, war in ihren Augen ein Verräter; sie hätte nicht sagen können, woran; jedes, das hinzukam, eine willkommene Bereicherung des Materials, auf dem sie regierte. Wenn sich auch viele Kinder beklagten und fortgenommen wurden –: sie hatte viele Waisen darunter, und es kamen immer neue Mädchen.

Kommandieren . . . Damit hatte sie es nun sonst nicht leicht. Denn wo sich die Schweden beugen, verbeugen sie sich höflich, weil sie es so wollen. Sie gehorchen nur, wenn sie es eingesehen haben, daß es hier und an dieser Stelle nötig, nützlich oder ehrenvoll ist, zu gehorchen . . . sonst aber hat einer, der in diesem Lande herrschen will, wenig Gelegenheit dazu. Man verstände ihn gar nicht; man lachte ihn aus und ginge seiner Wege.

Frau Adriani wechselte oft ihr Personal und brachte sich die Angestellten häufig aus Deutschland mit, wohin sie manchmal reiste. Im Winter saß sie hier oben fast allein, nur wenige Kinder blieben dann da – wie zum Beispiel die kleine Ada. Ihr Mann . . . wenn Frau Adriani an ihren Mann dachte, war es, wie wenn sie eine Fliege verjagen mußte. Dieser Mann . . . sie zuckte nicht einmal mehr die Achseln. Er saß in seinem Zimmer und ordnete Briefmarken. Sie verdiente das Geld. Sie. Und im Winter wartete sie auf den Sommer – denn der Sommer war ihre Zeit. Im Sommer konnte sie durch die langen Korridore des Landhauses donnern und befehlen und verbieten und anordnen, und alles um sie herum fragte sich gegenseitig nach ihrer Stimmung und zitterte vor Furcht, und sie genoß diese Furcht bis in die Haarspitzen. Fremde Willen unter sich fühlen – das war wie . . . das war das Leben.

«Jetzt bleiben alle hier oben, bis es zum Essen klingelt. Wer spricht, hat Essenentzug. Sonja! Deine Haarschleife!» Ein Mädchen riß sich, puterrot, die Schleife, die sich gelöst hatte, aus den Haaren und band sie von neuem. Es war so still – man hörte vierzig kleine Mädchen atmen. Frau Adriani genoß mit einem kalten Blick ihrer graugrünen Augen die Situation, dann ging sie hinaus. Hinter ihr zischelte es zwiefach: das waren die, die, ganz leise, sprechen wollten, und die andern, die die Flüsternden mit einem «Pst!» daran zu hindern suchten. Das Kind stand für sich allein. Kleine Mädchen können sehr grausam sein. Es war sonst keine bestraft worden, am heutigen Tage – die Majorität hatte also stillschweigend beschlossen, das Kind fallenzulassen. Das Kind hieß «das Kind», weil es einmal auf die Frage der Adriani: «Was bist du?» geantwortet hatte: «Ich bin ein Kind.» Niemand beachtete es jetzt.

Wann hört dies auf? dachte das Kind. Das hört nie auf. Und dann liefen die Tränen, und nun weinte es, weil es weinte.

 

 

 

2

 

 

Die Bäume rauschten vor unsern Fenstern, und sie rauschten mich aus einem Traum, von dem ich schon beim Erwachen nicht mehr sagen konnte, was das gewesen sein mochte. Ich drehte mich in den Kissen; sie waren noch schwer von Traum. Vergessen . . . Warum war ich aufgewacht?

Es klopfte.

«Die Post! Daddy, die Post! Geh mal an die Tür!» Die Prinzessin, die eben noch geschlafen hatte, war wach – ohne Übergang.

Ich ging. Zwischen Bett und Tür überlegte ich, wie es doch zwischen Mann und Frau Morgen-Augenblicke gibt, da hat es sich mit der Liebe ausgeliebt. Sehr entscheidende Augenblicke – wenn die gut verlaufen, dann geht alles gut. Von dem quäkrigen «Wieviel Uhr ist es denn . . .?» bis zum «Hua – na, da steh auf!» . . . da pickt die kleine Uhr auf dem Nachttisch viel Zeit auf, der Tag ist erwacht, nun schläft die Nacht, es schläft die unterirdische Hemisphäre . . . bei den meisten Frauen wenigstens, leider . . . Ich war an der Tür. Eine Hand steckte Briefe durch den Schlitz.

Die Prinzessin hatte sich im Bett halbaufgerichtet und warf vor Aufregung alle Kissen durcheinander. «Meine Briefe! Das sind meine Briefe! Du Schabülkenkopp! Gib sie her! Na, da schall doch gliks . . .» Sie bekam ihren Brief. Er war von ihrer Stellvertreterin aus dem Geschäft, und es stand darin geschrieben, daß es nichts zu schreiben gäbe. Die Sache mit Tichauer wäre in Ordnung. Beim kleinen Inventarbuch wären sie bei G. Das zu hören beruhigte mich ungemein. Was für Sorgen hatten diese Leute! Was für Sorgen sie hatten? Ihre eignen, merkwürdigerweise.

«Geh mal Wasser braten!» sagte die Prinzessin. «Du mußt dich rasieren. So, wie du da bist, kannst du keinem Menschen einen Kuß geben. Was hast du für einen Brief bekommen?» – Ich grinste und hielt den Brief hinter meinem Rücken verborgen. Die Prinzessin stritt erbittert mit den Kissen. «Wahrscheinlich von irgendeiner Braut . . . einer dieser alten Exzellenzen, die du so liebst. Zeig her. Zeig her, sag ich!» Ich zeigte ihn nicht. «Ich zeige ihn nicht!» sagte ich. «Ich werde dir den Anfang vorlesen. Ich schwöre, daß es so dasteht, wie ich lese – ich schwöre es. Dann kannst du ihn sehn.» Ein Kissen fiel, erschöpft und zu Tode geschlagen, aus dem Bett. – «Von wem ist er?» – «Er ist von meiner Tante Emmy. Wir sind verzankt. Jetzt will sie etwas von mir. Darum schreibt sie. Sie schreibt:

Mein lieber Junge! Kurz vor meiner Einäscherung ergreife ich die Feder . . .»

«Das ist nicht wahr!» schrie die Prinzessin. «Das ist . . . gib her! Es ist ganz grrroßartig, wie Bengtsson sagen würde. Geh dich rasieren und halt die Leute hier nich mit deine eingeäscherten Tantens auf!»

Und dann gingen wir in die Landschaft.

Das Schloß Gripsholm strahlte in den Himmel; es lag beruhigend und dick da und bewachte sich selbst. Der See schaukelte ganz leise und spielte – plitsch, plitsch – am Ufer. Das Schiff nach Stockholm war schon fort; man ahnte nur noch eine Rauchfahne hinter den Bäumen. Wir gingen quer ins Land hinein.

«Die Frau im Schloß», sagte die Prinzessin, «spricht ein privates Deutsch. Eben hat sie mich gefragt, ob wir es nachts auch warm genug hätten – ich wäre wohl gewiß ein Frierküchlein . . .» – «Das ist schön», sagte ich. «Man weiß bei den nordischen Leuten nie, ob sie sich das wörtlich aus ihren Sprachen übersetzen oder ob sie unbewußt Neues schaffen. In Kopenhagen kannte ich mal eine, die sagte – und sie hatte eine Baßstimme vor Wut: Dieses Kopenhagen ist keine Hauptstadt – das ist ein Hauptloch! Ob sie das wohl erfunden hat?» – «Du kennst so viele Leute, Daddy!» sagte die Prinzessin. «Das muß schön sein . . .» – «Nein, ich kenne lange nicht mehr so viel Leute wie früher. Wozu auch?» – «Ick will di mal wat seggen, min Jung», sagte die Prinzessin, die es heute mit dem Plattdeutschen hatte. «Wenn du nen Minschen kennenliernst un du weißt nich so recht, wat mit em los ist, dann frag di ierst mal: giwt hei mie Leev oder giwt hei mi Geld? Wenn nix von beid Deil, denn lat em lopen und holl di nich bi em upp! Dessenungeachtet brauchst du aber nicht in diesen Fladen zu treten!» – «Donnerschlag!» – «Du sollst keines Fluches gebrauchen, Peter!» sagte die Prinzessin salbungsvoll. «Das schickt sich nicht. Und nun legen wir uns woll ein büschen auf düsen Rasenplatz!»

Da lagen wir . . .

Der Wald rauscht. Der Wind zieht oben durch die Wipfel, und ein ganz feiner Geruch steigt vom Boden auf, ein wenig säuerlich und frisch, moosig, und etwas Harz ist dabei.

«Was hätte Arnold jetzt gesagt?» fragte ich vorsichtig. Arnold war ihr erster; wenn die Prinzessin sehr guter Laune war, konnte man sie daran erinnern. Jetzt war sie guter Laune. «Er hätte nichts gesagt», antwortete sie. «Er hatte auch nichts zu sagen, aber das habe ich erst sehr spät gemerkt.» – «Also nicht klug?» – «In meinem Papierkorb ist mehr Ordnung als in dem seinen Kopf! Er sprach wenig. Im Anfang hielt ich dieses Schweigen für sehr bedeutend; er war eben ein karger Schmuser. Das gibt's!» Schritte auf dem weichen Moos; ein kleiner Junge kam den Waldweg entlanggestolpert, er murmelte etwas vor sich hin . . . als er uns sah, schwieg er; er blickte zu den Bäumen auf und begann dann zu laufen.

«Das wäre etwas für einen Staatsanwalt», sagte ich. «Der würde in seiner Schläue einen ganzen Tatbestand aufbauen. Wahrscheinlich hat dieser Knabe aber nur Zahlen gebetet und sich geschämt, als er uns gesehn hat . . .» – «Nein, es war so», sagte die Prinzessin. Sie lag auf dem Rücken und erzählte zu den Wolken:

«Ein Jung sall mal nan Kopmann gahn und Seip un Solt halen. Dor sä hei ümme vor sich hen: Seip un Solt . . . Seip un Solt . . . Hei sei över nich nah sin Feut, un so füll he övern Bohnenstrang. Dunnersweer! Tran un Teer! sä he – und bleew nu uck bi Tran un Teer un köffte Tran und Teer . . . Peter! Peter! Wie ist es mit dem Leben! Erzähl schnell, wie es mit dem Leben ist! Nein, jetzt sage nicht wieder deine unanständigen Wörter . . . die weiß ich allein. Wie ist es? Jetzt gleich will ich es wissen!» – Ich sog den bittern Geschmack aus einem trocknen Zweig mit Fichtennadeln.

«Erst habe ich gemerkt», sagte ich, «wie es ist. Und dann habe ich verstanden, warum es so ist – und dann habe ich begriffen, warum es nicht anders sein kann. Und doch möchte ich, daß es anders wird. Es ist eine Frage der Kraft. Wenn man sich selber treu bleibt . . .»

Mit ihrem tiefsten Alt: «Nach den Proben an Treue, die du bei mir abgelegt hast . . .»

«Ob es wohl möglich ist, mit einer Frau ernsthaft etwas zu bereden. Es ist nicht möglich. Und so was hat nun das Wahlrecht!»

«Das sagt der Chef auch immer. Was der jetzt wohl macht?»

«Er wird sich wahrscheinlich langweilen, aber sehr stolz sein, daß er in Abbazia ist. Dein Generalkonsul . . .»

«Daddy . . . dein Literatenstolz ist auch nicht das Richtige. Weißt du – manchmal denke ich so . . . der Mann ist doch immerhin etwas geworden. Sie haben ihm doch den Generalkonsul und die Seife und den Safe und das alles nicht in die Wiege gelegt – und die Wiege, lieber Daddy . . . der Mann betont mir viel zu oft, daß er zeit seines Lebens in guten Verhältnissen gelebt hätte – also hat er nicht. Er hat wahrscheinlich allerhand Saures geschluckt, bis sie ihn an das Süße herangelassen haben. Na, nun schmatzt er . . . Was? Natürlich hat er das vergessen, das mit dem Sauern. Ach, das tun sie ja alle. Erinnerung – Junge, Erinnerung . . . das ist ein alter Leierkasten. Die Leute haben doch heute ihr Grammophon! Wenn man nur mal rauskriegen könnte, wie so einer langsam was geworden ist – so einer wie der Chef –, wie das so vor sich geht . . . Verheiratet ist er nicht . . . und wenn er eine Frau hätte, die könnte es einem ja auch nicht sagen, weil sie nichts gemerkt hat. Sie fände es selbstverständlich, und vom Aufstieg wollen sie ja alle nichts hören, weil sie damit zugeben würden, daß ihre Ahnen noch ohne Visier herumgelaufen sind. Aufstieg . . . das sagen sie bloß, wenn sie einem keine Gehaltserhöhung geben wollen.» Also sprach die kluge Prinzessin Lydia und beendete ihre Rede mit einem herrlichen –

Hier hatte die Prinzessin den Schluckauf.

Dann wollte sie vom Boden hochgezogen werden; dann stand sie allein auf, mit einem schönen gymnastischen Schwung – und dann krochen wir langsam zurück durch den Wald. Wir standen uns nach Haus, an jeder Schneise blieben wir stehn und hielten große Reden; jeder tat so, als ob er dem andern zuhörte, und er hörte ja auch zu, und jeder tat so, als bewunderte er den Wald, und er bewunderte ihn ja auch – aber im allertiefsten Grunde, wenn man uns gefragt hätte: wir waren nicht mehr in der großen Stadt und noch nicht in Schweden. Aber wir waren beieinander.

Da lag das erste Haus von Mariefred. Ein Grammophon kratzte sich eins. «Es ist hier zur Erholung, das Grammophon», sagte die Prinzessin ehrfürchtig. «Hörst du – es ist noch ganz heiser. Aber die Luft hier wird ihm guttun.» – «Hast du Hunger, Lydia?» – «Ich hätte gern . . . Peter! Daddy! Allmächtiger Braten! Wie heißt der Genetiv von Smörgås . . . Ich möchte gern etwas Smörgåssens . . . achgottachgott!» Und dies bewegte uns sehr, bis wir bei Tisch saßen und die Prinzessin alle vier Fälle des schwedischen Vorgerichts herunterdeklinierte.

«Was machen wir nach Tisch?» – «Das ist eine Frage! Nach Tisch gehn wir schlafen. Karlchen sagt auch immer: in den Taghemden ist so viel Müdigkeit . . . man muß sich völlig ausziehn und schlafen. Dann schläft man. Und das ist eben Erholung.» – «Sage mal . . . sitzt dein Freund Karlchen noch immer beim Finanzamt im Rheinland?» Ich sagte, er säße. «Und woanz ist diesen Mann denn nu eigentlich?» – «Lieber Mann», sagte ich zur Prinzessin, «das ist vielleicht ein Mann! Aber das darf man ihm nicht sagen – sonst wachsen ihm vor Stolz Pfauenfedern aus den Ohren. Das ist ein . . . Karlchen ist eben Karlchen.» – «Keine Erklärung. So schwabbelt mein Konsul auch immer, wenn er was nicht sagen will. Ich für mein Teil gehe jetzt ins Bett, schlafas.» Ich hörte sie noch nach der Melodie von Tararabumdiä singen:

 

Da hat das kleine Pferd

sich plötzlich umgekehrt

und hat mit seinem Stert

die Fliegen ab-ge-wehrt –

 

Dann rauschten uns die Bäume in Schlaf.

 

 

 

3

 

 

Nachmittags standen wir vor dem Schloß – Touristen kamen und gingen.

Wir wandelten in den «innern Burggarten»; da war ein zierlicher Brunnen in der Mitte, kleine Erker klebten an den Mauern – man hatte an dem Schloß herumrestauriert . . . schade. Aber vielleicht wäre das Ganze sonst eingefallen; so alt war es schon.

Ein großer Tourenwagen fuhr vor.

Ihm entstieg ein jüngerer Mann, dann folgten zwei Damen, eine ältere und eine jüngere, und dann wurde ein dicker Herr aus dem Fond gekratzt. Sie sprachen deutsch und standen etwas ratlos um den Wagen herum, wie wenn sie vom Mond gefallen wären. Dann sprach der Dicke hastig und laut mit dem Chauffeur. Der verstand ihn zum Glück nicht.

Sie lösten Karten für das Schloß. Der Führer war schon nach Hause gegangen, und man ließ sie allein pilgern. «Lydia . . .», sagte ich. Wir gingen nach.

«Was willst du machen?» fragte Lydia, und dabei senkte sie die Stimme, so gut hatte sie mich verstanden. «Ich weiß noch nicht», sagte ich. «Es wird mir schon etwas einfallen . . . Komm mit.» Die Touristen standen im großen Reichssaal, sie sahen zur getäfelten Decke auf, und eine der Damen sagte so laut, daß es hallte: «Ganz nett!» – «Offenbar schwedischer Stil!» sagte der Dicke. Sie murmelten. «Wenn sie jetzt noch fragen, ob das alles hier gebaut ist . . . Rasch!» – «Wohin?» – «Komm dahin, wo der große Brunnen ist. Irgend etwas müssen wir da aufführen . . .»

Man hörte sie schlurren und husten – dann waren wir außer Hörweite. Wir gingen leise und schnell.

Da war ein großer, runder Raum, mit einer Holzgalerie, und in der Mitte des festgestampften Bodens lag eine kreisrunde Holzscheibe: der Eingang zum Verlies. Und da fanden wir eine Leiter. Lydia half, wir setzten die Leiter an – hurra! Sie stand. Also sehr tief konnte es nicht sein. Ich kletterte hinunter, gefolgt von den spöttischbewundernden Blicken der Prinzessin. «Grüß die Fledermäuse!» – «Hol din Mul!» sagte ich. Ich kletterte – ein ganzes Endchen . . . ein amerikanischer Filmkomiker mimt den Feuerwehrmann, so sah das aus, und mir war gar nicht komisch zu Mute, wohin ging das hier? Aber für einen Spaß ist uns nichts zu teuer. Dunkelheit und Staub. Nur der runde Schein von oben . . . «Bitte Streichhölzer! Aus deiner Tasche!» Die Schachtel kam herunter und fiel mir auf die Füße. Ich suchte und stieß mir den Kopf an der Leiter – dann hatte ich sie. Ein Flämmchen . . . das war also doch ein großer Raum, an der einen Wandseite waren Ringe in die Mauer gelassen; offenbar hatten sie hier ihre Gefangenen nicht in drei Stufen gebessert, sondern gleich in einer einzigen . . . Und da war auch ein zweites Brunnenloch.

«Lydia?» – «Ja?» – «Zieh die Leiter auf – kannst du das? Ich werde dir helfen. Ich hebe an – horupp! So . . . hast du?» Die Leiter war oben. «Stell sie weg!» Ich hörte, wie die Prinzessin mit der Leiter wirtschaftete. «Setz die runde Scheibe wieder auf, kannst du? Und versteck dich.» Nun war es ganz dunkel. Schwarz.

Das ist merkwürdig, wenn man so etwas nicht gewohnt ist. Im Augenblick, wo man in völliger Dunkelheit steckt, belebt sich das Dunkel. Nein, man erwartet, daß es sich belebt; man fürchtet das und sehnt sich nach dem Belebenden. Ich räusperte mich leise, zum Zeichen, daß ich auch noch da wäre, jedoch keine feindlichen Absichten hegte . . . Ich tastete mich umher. Da war ein Nagel an der Wand, von dem wollen wir nicht fortgehn . . . He? Da waren sie. Man hörte deutlich die Stimmen; die Holzscheibe war nur dünn.

«Hier ist nichts», sagte eine Stimme. «Wahrscheinlich ein Brunnen – für die Belagerung oder so. Sehr interessant. Na, gehn wir weiter. Hier ist nichts.»

Hier wird gleich was sein.

«Huuuuuuu –», machte ich.

Oben wurde es totenstill. Die schleppenden Fußschritte waren verstummt. «Was war das?» sagte jemand. «Hast du das gehört?» – «Ja, mir war auch so – wahrscheinlich nur so ein Klang –»

«Huuuuuuu-aa-huuuuuuu –!» machte ich von neuem.

«Adolf, um Gottes willen – vielleicht ist hier ein Tier eingesperrt, ein Hund – komm weg!» – «Na, erlaube mal, das gibt's doch nicht! Ist – ehö – ist da jemand?» – Ich blieb so still. «Eine Täuschung», sagte eine Männerstimme. «Komm – da war ja nichts», sagte der andre der Männer. Und da dachte ich an die Löwen in den Zoologischen Gärten vor der Fütterung, holte tief Atem und begann zu röhren:

«Huuuuuu-brru-aa-huuuuuuuah!» –

Das war zuviel. «Hi!» kreischte oben eine Frau, und dann gab es ein eiliges Gestiefel, einer sagte noch schnell: «Aber das ist doch – das muß doch geklärt werden . . . werden gleich unten mal fragen . . . Unerhört – das ist doch . . .» – «Komm hier weg! Was müssen wir auch in alle Schlösser . . .» Fort waren sie. Da stand ich in meiner Dunkelheit. Mucksmäuschenstill.

Ganz leise: «Lydia?» . . . Nichts. Ein wenig Kalk rieselte von der Mauer. Hm . . . Ein Ton? Hier ist doch alles aus Holz und Stein; das klingt doch nicht. Ich lauschte. Mein Herz klopfte um eine Spur schneller, als ich ihm das erlaubt hatte. Nichts; Man soll keine Leute erschrecken, siehst du, man soll keine Leute erschrecken . . . «Lydia!» Lauter: «Holla! He! Alte!» Nichts.

Durch mein Gehirn flimmerte: Spaß muß sein. Ist den Burschen ganz recht. Still stehn, sonst machst du dich schmutzig. Hast Angst. Hast keine Angst. Ist ja Unsinn. Lydia kommt gleich. Wenn sie nun in Ohnmacht gefallen ist oder plötzlich stirbt, dann weiß niemand, daß du hier stehst. Roman, Filmidee. Pathé hat mal so was gemacht. Eine Gemeinheit, Leute in Dunkelarrest zu stecken. Ich habe im Kriege mal einen rauskommen sehen, der taumelte, als er das Licht sah. Dann begann er zu weinen. Er hatte nicht ordentlich Krieg geführt, deshalb hatten sie ihn eingesperrt, das soll man nicht. Die Richter ausprobieren lassen, was sie da verhängen. Geht aber nicht, weil sie ja wissen: es ist nur eine Probe. Also Wahnwitz der Todesstrafe, deren Wirkung niemand kennt. Nun ging das Herz ganz ruhig, ich hatte nachzudenken und ließ die Gedanken laufen . . . Die Holzscheibe ruckte an, wurde fortgezogen. Licht. Lydia. Die Leiter.

Ich stieg hinauf. Die Prinzessin lachte über das ganze Gesicht. «Wie ist denn das alles so plötzlich gekommen? Komm mal her – Na, nun aber gleich nach Haus! Allmächtiger, wie siehst du aus!» Ich war grau vor Dreck, behangen mit Spinnweben, die Hände von schwarzen Streifen geziert und der Rest entsprechend. «Wat hebben se seggt? Was hast du getan? Menschenskind, nu sieh dir man blodsen ierst mal in den Speegel!» Ich sah lieber nicht in den Spiegel. «Wo warst du so lange, Alte? Läßt einen da unten schmachten! Das ist Liebe!» – «Ich . . .», sagte die Prinzessin und steckte den Spiegel wieder ein, «ich habe hier ein Töpfchen gesucht, sie haben aber keins. Die alten Burggrafen haben offenbar an chronischer Verstopfung gelitten!» – «Falsch», lehrte ich, «falsch und ungebildet. Sie setzten sich zu diesem Behufe auf kleine Örtlichkeiten, die es hier natürlich auch gegeben hat, und diese Örtlichkeiten gingen in den Schloßgraben, wenn aber sie belagert wurden, und es kam der böse Feind, dann . . .» – «Nunmehr ist es wohl an der Zeit, daß wir dich waschen. Du Ferkel!» – Und wir spazierten in unsre Wohnung, vorüber an der maßlos erstaunten Wirtin, die sicherlich dachte, ich wäre in den Branntwein gefallen. Bürstung, Waschung, frischer Kragen, prüfende Blicke der Prinzessin, dreimal zurück, weil immer noch etwas klebengeblieben war. «Wen ärgern wir nun?» – «Schetzt kommst du mich aber raus. Nichs as Dummheiten hat diesen Kierl innen seinen Kopf. Un das will 'n iernsten Mann sein!» – «Will nicht . . . Muß. Muß.» Wir traten ins Freie.

Weiter hinten stand ein kleiner Pavillon; darin saß die Autogesellschaft und trank Kaffee. Wir schlenderten vorüber und sprachen lustig miteinander. Der jüngere Mann stand auf und kam auf uns zu. «Die Herrschaften sind Deutsche . . .?» – «Ja», sagten wir. – «So . . . vielleicht . . . wenn Sie an unserm Tisch Platz nehmen wollten . . .?» Der Dicke erhob sich. «Teichmann», sagte er. «Direktor Teichmann. Meine Frau. Meine Nichte, Fräulein Papst. Herr Klarierer.» Nun mußte ich auch etwas sagen, denn dies ist die Sitte unsres Landes. «Sengespeck», sagte ich. «Und meine Frau.» Worauf wir uns setzten und die Prinzessin mir unterm Tisch an die Schienbeine trat. Kaffeegeschlürf. Tellergeklapper. Kuchen.

«Sehr hübsch hier – Sie sind wohl auch zur Besichtigung hier?» – «Ja.» – «Reizend. Sehr interessant.» Pause.

«Sagen Sie . . . ist das Schloß eigentlich bewohnt?» Die Prinzessin trat heftig. «Nein», sagte ich. «Ich glaube nicht. Nein. Sicher nicht.» – «So . . . wir dachten . . .» – «Warum fragen Sie?» Die Gesellschaft wechselte untereinander bedeutungsvolle Blicke. «Wir dachten nur . . . wir hatten da oben in dem einen Raum jemand sprechen hören – aber so eigentümlich, mehr wie ein Hund oder ein wildes Tier . . .» – «Nein», sagte ich, «nach allem, was ich weiß: Tiere wohnen in dem Schloß gar nicht. Fast gar nicht.» Pause.

«Überhaupt . . .», sagte Herr Direktor Teichmann und sah sich um, «hier ist nichts los! Finden Sie nicht auch?» – Wir bestätigten, daß hier nichts los wäre. «Wissen Sie», sagte der Direktor, «wenn man sich wirklich amüsieren will: da gibt's ja nur Berlin. Oder Paris. Aber sonst nur Berlin. Is doch 'n andrer Zuch. Was?» – «Hm –», machten wir. «Ich finde es hier auch gar nicht elegant!» sagte Frau Direktor Teichmann. Und Fräulein Papst: «Ich habe mir das ganz anders vorgestellt.» Und Herr Klarierer: «Wo gehn wir denn heute abend in Stockholm hin?» Frau Direktor Teichmann aber wollte nirgends mehr hingehn; sie hätte sich vorhin so aufgeregt, im Schloß . . . Inzwischen hatte mir die Prinzessin einen Ring abgedreht, einen Manschettenknopf aufgemacht, alles unter dem Tisch und ich fand, es sei nun genug. Denn wer weiß, was sie sonst noch . . . Und wir verabschiedeten uns, weil wir im Ort eine Verabredung hätten. «Fahren Sie nachher auch nach Stockholm?» – Nein, wir bedauerten.

Wir bedauerten noch, als wir draußen auf den Wiesen standen und uns freuten: daß wir nicht nach Stockholm fahren mußten, daß wir in Schweden waren, daß wir Urlaub hatten . . . «Was kommt da?» sagte die Prinzessin, die Augen hatte wie ein Luchs. Durch die Wiesen bewegte sich eine dünne Reihe kleiner Gestalten, auf einem schmalen Wege. «Was ist das –?»

Es kam näher.

Kinder waren es, kleine Mädchen, artig aufgereiht, wie Perlchen an der Schnur, immer zwei zu zwei. Eine herrisch aussehende Person ging an ihrer Spitze, sah sich öfter um – keines sprach. Nun waren sie nahe bei uns, wir traten beiseite und ließen den Zug vorüber. Die Führerperson warf uns einen glitzernden Blick zu. Die Kinder trappelten dahin. Wir sprachen nicht, als sie vorbeizogen. Ganz zum Schluß ging ein Kind allein; es ging, wie wenn es von jemandem gezogen würde, es hatte verweinte Augen, schluckte manchmal im Gehen vor sich hin, aber es weinte nicht. Sein Gesicht war auch nicht verschwollen, wie es verheulte Kinder haben . . . es sah vielmehr leergeweint aus, und in den bräunlichen Haaren lag ein goldner Schimmer. Es sah uns an, so müde und gleichgültig, wie es einen Baum angesehn hätte. In einem Anfall von Übermut und Kinderliebe steckte ihm die Prinzessin zwei kleine Glockenblumen, die wir gepflückt hatten, in die Hand. Das Kind zuckte zusammen, dann sah es auf, seine Lippen bewegten sich; es wollte vielleicht etwas sagen, danken . . . da drehte sich vorn die Person um, die Kleine beschleunigte ihre Schritte und hoppelte ängstlich der Schar nach. Staub und das Geräusch der marschierenden Kinderfüße. Dann war das Ganze vorüber.

«Merkwürdiges kleines Mädchen», sagte die Prinzessin. «Was sind denn das für Kinder? Wir wollen nachher einmal fragen . . . Peter, mein Sohn, gibt es hier eigentlich Nordlicht? Ich möchte so gern mal ein Nordlicht sehn!»

«Nein», sagte ich. «Doch, ja. Aber alles, was man sehn will, meine Tochter, findet immer grade in dem Monat statt, wo man nicht da ist . . . Das ist so im Leben. Aber das bekommst du erst in der nächsten Klasse. Nordlicht – ja . . .»

«Ich denke es mir wundervoll. Ich habe mal als Kind im Konversationslexikon eins gesehn – das war überhaupt eine Welt für sich, das Lexikon, mit den kleinen Seidenpapierblättchen . . . Und da waren sie abgebildet, die Nordlichter, ganz bunt und groß, sie sollen ja über den halben Himmel gehn. Ich glaube, ich hätte eine ungeheure Angst, wenn ich das mal sähe. Denk mal, große, bunte Lichter am Himmel! Wenn das nun herunterkommt! Und einem auf den Kopf fällt! Aber sehn möchte ich es schon mal . . .»

Blaßblau wölbte sich der Himmel über uns; an einer Stelle des Horizonts ging er in tiefes Dunkelblau über, und da, wo die Sonne vorhin untergegangen war, leuchtete es gelbrosig, es schimmerte und blinkte nur noch ein wenig. «Lydia», sagte ich, «wollen wir uns ein Nordlicht machen?» – «Na . . .» – «Sieh mal», sagte ich und deutete mit dem Finger nach oben, «siehst du, siehst du – da – da ist es –!»

Wir sahen beide fest nach oben – wir hielten uns an den Händen, Pulsschlag und Blutstrom gingen von einem zum andern. In diesem Augenblick hatte ich sie so lieb wie noch nie.

Und da sahen wir unser Nordlicht.

«Ja –», sagte die Prinzessin, leise, damit sie es nicht verscheuchte. «Das ist ja wunderbar. Ganz hellgrün – und da – rosa! Und Kugelstreifen – und das da, ganz spitzhoch . . . Sieh mal, sieh mal!» Jetzt wagte sie es, schon lauter zu sprechen, denn nun leuchtete uns das Nordlicht wie wirklich. «Das sieht aus wie eine kleine Sonne», sagte ich. «Und da, wie geronnene Milch, und da, weiße Zirruswölkchen . . . blau . . . ganz hellblau!» – «Guck, und am Horizont geht es gewiß noch weiter – da ist alles ganz silbergrau. Daddy, ist das schön!»

Wir standen still und sahen nach oben. Ein Wagen klapperte vorüber und schreckte uns auf. Der Bauer, der auf dem Bock saß und freundlich grüßte, sah nun auch nach oben, was es da wohl gäbe. Wir sahen erst ihn an, dann die Wiesen, die ein wenig kalt und grau dalagen. Wir lächelten, wie beschämt. Dann blickten wir wieder zum Himmel auf. Da war nichts. Er lag glatt, blau und halbhell. Da war nichts.

«Peter . . .», sagte die Prinzessin. «Peter . . .»

 

 

 

4

 

 

«Sagen Sie bitte, Frau Andersson», sagte ich zu der Schloßdame, die uns einen schönen guten Abend bot, und ich sprach ihren Namen «Anderschon» richtig aus, «was mögen das für Kinder sein, denen wir vorhin begegnet sind? Da . . . da hinten . . . in den Wiesen?» – «Ja, da sind viele Kinder. Das ist wohl Bauernjungen, die spielen da viele Gängen . . .» – «Nein, nein. Es waren kleine Mädchen, sie gingen geordnet, wie ein Institut, eine Schule, so etwas . . .» – «Eine Schule?» Frau Andersson dachte nach. «Ah – das werden die von der Frau Adriani gewesen sein. Von Läggesta.» Und sie deutete über den See, wo man weit, weit in einer Lichtung recht undeutlich ein großes Gebäude liegen sah. «Das ist ein Pensionat, das ist eine Kinderkolonie. Ja.» Dazu machte sie ein Gesicht, wie ich es noch nie bei ihr gesehen hatte. Ich wurde neugierig. Man soll nie jemand nach dem fragen, was man wissen will, das ist eine alte Weisheit. Dann sagt er's nicht. «Da sind gewiß viele Kinder . . . wie?» – «Ja, eine heile Masse», sagte Frau Andersson; man mußte oft raten, was sie wohl meinte, denn sie übersetzte sich wahrscheinlich alles wörtlich aus dem Schwedischen. «In diesen Pensionat sind viele Kinder, aber nicht viele schwedische Kinder. Es gescheht Gottlob!» – «Warum Gottlob, Frau Andersson?» – «Jaha», sagte sie und schlug mit der Seele einen Haken, wie ein verfolgter Hase, «da sind nicht viele schwedischen Kinder ne-do!» – «Schade», sagte ich und kam mir mächtig diplomatisch vor. «Da ist es gewiß hübsch . . .» Frau Andersson schwieg einen Augenblick. Dann nahm sie beherzt einen kleinen Anlauf. Sie senkte die Stimme.

«Das ist . . . das ist nicht eine liebe Frau, der da ist. Aber ich will nichts Böses sagen . . . verstehn Sie. Es ist eine deutsche Dame. Aber sie ist keine gute Dame. Das Volk von Deutschland sind so wohnliche Menschen – nicht wahr . . . Waren Sie so gut, fassen Sie mir das nicht übel!» – «Sie meinen die Vorsteherin von dem Pensionat?» – «Ja», sagte Frau Andersson. «Die Versteherin. Die Versteherin, das ist eine schlimme Person. Das ist . . . jeder fühlt sie hier. Wir haben nicht an ihr Geschmack. Sie ist nicht gut gegen den Kindern.» – «So», sagte ich und sah auf die Bäume, die leise mit den Blättern zitterten, wie wenn sie fröstelten, «so – keine gute Dame? Na . . . was macht sie denn? Schreit sie mit ihnen?» – «Ich will Sie etwas sagen», sagte Frau Andersson, und nun wandte sie sich zur Prinzessin, als ob diese Sache nur unter Frauen abzuhandeln wäre; «sie ist hart zu den Kindern. Die Versteherin . . . sie slagt die Kinder.» Der Prinzessin gab es einen Ruck. «Sagt denn da niemand was?» – «Jaha . . .», sagte Frau Andersson. «So schlagt sie sie nicht. Die Polizei kann darein nichts sprechen. Sie schlagt ihnen nicht, so zu krank zu werden. Aber sie ist unrecht dazu, die Kinder ist sehr bange für ihr.» Sie deutete auf ein schloßartiges Gebäude, das hinter Mariefred auf einem Hügel lag. «Ich möchte lieber da sein als bei der Kinderfrau.» – «Was ist denn das da hinten?» fragte ich. «Das ist eine Irrtumsanstalt», sagte Frau Andersson. «So – und die Irren haben es besser als diese Kinder da?» – «Ja», sagte Frau Andersson. «Aber da will ich sehn, ob das Abendmahl fertig ist . . . einen Augenblick!» Und sie ging, eilfertig, wie wenn sie zuviel gesagt hätte.

Wir sahen uns an. «Komisch, wie?» – «Ja . . . das gibt's», sagte ich. «Wahrscheinlich irgend so ein Deubel von Weib, das da mit der Zuchtrute regiert . . .» – «Peter – spiel noch ein bißchen Klavier, bis das Essen fertig ist!»

Und wir gingen ins Musikzimmer der Schloßfrau, das hatte sie uns erlaubt, und ich setzte mich an das kleine Klavier und ließ fromme Gesänge ertönen. Ich spielte hauptsächlich auf den schwarzen Tasten; man kann sich besser daran festhalten. Ich spielte:

 

Manchmal denke ich an dich,

das bekommt mich aber nich . . .

denn am nächsten Tag bin ich so müde –

und:

Wenn die Igel in der Abendstunde

still nach ihren Mäusen gehn,

hing auch ich an deinem Munde –

 

und dann sangen wir alte Volkslieder und dann amerikanische Lieder, und dann sangen wir ein Reiterlied, das wir selber gedichtet hatten, und das ganz und gar blödsinnig war, von der ersten bis zur letzten Zeile, und dann war das Abendessen fertig.

Wir hatten eine Flasche Whisky aufgetrieben. Das war nicht einfach gewesen, denn wir hatten kein «Motbok», nicht dieses kleine Buch, das die Schweden zum Bezug von Schnaps berechtigt. Aber die Flasche hatten wir. Und gar so teuer war sie auch nicht gewesen. Braun und Blond – black and white . . . ihr sollt leben . . .!

Wir saßen vor dem Haus an einem Holztischchen und sahen zum Schloß hinüber. Ab und zu tranken wir einen Schluck.

Zehn schlug es von dem alten Kirchturm – zehn Uhr. Die Luft stand still; die Bäume rührten kein Blatt – alles ruhte. Helle Nächte. Es war eine starre Ruhe, wie wenn sich etwas staute und die Natur den Atem anhielte. Hell? Es war nicht hell. Es war nur nicht dunkel. Die Äste drohten so schwärzlich, sie warteten. Wie wenn man allem die Haut abgerissen hätte: schamlos, ohne Dunkel, stand es herum, der Schwärze beraubt. Man hätte das schwarze Kleid der Nacht herbeizaubern und alles zudecken mögen, damit nichts mehr sichtbar wäre. Das Schloß hatte sein brennendes Rot eingebüßt und sah fahlbraun aus, dann düster. Der Himmel war grau. Es war Nacht, ohne Nacht zu sein.

«So still, wie es jetzt ist, so sollte es überall und immer sein, Lydia – warum ist es so laut im menschlichen Leben?» – «Meinen lieben Dschung, das findest du heute nicht mehr – ich weiß schon, was du meinst. Nein, das ische woll ein für alle Mal verlöscht . . .» – «Warum gibt es das nicht», beharrte ich. «Immer ist etwas. Immer klopfen sie, oder sie machen Musik, immer bellt ein Hund, marschiert dir jemand über deiner Wohnung auf dem Kopf herum, klappen Fenster, schrillt ein Telephon – Gott schenke uns Ohrenlider. Wir sind unzweckmäßig eingerichtet.» – «Schwatz nicht», sagte die Prinzessin. «Hör lieber auf die Stille!»

Es war so still, daß man die Kohlensäure in den Gläsern singen hörte. Bräunlich standen sie da, ganz leise setzte sich der Alkohol ins Blut. Whisky macht sorgenfrei. Ich kann mir schon denken, daß sich damit einer zugrunde richtet.

Weit in der Ferne läutete eine Glocke, wie aus dem Schlaf geschreckt, dann war alles wieder still. Weißgrau lag unser Haus; alle Lichter waren dort erloschen. Die Stille wölbte sich über uns wie eine unendliche Kugel.

In diesem Augenblick war jeder ganz allein, sie saß auf ihrem Frauenstern, und ich auf einem Männerplaneten. Nicht feindselig . . . aber weit, weit voneinander fort.

Mir stiegen aus dem braunen Whisky drei, vier rote Gedanken durchs Blut . . . unanständige, rohe, gemeine. Das kam, huschte vorbei, dann war es wieder fort. Mit dem Verstand zeichnete ich nach, was das Gefühl vorgemalt hatte. Du altes Schwein, sagte ich zu mir. Da hast du nun diese wundervolle Frau . . . du bist ein altes Schwein. Kein Haus ohne Keller, sagte das Schwein. Mach dir doch nichts vor! Du sollst das nicht, sagte ich zu dem Schwein. Du hast mir schon so viel Kummer und Elend gemacht, so viel böse Stunden . . . von der Angst, daß ich mir etwas geholt hätte, ganz zu schweigen. Laß doch diese unterirdischen Abenteuer! So schön ist das gar nicht – das bildest du dir nur ein! Höhö, grunzte das Schwein, das ist also nicht schön. Stell dir mal vor . . . Still! sagte ich, still! Ich will nicht. Oui, oui, sagte das Schwein und wühlte schadenfroh; stell dir vor, du hättest jetzt . . . Ich schlug es tot. Für dieses Mal schlug ich es tot – sagen wir: ich schloß den Koben ab. Ich hörte es noch zornig rummeln . . . dann sangen wieder die Gläser, ganz, ganz leise, wie wenn eine Mücke summte. «Daddy», sagte die Prinzessin, «kann man hier eigentlich das blaue Kostüm tragen, das ich mitgenommen habe?»

Ich war wieder bei ihr; wir saßen wieder auf demselben Trabanten und rollten gemeinsam durch das Weltall. «Ja . . .», sagte ich. «Das kannst du.» – «Paßt es?» – «Natürlich. Es ist doch diskret und leise in der Farbe, das paßt schön.» – «Du sollst nicht soviel rauchen», sagte ihre tiefe Stimme; «dann wird dir wieder übel, und wer hat's nachher? Ich. Tu mal die Pfeife weg.» Ich, Sohn, tat die Pfeife weg, weil die Mutter es so wollte. Leise legte ich meine Hand auf die ihre.

 

 

 

5

 

 

Maurer hatten das große Haus in Läggesta gebaut – wer denn sonst. Handwerker; ruhige bedächtige Männer, die sich erst dreimal umsahen, bevor sie eine Bewegung machten, das ist auf der ganzen Welt so. Als alles fertig war, hatten sie die Wände mit Kalk beworfen, manche Zimmer hatten sie gestrichen, viele tapeziert, ganz unterschiedlich und alles nach Angabe. Dann waren sie gleichmütig weggegangen, das Haus war fertig, nun konnte darin geschehen, was wollte. Das war nicht mehr ihre Sache, sie waren nur Handwerker. Die Gerichtsstube, in der einer gefoltert wird, war, als sie geboren wurde, ein ziegelgemauertes Viereck, glatt und geweißt, oben hatte der Maler fröhlich pfeifend auf seiner Leiter gestanden und hatte den bestellten grauen Streifen rings an die Wände gemalt; es war ein Handwerksstück, das er da vollführte . . . und nun war es auf einmal eine Gerichtsstube. So unbeteiligt bauen Menschen den Schauplatz zukünftiger Szenen; sie errichten die Kulissen und das Gerüst, sie stellen das ganze Theater auf, und dann kommen andre und spielen dort ihre traurigen Komödien.

Das Kind lag im Bett und dachte.

Denken . . . Vor langen Zeiten, als es noch einen Vater gehabt hatte, da hatte es mit ihm immer «Denken» gespielt. Und der Vater hatte dabei so gelacht, er konnte so wundervoll lachen . . . «Was tust du?» hatte das Kind gefragt. «Ich denke», hatte der Vater gesagt. «Ich will auch denken.» – «Gut . . . denke auch!» Und er war ernsthaft in der Stube auf und ab gegangen, das Kind immer hinterher, es ahmte genau die Haltung des Vaters nach, würdeschwer hielt es die Hände auf dem Rücken, runzelte die Stirn wie er . . . «Was denkst du?» hatte der Vater gefragt. «Ich denke: Löwe –», hatte das Kind geantwortet. Und der Vater hatte gelacht . . .

Nebenan schnaufte Inga und warf sich hin und her. Das Kind war plötzlich wieder da, wo es wirklich war: in Schweden. In Läggesta. Mutti war in der Schweiz, so weit fort . . . das Kind fühlte es heiß in sich hochsteigen. Es hatte so viel flehentliche Briefe geschrieben, drei, eigentlich nur drei – dann war der Teufelsbraten dahintergekommen, daß eines der Dienstmädchen die Briefe heimlich zur Post getragen hatte. Das Mädchen wurde entlassen, das Kind an den Haaren gezogen, und die Briefe, die nun nach der Schweiz gingen, waren musterhaft. Ja, vielleicht mußte das alles so sein. Vielleicht hatte die Mutter kein Geld, um das Kind bei sich zu behalten, und hier oben war es eben billiger. So hatte es ihm die Mutter erklärt.

Es war hier so allein. Es war unter den neununddreißig kleinen Mädchen ganz allein – und es hatte Angst. Sein Leben bestand eigentlich nur aus Angst. Angst vor dem Teufelsbraten und Angst vor den ältern Mädchen, die es anschwärzten, wo sie nur konnten, Angst vor dem nächsten Tag und Angst vor dem Vortag, was von dem nun wieder ans Licht kommen könnte, Angst vor allem, vor allem. Das Kind schlief nicht – es bohrte mit seinen Augen Löcher in das Dunkel.

Daß die Mutter es hierhergegeben hatte! Hier waren sie einmal gewesen, vor Jahren, vor drei, vier Jahren – und damals war der Bruder Will gestorben. Er lag da begraben auf dem Kirchhof in Mariefred, und das Kind durfte manchmal das Grab besuchen, wenn der Teufelsbraten das erlaubte oder befahl. Meist befahl er es. Dann stand es an dem kleinen Kindergrab, rechts, die vierzehnte Reihe, das mit dem grauen Steinchen, an dem die Buchstaben noch so neu schimmerten. Aber dort hatte es nie geweint. Es weinte nur manchmal zu Hause um Will – um den dicken, kleinen Will, der jünger gewesen war als das Kind, jünger, toller im Spiel und ein guter Junge. Hier und da bekam er einen Klaps, aber die Mutter tat ihm nicht weh, und er lachte unter seinen Kindertränen und war dann wieder ein guter, kleiner Spieljunge. Wie aus Wolle. Und dann wurde er krank. Eine Grippe, sagten die Leute, und nach vier Tagen war er tot. Das Kind roch noch den Arztgeruch, das war nicht hier gewesen, das war in Taxinge-Näsby, nie würde es den Namen vergessen. Den säuerlichen Arztgeruch, das «Psst!» – alles ging leise, auf Zehenspitzen, und dann war er gestorben. Wie das war, hatte das Kind vergessen. Will war nicht mehr da.

Der Bruder nicht. Mutti nicht. Vater weggegangen, wohin . . . Niemand war da. Das Kind war allein. Es dachte das Wort nicht – viel schlimmer: es fühlte die Einsamkeit, wie nur Kinder sie fühlen können.

Die kleinen Mädchen raschelten in den Kissen. Eins flüsterte im Schlaf. Das war jetzt der zweite Sommer hier oben. Es würde nie anders werden. Nie. Mutti soll kommen, dachte das Kind. Aber sie müßte es hier fortnehmen, denn gegen Frau Adriani kam auch Mutti nicht auf. Niemand kam gegen sie auf. Schritte? Wenn sie jetzt käme? Einmal war Gertie krank gewesen; da war Frau Adriani fünfmal in der Nacht heraufgekommen – fünfmal hatte sie nach dem kranken Kind gesehen, sie hatte fast eifersüchtig mit der Krankheit gekämpft. Und zum Schluß hatte sie das Fieber besiegt. Wenn sie jetzt käme? Nichts – eins der acht Betten hatte geknarrt. Das war Lisa Wedigen, die schlief immer so unruhig. Wenn doch einer – wenn doch einer – wenn doch einer . . . Morgen war Baden im See. Da spritzen einen die Mädchen immer so mit Wasser. Wenn doch einer –

Die Hände des Kindes tasteten vorsichtig unter das Kopfkissen, suchten im Laken, verschoben alles. Fort? Nein. Sie waren noch da.

Unter dem Kopfkissen lagen, verwelkt und zerdrückt, zwei kleine Glockenblumen.