BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kurt Tucholsky

1890 - 1935

 

Das Lächeln der Mona Lisa

 

Seite 274-280 der Erstausgabe

 

____________________________________________________

 

 

 

Der Löw' ist los –!

 

 

Am sechsten Juli dieses Jahres beschloß der Löwe Franz Wüstenkönig aus dem großen Raubtierhaus des berliner Zoologischen Gartens, fürder nicht mehr mitzumachen. Er brach aus.

Das machte er so, daß er, gelegentlich der Reinigung seines Käfigs durch den Oberwärter Pfleiderer in den Nebenkäfig gescheucht, das Schließen der Verbindungstür durch Dazwischenklemmen seines Schweifendes geschickt verhinderte, die Reinigung abwartete, sich dann mit Gebrüll Nr. 3 auf den ahnungslosen Pfleiderer stürzte, diesen über den Haufen rannte und durch die offenstehende Käfigtür das Weite suchte und fand.

Der Löw' ist los –! Dieser Schreckensruf verbreitete sich, einem Lauffeuer gleich, in den Wandelgängen unseres geliebten Zoologischen Gartens. Die Aufregung der Besucher war unbeschreiblich. Viele ließen in der Eile ihr Bier stehen, ohne zu zahlen – und noch lange nach diesen Ereignissen sah man an den Restaurants des Zoo die Kette der ehrlichen Berliner anstehen, die ihre schuldige Zeche begleichen wollten. Kinderwagen fielen um und ergossen ihren schreienden Inhalt auf die Wege, ältere Damen, die sonst nur mühsam einherschlurchten, liefen plötzlich, daß es eine Freude war – die Lästerallee war wie leergefegt, und nur ängstliche Kellner saßen hoch oben in den Zweigen der Bäume, und ihre schwarzen Fräcke hingen hernieder wie die Schwänze fremdartiger Zaubervögel. Der Löw' ist los –!

Hastig stürzten die aufgeschreckten Menschen auf die Straßen und ohrenbetäubend verkündete auch dort ihr Geschrei: «Der Löw' ist los! Und seinen Apostroph hat er auch mitgenommen –!»

Die Wirkung war furchtbar. Wüstenkönig war noch damit beschäftigt, gedankenvoll und langsam in der leeren Waldschänke die dort aufgehängten kleinen Würstchen zu verzehren – da standen draußen schon ganze Straßenzüge auf dem Kopf. Die gewöhnlichen Leute stürzten, haste was kannste, über Rinnsteine, Hunde, Babys, Aktentaschen, und dicke Damen, die nicht weiter konnten. Die minder gut gestellten Schichten der Bevölkerung machten sich die Situation rasch zunutze – sie kauften die an die Bordschwellen gespülten Strandgüter der Fliehenden à la baisse und eröffneten damit an den Ecken einen schwunghaften Handel. Die oberen Schichten hingegen bewahrten auch hier ihre überlegene Ruhe, sobald sie erst einmal im Auto saßen – umsichtig und ernst sorgten sie dafür, daß sich keiner an die Wagen hängte. Die Droschkenkutscher schlugen augenblicks um das Achtzehnfache auf – zum ersten Mal in Berlin, ohne den Polizeipräsidenten um Erlaubnis zu fragen. Es war ein Höllenlärm. In der Mitte stand, starr und stolz, ein Polizeiwachtmeister, turnte ägyptisch und regelte den Verkehr, und der Verkehr blieb stehen und sah zu, wie er geregelt wurde, und war sehr stolz. Es ging zu wie in einer getauften Judenschule.

Der Löwe Wüstenkönig war inzwischen mit den Würstchen fertig geworden. Er brüllte nach dem Kellner – keiner kam. Unwillig mit dem Schweif den kleinen Alltagsreif schlagend, begab sich Wüstenkönig ins Freie. Das majestätische Tier schritt würdevoll dem Ausgang nach dem Kurfürstendamm zu.

Berlin war aufgestört wie ein Ameisenhaufen, Alle Telefone klingelten mit einem Male schrill auf – aber es meldeten sich nur die falschen Verbindungen. Die einzigen, die den Kopf nicht verloren, waren die Damen vom Amt, sie verrichteten kaltblütig ihren Dienst in gewohnter Weise weiter, und so bekam niemand Anschluß. In den Redaktionen der großen Zeitungen drängten sich die Reporter. «Wie soll das jetzt noch in die Abendausgabe?» jammerte Redakteur Ausgerechnet. «Konnte dieser verdammte Löwe nicht eine halbe Stunde früher ausbrechen?» – «Dann machen wir eben eine Extraausgabe!» sagte der Verleger Mülvoß. Und: «Extraausgabe! Extraausgabe!» hallte es durch das Haus. Und die Setzer klapperten mit den Winkelhaken, und die schweren Rotationspressen setzten sich rasch in Bewegung . . .

Die Börse nahm die Nachricht vom Ausbruch des Löwen verhältnismäßig gefaßt auf. (Haben Sie schon mal eine Nachricht gesehen, die die Börse nicht gefaßt aufgenommen hätte?) Montanwerte fester, Geiste leicht angezogen, Brauereien flau, Jakob Goldschmidt immer oben auf, Herbert Guttmann repartiert, Häute fest.

Im Reichswehrministerium tagte gerade eine Unterkommission des Untersuchungsausschusses zur Nachprüfung seiner eignen Unentbehr-lichkeit, als die Schreckensnachricht eintraf. Das Frühstück, Verzeihung, die Sitzung, wurde sofort abgebrochen. Zwei Generalstabsoffiziere arbeiteten hopphopp mit ihren Referenten einen Feldzugsplan für die Bekämpfung des Löwen aus und forderten dazu an:

 

2 Armeekorps,

1 Pressestelle,

24 außeretatmäßige Stabsoffizierstellen,

1 Stück Kanone,

1 Land-Panzerkreuzer.

 

Der Löwe Wüstenkönig schritt inzwischen, immer majestätisch, wie es ihn seine liebe Mutter gelehrt hatte, durch die Kurfürstenstraße zum Lützowplatz. Menschenleer lagen Straßen und Plätze. Da stand ein großes Löwendenkmal. Mißmutig schnupperte der Löwe. Dann hob er – da rührte sich etwas. Was war das? Nichts. Der Löwe ließ seinen Gefühlen freien Lauf.

Ging und lief dann in langen Sätzen die Lützowstraße entlang durch die Potsdamer Straße und stürmte vor ein großes Warenhaus.

Er war Gourmand, der Löwe Franz Wüstenkönig. Er wollte so eine nette, kleine, pruzlige Verkäuferin zum Frühstück essen – so eine frische, junge . . . Herrgottnichtnochmal! Das Wasser lief ihm in Appetitschnüren zum Maule heraus und hing in langen Fäden an seinem Bart . . . Schnurrend legte er sich und wartete.

Die Behörden hatten inzwischen fieberhaft gearbeitet. In aller Eile, so gut das eben in der Geschwindigkeit ging, hatte man eine Reichslöwenabwehrabteilung mit einem Sonderressort für bayerische Löwen begründet, und es handelte sich nur noch darum, ob die Abteilung das ganze Rathaus oder das Hotel Adlon beziehen sollte –

Die Deutsche Volkspartei war wie stets auf dem Posten. Schon nach einer halben Stunde klebten an allen Säulen und Bäumen knallblaue Plakate:

 

«Mitbürger!

Der Löw' ist los!

Wer ist daran Schuld?

Die Juden!

Wählt die Deutsche Volkspartei!»

 

Das Leben in der Stadt war völlig umgekrempelt. Niemand wagte sich mehr aus dem Hause. Aus allen Stadtteilen wurden Löwen gemeldet – im ganzen zweiundsechzig. Acht große Hunde wurden erschossen, erst an den Hundemarken erkannte man den kleinen Irrtum. Bei Königs ließ die Köchin Babett das Teeservice mit dem gesamten Gedeck fallen, weil ihr der junge Herr von hinten einen Kuß aufgedruckt hatte. Mit dem Ausruf: «Jessas! der Löwe!» brach das brave Mädchen zusammen.

Die berliner Theaterdirektoren Bindelbands suchten verzweifelt den Löwen. Sie wollten ihn für den Shawschen ‹Androklus› engagieren. Sie fuhren von Straße zu Straße – kein Löwe. Feuerwehrautos klingelten durch die Gegend – kein Löwe. Der Löwe war fottefliegt.

Der Löwe war gar nicht fort. Er war, des Wartens müde, aufgestanden, schlenderte nun durch die Straßen, erblickte einen Wagen mit Kirschen und warf ihn, durch den hohen Preis erschreckt, um – und dann war er weiter und weiter gegangen.

Also das war Berlin! Dieser traurige Haufe von Steinkästen und schnurgeraden Straßen, die alle ein bißchen unsauber aussahen – das war das Weltdorf Berlin! Der Löwe schüttelte das Haupt. Da hatten ihm die Spatzen im Käfig wer weiß was erzählt – und wenn abends vor der Fütterung aus dem Raubtierhaus, ja, aus dem ganzen Zoo ein Schrei aufstieg: «Swoboda!» (Russisch ist nämlich das Volapük der Tiere, und dies heißt so viel wie Freiheit!) – dann meinten alle, die ja zum großen Teil ihre natürliche Heimat nie gesehen hatten, gar nicht Afrika oder die Kordilleren oder Indien – der Schrei hieß: Berlin! – Einmal auf der Rutschbahn im Lunapark fahren, war die Sehnsucht der Krokodile; einmal zum Rennen nach Ruhleben, danach lechzten die Aasgeier; einmal sich in der Bar wälzen können, träumten die wilden Schweine. Abend für Abend. Und das hier war Berlin? Das war es?

Wüstenkönig schüttelte nochmals das Haupt.

Und da rückte es heran. Die Feuerwehr von der einen Seite und die Gebirgs-Marine der Reichswehr von der andern, Kino-Operateure und Leute, die bei allen Premieren dabei sein müssen, Journalisten, Damen der ersten besten Gesellschaft und die Bindelbands . . . Da rückte es heran. Und das Erstaunliche geschah, daß sich der Löwe Franz Wüstenkönig, der Beherrscher der Tiere, die Majestät der Fauna pp., ruhig abführen ließ – in seinen Käfig zurück, in das große Raubtierhaus des Zoologischen Gartens.

Und als die Tür hinter ihm zugeklappt war und ihn der Oberwärter Pfleiderer vorwurfsvoll angeschnupft hatte, und als sich der ganze Schwarm verlaufen, da senkte der enttäuschte Löwe den Schweif, den er bis dahin glorios nach oben getragen hatte, streckte sich still der Länge lang hin und sagte mit Wärme und Überzeugung: «Nie wieder –!»

 

 

Zuerst erschienen in: Berliner Tageblatt, 07.07.1920

unter dem Pseudonym Peter Panter